übersehene - Los der Roma aufmerksam zu machen.
Es ist zwar zu früh, von einem Scheitern dieses Vorhabens zu sprechen, zumal der Erfolg sich nur einstellen kann, wenn sich die Adressaten, die etwa sechs bis neun Millionen Roma der Region also, daran beteiligen. Der Blick in einige Länder der Region dreieinhalb Jahre nach dem Roma-Gipfel zeigt allerdings das weiterhin herrschende Desinteresse. Besonders deutlich wird das in Serbien, wo einheimische Politiker zwar fast täglich an die Perspektivlosigkeit der Serben im Kosovo erinnern, die Lage der angeblich 800 000 Roma in ihrem Land jedoch ein Nicht-Thema ist. Zeitungen oder Fernsehsender berichten kaum einmal über sie, abgesehen von den wenigen, die es zu einer Existenz als Schnulzensänger gebracht haben. Ansonsten tauchen die Roma allenfalls in den Filmen des Regisseurs Emir Kusturica auf - als putzige Staffage.
Dabei liegt in Belgrad eine ihrer größten Siedlungen, buchstäblich in der Mitte der Stadt. Direkt unterhalb der Autobahnbrücke Gazela, am Ufer der Save, befindet sich eine nach dem Namen dieser Brücke benannte Elendssiedlung, die auf den ersten Blick an Bilder aus Indien oder Südamerika erinnert. Die Einheimischen haben sich daran gewöhnt - nur Fremden fällt die Sache mit dem Brot auf. Warum, fragen sie, hängen überall diese Tüten mit Brotresten an den Müllcontainern? Wer etwas länger in der Stadt lebt, bemerkt dieses Bild gar nicht mehr, obwohl er früher oder später die Antwort auf diese Frage erfahren wird. Es gibt nämlich immer noch Belgrader, die so viel Anstand im wohlgenährten Leibe haben, dass sie es nicht über sich bringen, altes Brot wegzuwerfen. Sie hängen es an die Müllcontainer, da sie wissen, dass bald jemand kommt, der noch essen will, was sie nicht mehr essen mögen. Selten sind das Bettler oder Stadtstreicher. Häufiger sieht man, wie sich Roma die Tüten einstecken.
Roma, die Müllcontainer nach Verwertbarem durchwühlen, gehören in Serbiens Hauptstadt zum Alltag. In manch einem der Restaurants in der Innenstadt können die Speisenden ihnen dabei zusehen. Kaum jemand aber weiß, wie sie leben und überleben. Nun liegt allerdings, zunächst nur in deutscher Sprache, ein bemerkenswerter Versuch vor, das Entstehen eines Slums in einer europäischen Hauptstadt zu erklären. Lorenz Aggermann aus Graz, Eduard Freudmann aus Wien und der ebenfalls dort lebende Künstler Can Gülcü haben mehrere Forschungsaufenthalte in Gazela verbracht und ihre Erkenntnisse unter dem Titel "Beograd Gazela - Reiseführer in eine Elendssiedlung" als Buch veröffentlicht (Drava Verlag, Klagenfurt 2008. 224 S., br., 19,80 [Euro]). Unaufgeregt und sachlich ist dieses Buch, wie im Untertitel angegeben, in der Art eines Reiseführers aufgebaut. Darin liegt, obwohl das bei einem solchen Ansatz zu befürchten wäre, keine Spur von Zynismus. Die dem Leser vertraute Form erlaubt es den Autoren, in sachlicher Distanz zu berichten, und lässt den ungewöhnlichen Gegenstand noch deutlicher hervortreten. Da werden die Straßen und Plätze des Slums mit derselben Genauigkeit geschildert wie in herkömmlichen Reiseführern die Wegbeschreibungen zu den Sehenswürdigkeiten von Paris oder London: "An dieser Stelle", heißt es etwa, "befindet sich meistens eine Wasserlache, deren Größe je nach Niederschlagsmenge variiert. Während FußgängerInnen auf einen seitlichen Pfad ausweichen können, der über allerlei Sperrmüll führt, kann sie bei geringer Tiefe mit motorbetriebenen Fahrzeugen durchquert werden, allerdings nicht mit Hand- und Tretwagen."
Auch an praktischen Hinweisen für den Alltag mangelt es nicht. So vermeiden es die Autoren, jener Armeleuteromantik zu verfallen, die einen Leidenden nur deshalb für einen besseren Menschen hält, weil er leidet. Auch im Falle der Roma wird schließlich oft behauptet, "die Gesellschaft" sei schuld an ihrer Misere, was kommod ist und ungefährlich, denn die Gesellschaft droht nicht mit dem Rechtsanwalt und klagt auch nicht wegen übler Nachrede.
Aggermann, Freudmann und Gülcü machen es sich nicht leicht. Sie klagen nicht einen Unsichtbaren an, sondern beschreiben, wie kam, was ist. Sie haben eine Anthologie des Alltags über das Leben in der Barackenwelt zusammengestellt, wo Kinder eine aus Sperrmüllfunden zusammengezimmerte Jugend verbringen, der meist ein kurzes Erwachsenenleben folgt: Die Hälfte der Bewohner von Gazela sind jünger als zwanzig, nur jeder achte ist über vierzig, und weniger als ein Dutzend Menschen hat das sechzigste Lebensjahr erreicht. Viele fallen Krankheiten zum Opfer, die vermeidbar wären. Ihre Hütten sind notdürftig gegen die Winterwinde isoliert, aber sie sind nicht regenfest. Nach starken Schauern hält sich die Feuchtigkeit, es bilden sich Schimmelpilze, die Bewohner haben mit Atemwegserkrankungen oder Magenkrankheiten zu kämpfen. Verbreitet sind Läuse, Flöhe und Krätzmilbe.
Ein Schlüsselsatz des Buches lautet: "Roma sind arm, weil sie arbeitslos sind, arbeitslos, weil sie ungebildet sind, und ungebildet, weil sie arm sind." Dies fasst die Misere eines Slums wie Gazela zusammen. Es erinnert an eine Formulierung des aus Rumänien stammenden Schriftstellers Richard Wagner, der die Roma in seinem Balkan-Buch "Der leere Himmel" als "sich ausgrenzende Ausgegrenzte" beschrieben hat. Es ist kaum zu sagen, wo bei dem Elend der Roma fremde Schuld beginnt und wo ihr eigenes Unvermögen. Nicht getan ist es mit dem Hinweis, mit dem in Belgrad (und überall auf der Welt) häufig bettelnde Roma-Kinder abgewiesen werden: "Geh in die Schule!" Tatsächlich begreifen zwar viele Roma nicht, dass ein Schulbesuch ihren Kindern die einzige magere Chance bietet, der Herkunft zu entfliehen. Die meisten Eltern schicken ihre Kinder nicht in die Schule, da sie den Nachwuchs beim Betteln oder Müllsammeln als Arbeitskräfte einsetzen. Hier scheint es also leicht, ein Urteil zu fällen - die Roma sind selbst schuld.
Doch als sich die Autoren die Mühe machten, den Weg jener wenigen Familien zu verfolgen, die ihre Kinder zur Schule schicken, wurden sie Zeugen eines Spießrutenlaufs. Der beginnt mit bürokratischen Hindernissen vor der Einschulung, da die Kinder von Gazela keine offizielle Wohnadresse haben. Viele Menschen werden weder bei der Geburt registriert noch später. Für die Behörden existieren sie nicht. Dann gilt es, Schulbücher, Schulranzen und Sportkleidung zu kaufen. Sozial Bedürftige können zwar Hilfe beantragen, müssen ihre Bedürftigkeit aber belegen. Eltern und Kindern stehen nun jedoch erst recht harte Zeiten bevor. Ihre Kinder sollen sauber und ordentlich in der Schule erscheinen, dort sind sie dem Rassismus der Lehrer wie Mitschüler ausgesetzt. So bleibt die Schulzeit für viele Roma oft nur eine bittere Episode aus der anderen Welt, der ein Rückfall in die eigene folgt - in die Unentrinnbarkeit eines armseligen Daseins.
MICHAEL MARTENS
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