"Volkskorrespondenten", zu einer Konferenz in den sogenannten Kulturpalast des realsozialistischen Chemiekombinats Bitterfeld. Walter Ulbricht, Erster Sekretär des ZK der SED, hielt das Grundsatzreferat, in dem er die enge Verbindung von literarischem und wirtschaftlichem Fortschritt beschwor und dekretierte. Aus Ulbrichts Prämisse folgten zwei Devisen. Die erste ermutigte unter dem Motto "Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht dich!" die Werktätigen des Landes zu eigenem poetischen Schaffen. Die zweite Devise beorderte die Berufsliteraten in die Betriebe und Brigaden - Erfolg, so hieß es, könne nur derjenige Schriftsteller haben, "der den Menschen in der Produktion kennt, mit ihm fühlt und mit ihm lebt". So also sollte er sein, der "Bitterfelder Weg". Jede seiner beiden Spuren führte rasch in die Sackgasse.
Eineinhalb Jahrzehnte später beschritt die junge Journalistin Monika Maron den Weg aufs Neue. 1959 hatte sie Abitur gemacht und danach für ein Jahr als Fräserin in einem Flugzeugwerk bei Dresden gearbeitet. Nach dem Studium und ersten beruflichen Stationen schrieb sie vom Beginn der siebziger Jahre an Reportagen zunächst in der Frauenzeitschrift "Für Dich", dann für die Ost-Berliner "Wochenpost". Bitterfeld wurde dabei zur größten Herausforderung im Kampf mit der inneren und äußeren Zensur, ließ sie als Journalistin schließlich resignieren - und machte sie zugleich zur Schriftstellerin.
Vom dreckschleudernden und menschenschindenden Chemiekombinat in einer Stadt mit Namen "B." und von den Schwierigkeiten, darüber eine Reportage zu schreiben, handelt ihr erster Roman "Flugasche", der 1981 erschien - wie alle Bücher Marons bis zur Wende ausschließlich im Westen. Am Ende des zweiten Kapitels spannt Josefa Nadler, die Ich-Erzählerin und Heldin des Erzähldebüts, einen neuen Bogen Papier in ihre Schreibmaschine und tippt den ersten Satz: "B. ist die schmutzigste Stadt Europas." Am Ende des Romans wird sie, zermürbt, aber nicht zerbrochen, bei der "Illustrierten Woche" kündigen - den Kompromissen, die man von ihr fordert, ist sie nicht gewachsen, ihrem Wissen um die Wahrheit aber schon.
Es gehört zur höheren Ironie, aber eben auch zur glückhaften Seite der deutschen Gegenwart, dass Monika Maron fast zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR und zunächst wider Willen an den Ort zurückgekehrt ist, der ihr vor fast drei Jahrzehnten ihr literarisches Debüt abverlangte. Und es ist verblüffend, in welch hohem Maße sie in der neuen Reportage die einstigen politischen Forderungen an die Literatur erfüllt - und sie zugleich so beiläufig wie souverän erledigt.
Was Monika Maron schreibt, ist in nicht wenigen Passagen pure und präzise Produktionsprosa. Wir erfahren, was "Wafer" für die Solartechnik bedeuten, was mit ihnen an der "Siebdruckanlage" passiert, wie "der Trockner" funktioniert und welche Aufgabe "der Zelltester" hat. Mehr als ein Jahrhundert Bitterfelder Industriegeschichte lässt sie prägnant Revue passieren, Daten, Zahlen, Fakten. Und es gibt eine ganze Reihe durchaus einfühlsamer Porträts vom "Menschen in der Produktion": Von Uwe Schmorl etwa, der in der DDR Schlosser war, nun als Produktionsleiter und Aufsichtsratsmitglied beim "größten Solarzellenhersteller der Welt" fungiert, von Dagmar Vogt, der Ingenieurin aus Berlin, die 2006 "zur mutigsten Unternehmerin Deutschlands" gekürt wurde, oder von Ingrid Weinhold, die von 1990 an in Bitterfeld eine Maschinenfabrik aufbaut, ohne je einen Pfennig aus den Fördertöpfen der Treuhand zu erhalten.
Mit den Mitteln des "Bitterfelder Wegs" also erzählt Monika Maron nun kapitalistische Erfolgsgeschichten aus dem Osten Deutschlands, zumal jene der Firma Q-Cells, deren erste Gebäude 2001 in der Nähe des einstigen und nach der Wende mit 850 Millionen Mark sanierten Areals des Chemiekombinats errichtet wurden. Vierzig Mitarbeiter nahmen damals den Betrieb auf, mittlerweile sind es allein am Stammsitz mehr als dreieinhalbtausend, das Unternehmen agiert global, ist längst an der Börse notiert, leidet gegenwärtig nicht nur unter den Folgen der Finanzkrise, sondern auch am weltweiten Preisverfall für Solarzellen, wird aber auch 2009 die Produktion steigern.
Endlich einmal ein wahrhaft positives Buch also? Jedenfalls eines, das "den Ostdeutschen" nahelegt, statt nostalgisch zurückzublicken lieber realistisch auf Erreichtes zu schauen, darauf sogar "stolz" zu sein: Der titelgebende "Bitterfelder Bogen", eine im Jahr 2000 mit Mitteln der Expo von Claus Bury errichtete Brücke über die Goitzsche, dient dafür als weithin wahrnehmbares Zeichen. Mit Petra Wust, der Oberbürgermeisterin des jetzigen Bitterfeld-Wolfen, teilt die Reporterin Maron die Erfahrung, dass "depressive Stimmung" meist länger anhalte "als die Umstände, die sie hervorgerufen haben". Gegen Günter Grass verteidigt sie vehement das reale Geschehen in den Jahren nach 1989 - wäre man seinem Konzept einer allmählichen Konföderation der beiden deutschen Staaten gefolgt, wären "hinter unserem Rücken" vor allem "die alten Genossen in die neuen Posten aufgerückt".
Im Roman "Flugasche" hatte Josefa Nadler über "die Gewalttätigkeit industrieller Arbeit" räsonniert und von den "Verkrüppelungen" erzählt, die sie in den Köpfen und Körpern anrichte. Auch jetzt ist die Autorin Monika Maron weit davon entfernt, die Wirklichkeit der nun etwa dreihundertsechzig Betriebe zu idealisieren, die an die Stelle des Bitterfelder Chemiegiganten und der DDR-Filmfabrik in Wolfen getreten sind. Jedes Unternehmen, sagt ihr Dagmar Vogt, die Mitbegründerin von Q-Cells, verliere "mit dem Börsengang seine Seele". Mit spürbarer Sympathie schildert Monika Maron deshalb vor allem die Urzeit der Firma: Sie datiert zurück ins West-Berlin der siebziger Jahre, als sich unter dem 2006 gestorbenen Erfinder-Anarchisten Reiner Lemoine "ein sozialistisches Ingenieurskollektiv" bildete, das sich "Wuseltronik" nannte und nach Alternativen zur verhassten Atomenergie suchte.
1976 war die Reporterin Maron vor den Zumutungen des Staates an ihren Beruf in die Literatur geflohen. Sechs Romane sind seither entstanden, zudem der autobiografische Band "Pawels Briefe", zahlreiche Einreden und Essays zur Zeit. Als Autorin gehört Monika Maron zu den Repräsentanten unserer Literatur. Als Bürgerin war und ist sie eine engagierte Verfechterin des keineswegs Selbstverständlichen, also eine Propagandistin von Freiheit und Demokratie. Für den "Bitterfelder Bogen" hat sie zu ihrem ersten Genre, der Reportage, zurückgefunden. Das war nicht nur naheliegend - Bitterfeld braucht keine Camouflage mehr -, sondern ist auch höchst originell: So hat sie, animiert von ihrem Freund, dem Q-Cells-Architekten Andreas Hierholzer, ein journalistisches Thema entdeckt, das der Journalismus bisher weitgehend übersah.
Monika Maron: "Bitterfelder Bogen". Ein Bericht. Mit Fotos von Jonas Maron. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 173 S., geb., 18,95 [Euro].
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