verdanken Ostermaiers Gedichte ihre Attraktivität nur auffallenden Oberflächenreizen und modischen Attitüden, wie manche Kritiker meinen?
Dieses Modische fällt in Ostermaiers jüngstem Gedichtband "Autokino" sofort wieder ins Auge: Der Sound seiner Gedichte ist unüberhörbar, und ihre Manier ist, jedenfalls auf den ersten Blick, leicht zu bemerken: Sie erscheinen - wie übrigens auch zahlreiche seiner dramatischen Texte - auf den Buchseiten als ungegliederte Kolumnen aus etwa gleich langen Zeilen; sie sind nicht in überschaubare Strophen abgeteilt, sondern formieren sich zu blockartigen Gebilden, deren Zusammensetzung erst erschlossen werden muß. Die durchgehende Kleinschreibung und die völlig fehlende Interpunktion erleichtern es ebenfalls nicht, sich zu orientieren. Nichts deutet darauf hin, wo Sinnabschnitte, Hervorhebungen, Abhängigkeiten anzunehmen sind. Alle Wörter scheinen gleichwertig zu sein; wo Sätze beginnen und enden, ist nicht sogleich zu erkennen.
Erst die Lektüre muß diese Strukturierung leisten und die grammatischen und semantischen Beziehungsverhältnisse zwischen den Wörtern herstellen. Dabei wird das Lektüretempo durch die typographische Einrichtung der Texte einerseits beschleunigt, weil keine Pausen- oder Betonungsmarkierungen den Lesefluß regulieren oder gar hemmen; andererseits wird das Tempo aber auch gedrosselt, weil jeder Leser seine individuelle Orientierung erst finden muß. Es handelt sich, so könnte man sagen, um dekonstruierte Texte, die vom Leser wieder rekonstruiert werden wollen.
Das hört sich kompliziert an. Aber es ist durchaus keine beschwerliche, sondern im Gegenteil eine lustvolle Tätigkeit, die dem Leser hier abverlangt wird. Denn er erfährt beim Entziffern der Gedichte zugleich seine eigene kombinatorische Produktivität. Er setzt zusammen, was seinem Verständnis nach zusammengehört. Und er entdeckt dabei, daß die zunächst ungegliedert erscheinenden Wörter sich zu sorgfältig formulierten Satzgefügen aus Haupt- und Nebensätzen zusammenschließen, so daß nicht wenige Gedichte sogar aus einem einzigen umfangreichen, schwungvollen, durch Binnenreime zusätzlich rhythmisch gegliederten Satz bestehen. Die dem Band "Autokino" beigefügte, nicht besonders professionell gemachte CD vermittelt allerdings nur einen ersten atmosphärischen Eindruck davon. Das coole Gleichmaß-Parlando der Stimme Ostermaiers geht mehrfach unter im Schlagrhythmus der Gitarre Bert Wredes. Man muß die Texte jedenfalls mitlesen, um sie verstehen zu können.
Wie der Titel "Autokino" schon sagt, geht es um Bewegung in mehrfacher Bedeutung: um bewegte Bilder im Kino und im TV und um die Fort-Bewegung im Auto, um das Fahren und um die Erfahrungen, die dabei gemacht werden. Gedichte wie "fernsehabend" und "sendeschluß", "o.m.u." (Original mit Untertiteln), "standphoto" und "straßenfilm", "autoschau", "im wendekreis des tachos" und "startschwierigkeiten" machen das schon in ihren Titeln deutlich: Es ist die durch Medien vermittelte Welt der modernen Kommunikation, des Verkehrs mit- und untereinander. Was vor aller Augen medial in Bewegung gesetzt wird, was wir selbst bewegen und was uns bewegt - davon handeln, bunt, tempo- und bilderreich, diese Gedichte.
Sie halten Situationen, Wahrnehmungen und Abläufe aus diesem thematischen Umkreis fest, wobei die Folge der Eindrücke und Kommentare einem assoziativen Verfahren zu folgen scheint, das von Wortbedeutungen und Wortklängen (Reimwörtern), Zitaten (auch aus Filmen) ausgelöst wird; doch diese gedankliche Parataxe wird konterkariert von einer grammatischen Hypotaxe: Die Sinneseindrücke gleiten ineinander, geraten in Abhängigkeitsverhältnisse des Raums und der Zeit; sie werden miteinander synchronisiert durch Relativsätze oder durch Konjunktionen wie "wenn", "während", "bis", "bevor", die dem Leser in Ostermaiers Gedichten geradezu inflationär begegnen:
ich werde dich ausziehen
müssen für den abspann
ob mein name auf deinem
herz auftaucht die ersten
blenden die scheinwerfer
auf und jagen mit offenen
verdecken hinaus bis sich
der regen über ihre köpfe
wie ein himmelsdach beugt
bevor er die aschenbecher an
der nächsten kreuzung unter
wasser setzt
heißt es beispielsweise in dem Gedicht "standphoto" über den Besuch in einem Autokino.
Im Unterschied zu vielen Gedichten der Gegenwart begnügen sich Ostermaiers Verse nicht mit stenogrammhaften Einzelwörtern und -bildern, die allenfalls in eine reduzierte Syntax eingebunden sind. Man könnte sie sogar als "Erzählgedichte" bezeichnen. Denn sie erzählen von den trivialen Sensationen aus der Film-, Fernseh- und Computerwelt, in der zwischen Authentizität und Rolle nicht mehr unterschieden werden kann: "was soll die ganze fron / authentisch zu sein zieh / eine line sternenstaub und / klick dir einen klon raub / dir die kopie von meiner / dns und es ist schluss mit / dem stress wir leben im / überfluss schaff dir ein / kühlhaus voller identitäten". Da wird ironisch und nach Herzenslust gereimt und gerappt, aber es gibt auch unterkühlt Zärtliches ("ich hauch dir mit / meinem eukalyptusatem / wellen durchs telefon") und - pfui! - sogar politische Töne: "übrigens finde ich es / gut dass man an ampeln / bei rot neuerdings auch / rechts abbiegen kann". Wer das allerdings nur als Wahlempfehlung lesen möchte, sollte auf die Lektüre des Gedichtes "leitkultur", aus dem dieses Zitat stammt, besser verzichten.
WULF SEGEBRECHT
Albert Ostermaier: "Autokino". Gedichte. Mit CD. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 111 S., geb., 20,80 [Euro].
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