dieser Art, und lasse es sich noch so tief auf die Knie nieder, zum tödlichen Siegfried-Eichblatt wird: "Braucht Musik Erläuterung? Hat sie es denn so nötig? Kann wirklich nur der gut zuhören, der vorab gut informiert wurde? Ist eigentlich auch dieses Buch hier überflüssig?" Und schiebt die Frage gleich wieder beiseite: "Nun, soweit wollen wir vielleicht nicht gehen, obwohl Sie es natürlich auf der Stelle aus der Hand legen können." Da liest natürlich jeder gern noch ein bißchen weiter.
So setzt sich die Autorin dem Leser wie eine gute Freundin fast auf den Schoß. Sie wirbt um sein Vertrauen ("Glauben Sie mir") und macht sich neben ihm kumpelhaft klein: ("Lassen wir das"). Dieser anfangs in seiner krankenschwesternmäßigen Jovialität auf den Wecker fallende Jargon verliert jedoch im Laufe der Lektüre rasch an Wichtigkeit und tritt zurück hinter die inhaltliche Argumentation. Tewinkel erklärt die soziale Deplaziertheit barocker Gebrauchsmusik im bürgerlichen Konzertsaal und deren Folgen. Sie erläutert den Unterschied zwischen Dur und Moll und die Scheu der neuen Musik vor einem C-Dur-Dreiklang. Zeigt, was es auf sich hat mit der richtigen Intonation und wo in einer Clementi-Sonatine die Reprise beginnt. Rechnet vor, wieviel heutzutage ein Symphonieorchester kostet und wie das pythagoreische Komma entsteht. Dabei legt sie die Latte öfters tiefer, als es nötig wäre - und sie wickelt spezifisch musikfachliche Infos, als handele es sich um bittere Pillen, in originelle, rosarote oder quietschgrüne Formulierungen ein, damit sie besser rutschen.
Das liest sich charmant und trifft, zumal wenn es um einige angestaubte Rituale eines Konzertbetriebes geht, der bekanntlich aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, auch voll ins Schwarze, was der Zeichner Marcus Weimer alias Rattelschneck mit seinen Karikaturen wunderbar illustriert. Der Frage aber, ob eine Musik, damit sie richtig erhört werden kann, der Nachhilfe erläuternder Worte bedarf oder nicht, weicht Tewinkel bis zum Schluß aus. Auch auf die Konkurrenz der sich offenbar aus sich selbst hinreichend erklärenden Popmusik, deren marktbeherrschende Übermacht doch als unsichtbares Menetekel überall zwischen den Zeilen steht, weil sie Bücher wie dieses überhaupt erst nötig macht, geht sie nicht ein. In dieser Hinsicht bleibt sie konservativ: Jazz ist ein satisfaktionsfähiges Thema für eine Musikwissenschaftlerin. Und Pop nicht. Punktum.
Dabei ist das Erklären des Populären so alt wie die sogenannte klassische Musik selbst. Wolfgang Amadeus Mozart, der im Register des Buches dreizehnmal vorkommt (Adorno immerhin nur elfmal und Dieter Bohlen, obgleich er mehrfach als Negativfolie herhalten muß im Text, kein einziges Mal) rechtfertigte sein Ideal einer wahrhaft "popolaren" Musik, exemplarisch bezogen auf die Wiener Klavierkonzerte KV 413-415, in einem Brief an Vater Leopold vom Dezember 1782 wie folgt: "Es ist eben das Mittelding zwischen zu schwer und zu leicht . . . angenehm in die ohren - Natürlich ohne in das Leere zu fallen - hie und da - können auch kenner allein satisfaction erhalten - doch so - daß die nichtkenner damit zufrieden seyn müssen, ohne zu wissen warum." Mozart komponierte noch nicht für die Zukunft, wie später etwa Wagner. Er schrieb für seine Zeitgenossen und konnte sich dabei verlassen auf ein begriffsloses (nicht zu verwechseln mit interesselosem) Wohlgefallen, das "zufrieden war, ohne zu wissen warum", da eine gemeinsame Grundlage musikalischen Hörens vorhanden war. Auch das zahlende, zuhörende Publikum zur Schumannzeit musizierte noch aktiv selbst, spielte in Liebhaberzirkeln Streichquartett oder sang vierstimmig Chöre vom Blatt. Diese Zeiten sind vorbei. Nicht nur, daß der Löwenanteil der in Konzerten und auf Schallplatten konsumierten E-Musik aus vergangenen Zeiten stammt. Auch das Singen, das Selbstmusizieren und das mitvollziehende Hören wird nur noch von einer Minderheit so betrieben, wie es zwei Generationen zuvor üblich war. Dafür hören heute quantitativ sehr viel mehr Menschen als zur Mozartzeit "klassische Musik". Nur, sie hören anders: zerstreut, nebenher, punktuell.
Doch überall und immerzu. Das musikalisch organisierte Geräusch, zur Zeit Mozarts und Schumanns noch eine Ausnahme, ist im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit zum Allgegenwärtigsten überhaupt geworden. Tewinkel hat sich nun offenbar der herrschenden Meinung angeschlossen, daß die klassische als die "eigentliche" Musik in eine Krise geraten sei, aus der man ihr dringend heraushelfen muß; ja, daß da etwas krank geworden ist, das geheilt werden kann. Dies erklärt ihren begütigend therapeutischen Tonfall. Und viele ihrer Beobachtungen sind, um den diagnostischen Blick zu schärfen, überzeichnet: Witz, komm raus, du bist umzingelt. Dagegen läßt sich einwenden, daß viele Rituale des Konzertbetriebes schon lange nicht mehr so abartig sind, wie Tewinkel um der Pointe willen manchmal tut. Ganz abgesehen davon, daß Orte, wo viele Menschen für eine Weile nebeneinander sitzen und miteinander schweigen, in dieser schwatzhaften geräuschpusseligen Welt etwas Seltenes und Kostbares geworden sind.
Man braucht heute nicht mehr das Ambiente einer Kirche, um von einer Bachpassion ergriffen zu werden. Das gleiche kann auch dem einzelnen widerfahren zu Hause unter seinem Kopfhörer. Und die Ermutigungen zum Hörerwiderstand, die Tewinkel immer wieder zwischen die Zeilen streut - man möge doch bitte bequem sitzen, sagen, was man denkt und auch mal die Füße hochlegen, - steht in direktem Widerspruch zu den mit Pathos reich bestickten persönlichen Bekenntnissen, die sie im Schlußkapitel ablegt zu einzelnen schönen Stellen.
Ja, "schön" ist sie, die klassische Musik. Perahia spielt "zum Aus-dem-Sessel-Fallen, so schön." Oder die Philharmoniker: so schön, "daß. meine Nasenflügel zittern". Außerdem macht Musik auch noch schöner: "Wer aus einem guten Konzert kommt, sieht anders aus." Schön zu hören und besserer Rat ist am Ende auch gar nicht nötig. Man kann, mit Mozart zu reden, damit zufrieden sein, ohne zu wissen, warum.
Christiane Tewinkel: "Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile?" Eine musikalische Betriebsanleitung. DuMont Verlag, Köln 2004. 272 S., geb., 17,90 [Euro].
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