publizierten Dissertation über Conrad Ferdinand Meyer erlegte er sich daher den Verzicht auf das Wörtchen auf - um den Schweizer Dichter ganz ohne Innenleben, dafür aber mittels "datierbarer" Beziehungen zu dessen Mutter, Frau und Schwester darzustellen. Mit seinem Kunstgriff initiierte Kittler einen Paradigmenwechsel und begründete ein idiosynkratisches Schreibprojekt. Wie Heidegger, Luhmann oder Adorno gehört er zu den Autoren, die man auf Anhieb an ihrem Ton erkennt. Für seine Schüler stellt das ein schwieriges Vermächtnis dar. Vier Jahre nach Kittlers Tod geben sie jetzt seine gesammelten Schriften sowie Teile seines Nachlasses in einer auf dreißig Bände angelegten Werkausgabe heraus.
Als Appetithappen der monumentalen Edition ist ein schmales Buch erschienen, das unveröffentlichte Texte aus den späten sechziger und frühen siebziger Jahren enthält. Die 112 alphabetisch geordneten kleinen Prosastücke reichen von Alkohol über Pop-Art bis zu Wahnsinn und Zwergen - und sind naturgemäß von ganz unterschiedlicher Qualität. Die Geistesblitze und Ideenprotokolle eines jungen Gelehrten stehen neben Schreibübungen mit literarischer Ambition. Leider hat der Autor seine losen Blätter ohne Datierung hinterlassen. Wann welche Theorien und Motive auftauchten - das hätte mehr als nur Aufschlüsse über ihn selbst erbracht. War, abgesehen von McLuhan, auch Enzensberger mit seinem Kursbuch-Aufsatz von 1970 für das Interesse an den Medien wichtig? Seit wann nervte Kittler das "Gerede über die Umweltverschmutzung"? Konnte man in Freiburg wegen der Nähe zu Basel schon besonders früh LSD beziehen?
Die Themen der späteren Bücher werfen in "Baggersee" schon ihren Schatten: viel Freud, aber kein Marxismus; Musik und Drogen, aber kein Protestmarsch zum Amerikahaus. Kittler bastelte an Transistoren, nahm bewusstseinserweiternde Drogen und vergnügte sich "im Kreis der sonnen- und theoriehungrigen Freunde" am titelgebenden Baggersee, wie die Herausgeberinnen anmerken. Die Studentenrevolte, die als Hintergrundgeräusch Erwähnung findet, muss für ihn vor allem mit hedonistischen Erfahrungen verknüpft gewesen sein. Der Wunsch, das Begehren zu befreien und die Pforten der Wahrnehmung zu öffnen, zieht sich durch diese jugendlichen Aphorismen. Nach landläufigem Sprachgebrauch haben wir es mit einem Hippie zu tun.
Vielleicht unterscheidet Kittler das von den meisten anderen westdeutschen Theoretikern seiner Generation. Vielleicht war er deshalb für die Lektüre der französischen Linksnietzscheaner prädestiniert. Auch wenn sich der Quellcode seines Werks aus diesen Denkversuchen nicht entschlüsseln lässt, machen sie doch eines deutlich: Seinen Ausgangspunkt nahm es von einer bestimmten Negation.Ungefähr zur selben Zeit, als Kittler den Entschluss fasste, auf das "sich" zu verzichten, erfand Eckhard Henscheid die Anekdote von den Häuptern der Kritischen Theorie, die darum wetteifern, wer das Reflexivpronomen am weitesten nach hinten stellen kann. Horkheimer und Marcuse unternehmen redliche Versuche. Doch dann gelingt Adorno der siegreiche Pitch: "Das unpersönliche Reflexivum erweist in der Tat noch zu Zeiten der Ohnmacht wie der Barbarei als Kulmination und integrales Kriterium Kritischer Theorie sich." Diese Wahrheit muss auch Kittler in den siebziger Jahren irgendwann aufgegangen sein.
Denn bei Kittlers Schreibreform handelte es sich weniger um eine Absage an den deutschen Idealismus als um den Versuch, der Frankfurter Schule zu entkommen. Seine frühe Prosa verrät, dass er dafür Gründe hatte. Denn wie so viele seiner Kommilitonen war er in den sechziger Jahren offensichtlich von Adorno affiziert. Nicht nur, dass er das Reflexivum bedenkenlos verwendet. Seine kurzen Essays imitieren die "Minima Moralia". Der Flipper? Übt "die Konfrontation des Einzelnen mit den Apparaturen des technischen Schreckens" ein. Die Collage? "Vollstreckt noch einmal an den privaten faits divers, was die Zeitung ihnen schon angetan hat." Wenn man es nicht besser wüsste, würde man auf Adorno tippen. Doch wie Kittler gerne erzählte, war er ein glänzender Parodist. Bloß einen Hinweis auf seine Adorno-Mimikry sucht man vergeblich. Im Zuge seiner Selbstmystifizierung hat er diese Jugendsünde aus seiner intellektuellen Biographie gelöscht.
Freilich war auch der junge Kittler kein Adorno-Epigone. In zahlreichen Stücken dieses Bandes arbeitet er sich an Adorno ab. Wenn er über "Dodekaphonie" schreibt, dann zu dem Zweck, Adornos Lieblingsmusik zu pathologisieren. Er attestiert ihr eine "zwangsneurotische" Domestizierung freier Atonalität, wie man sie analog auch im Prozess der Sozialisation beobachten könne. "So wie die Kinder, wenn sie auf ihre spielende Weise die Mathematik der Mengen internalisieren, nur jeden zweiten Pflasterstein mit dem Fuß zu berühren sich vorsetzen, so kommt die Regel auf, dass keiner der zwölf Töne erklingen dürfe, bevor nicht alle elf anderen erklungen sind."
Und als ob das nicht ausreichen würde, führt Kittler in einer letzten Wendung Heidegger, Adornos Lieblingsfeind, ins Feld, um Schönbergs Musik kulturgeschichtlich ein weiteres Mal zu profanieren. Sie hätte, schreibt er, niemals an einem Blasinstrument erfunden werden können, sondern erforderte die "Zuhandenheit" eines bürgerlichen Klaviers.
Wie man sieht, enthalten die frühen Schriften fast den ganzen Kittler. Das einzige Thema, das nicht vorkommt, ist der Krieg. Es bedurfte der Lektüre von Thomas Pynchons "Gravity's Rainbow", um Kittler auf die Technologien des Zweiten Weltkriegs zu bringen. Ihm wäre viel Zeit erspart geblieben, hätte er die "Minima Moralia" gründlicher studiert. Zu den "ausgewählten empirischen Tatsachen, in denen der Stand des Weltgeists unmittelbar symbolisch sich ausdrückt", rechnete Adorno nämlich "Hitlers Robotbomben", die Hegels Geschichtsphilosophie berücksichtigen müsste, wäre sie im zwanzigsten Jahrhundert konzipiert. Adorno konnte nicht ahnen, dass sich einer seiner Leser dieser Herausforderung stellen sollte. Doch ging das eben nur, indem er sich das "sich" verbot.
PHILIPP FELSCH
Friedrich Kittler:
"Baggersee". Frühe
Schriften aus dem
Nachlass.
Hrsg. von Tania Hron und Sandrina Khaled. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015. 231 S., br., 24,90 [Euro].
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