junge Rehe auf die Fahrbahn. Kein Wunder also, daß sich der Protagonist, ein Fernsehproduzent, dessen Lieblingswort "evident" ist, nicht mit gewöhnlichen Prominenten zufriedengeben will: In der Sendung, die Michael Lindberg entwirft, sollen Verbrecher zu Talkmastern werden. Wo die Abbilder verwerflich geworden sind, muß das Verwerfliche als das einzig Authentische erscheinen. Von ähnlicher gedanklicher Schlichtheit ist auch das Handeln der Hauptfigur. Um gegen die Windmühlen der Unterhaltungsindustrie anzukämpfen, steht Lindberg eines Tages mit einer Waffe hinter den Studiokulissen.
Wagt man jedoch einen zweiten Blick auf den Roman, entpuppt sich "Autopilot" als Geschichte der technischen Reproduzierbarkeit. Nicht nur, daß der Protagonist Kron einer inszenierten Wirklichkeit ausgeliefert ist, er wird eines Tages auch noch mit seiner Zeugungsunfähigkeit konfrontiert. Gemäß der Benjaminschen Feststellung, daß sich Echtheit der technischen Reproduzierbarkeit entziehe, müssen nun auch Lindbergs Versuche, mit Hilfe medizinischer Methoden doch noch Leben schaffen zu können, fruchtlos bleiben. Und wenn schließlich Lindberg, kurz bevor er sich an den Hoden operieren läßt, noch in der Produktionsfirma anruft, um Aufnahmetechnisches zu besprechen, denkt man gleich an Benjamins Bild vom Kameramann, der ins "Gewebe der Gegebenheit" eindringt wie ein Chirurg in den menschlichen Körper. Das einzige, was in Lindbergs Welt noch so etwas wie Aura hat, ist längst verschwunden. Gemeinsam mit den Wrackteilen eines abgestürzten Flugzeugs versank ein Gemälde von Picasso im Meer, und es gibt nur mehr ein paar Fernsehbilder in den Abendnachrichten zu sehen.
Auf den dritten Blick, und das ist zugleich der lohnendste auf das Buch, erkennt man, daß es Kron weniger um Medienkritik als um das Schauen selbst geht. Der Niedergang des Protagonisten zeigt sich am deutlichsten an der Verengung seines Gesichtsfeldes. Anfangs vermag sich Lindberg noch selbst auf eine Art zu beobachten, die er "helicopter view" nennt. Er kann die Realität in TV-Formate rastern, und bei jedem Liebesakt mit seiner Freundin hat er die passenden Pornobilder im Kopf. Doch je größer die Fülle an Bildern wird, die ihn umgibt, desto weniger nimmt er wahr. Als er bei einer wichtigen Fernsehaufzeichnung eine bestimmte Perspektive einfangen will, versagt seine Kamera, auf einem Schirm erscheint "Cannot execute". Andere, schlechtere Bilder müssen als Ersatz eingespielt werden, und Lindberg stellt fest, "nichts, was in meinem Namen hatte ans Licht dringen sollen, hatte die spiegelnde Oberfläche vor meinen Augen durchschlagen".
Auch der Blick nach innen eröffnet ihm keine biomedizinischen Weiten. Sich mit defektem Erbmaterial zu beschäftigen und von den Möglichkeiten der Reproduktion Abschied nehmen zu müssen, bedeutet für Lindberg vielmehr die letzte Einschränkung seiner Vorstellungskraft. Sein Wunsch, vor laufender Kamera ein Verbrechen zu begehen, hat daher nur einen Grund: Selbst "Projektion zu werden" und sich auszulöschen im Blick der anderen.
VERENA MAYER
Heute abend, 20 Uhr, Podewil, Klosterstraße 68-70, Mitte.
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