teils berühmte Aufnahmen der Fotografiegeschichte. Die Frage, weshalb gerade diese ihn beschäftigten, fand ihre Antwort in Details, die sich auch Barthes bisweilen erst auf den zweiten Blick offenbarten. Das konzentrierte Betrachten nannte er studium, das alles entscheidende Detail punctum - ein Begriff, der daraufhin für lange Zeit bei keiner Beschreibung einer Fotografie mehr fehlen durfte. Als er in einem Kinderbild seiner verstorbenen Mutter all deren Wesenszüge zu erkennen meinte, wurde für ihn die Dichte, die Zeit, zu einem weiteren punctum. Nur vordergründig rettet die Fotografie ihr Motiv über den Augenblick hinaus. In Wirklichkeit, argumentierte Barthes, verweist sie stets auf die Vergangenheit, auf das, was nicht mehr ist, und deshalb auf das Vergehen, also: den Tod. "Es-ist-so-gewesen" wird ihm zum Noema der Fotografie. Meist spricht er in diesem Zusammenhang von Satori, Schock und Erschütterung, nur zwei-, dreimal hingegen - dabei viel näher liegend - von Melancholie.
"Die helle Kammer" ist ein großartiges Buch insofern, als Barthes sein Thema auffasst wie ein Jäger die Beute. Konzentriert liest er Spuren oder heftet sich gleichsam an Geräusche im Unterholz. Schritt für Schritt, für jedermann nachvollziehbar, entwirft er sein Modell. Aber so wenig bleibt am Ende, so konzentriert ist die Essenz, dass er selbst die zu erwartende Kritik vorwegnimmt: "Wie, ein ganzes Buch ..., um zu entdecken, was ich schon auf den ersten Blick gesehen habe?"
Man könnte freilich auch von Reife sprechen. Denn wie viel Altersweisheit in dem Buch steckt, nicht zuletzt in der Leichtigkeit, mit der es geschrieben ist, wird erst jetzt deutlich, da Peter Geimer und Bernd Stiegler zwei Dutzend Aufsätze, Artikel und Interviews aus der Zeit seit 1953 zusammengetragen haben, in denen Barthes sich mit Fotokünstlern, Ausstellungen sowie einigen Gattungen der Fotografie auseinandergesetzt hat. Dabei ist die Vielfalt nicht überraschend, zumal fast all diese Texte schon auf Deutsch vorgelegen haben. Auffällig vielmehr wird im Rückblick der Akademismus, den Barthes mit seinen Wort- und Satzungetümen bisweilen derart auf die Spitze treibt, dass man sich an Laokoon im Kampf mit der Schlange erinnert fühlt.
Zentral sind ihm die Begriffe und Gegensatzpaare konnotativ und denotativ sowie kulturell und natürlich, mit deren Hilfe Barthes die Objektivität der Fotografie zu fassen versucht und sie am Ende frei von jeglicher Codierung nennt bis hin zu der Überlegung, ob es sich bei ihr nicht um eine Art adamischen Urzustand des Bildes handele. Wie durch Gestrüpp irrend, darf man Barthes sich hier vorstellen, ein Arbeitsleben lang auf der Suche nach einer Lichtung. So lässt sich die chronologisch sortierte Textsammlung als das Abtasten eines weiten Feldes lesen, wobei Barthes hier, um in der Metapher der Jagd zu bleiben, noch die Rolle des Treibers eingenommen hat, der gegen die Büsche schlägt und im Laub schaufelt - einer Beute auf der Spur, die er "helle Kammer" nennen wird.
FREDDY LANGER
Roland Barthes: "Auge in Auge". Kleine Schriften zur Fotografie.
Hrsg. von Peter Geimer und Bernd Stiegler. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2015. 352 S., Abb., br., 20,- [Euro].
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