"Die Welt als Wille und Vorstellung". Am Haß wollte er genesen.
Den Schmerz der Echolosigkeit betäubte er, indem er mit Verbalinjurien auf eine nicht enden dürfende Reihe von imaginären Gegnern einprügelte, allen voran auf die Philosophieprofessoren, in denen er ein "Tribunal aus lauter bestochenen Richtern" witterte, die sich zu "Recensentenbanden" zusammengeschlossen hätten, um ihn durch "das Schweigen, das Ignoriren, das Sekretiren" nicht aufkommen zu lassen. Schopenhauer bezeichnete sie als "Schufte, Schurken, elende Wichte", "Barbiergesellen, Pillendrechsler und Klystiersetzer", und den Tod von zwei Göttinger Gelehrten im August 1828 feierte er als "ein wahres Viehsterben".
Dem kräftezehrenden Moment dieses unablässigen Schimpfens, durch das sich der in den eigenen Ohren zu Lebzeiten Totgeschwiegene immer wieder selbst ins Leben zurückrief, begegnete Schopenhauer mit Monotonie: Er verdichtete die Einflüsterungen seines Hasses zu einem kleinen Schatz gedankenlos wiederholbarer Formeln, um darauf keinen Einfallsreichtum mehr verschwenden zu müssen. Mit dem täglich abgeworfenen Zins unterhielt er die Litanei seiner vergeblichen Ruhmredigkeit, in deren Schutz er an seiner Vollendung des Kantschen Projekts weiterarbeitete, "dem Willen in uns den Rang eines Dings an sich" zu vindizieren. Der unermeßliche Geiz, der aus der Anekdote spricht, daß er seinem Jugendfreund Anthime Grégoire de Blésimaire achtzehn Monate lang einen Antwortbrief schuldig blieb, weil er die Portokosten scheute, regierte auch den Gedankenhaushalt seines vorgeschobenen Nachlasses zu Lebzeiten, der sich über weite Strecken aus Entwürfen zu Vorreden für die zweite und dritte Auflage der "Welt als Wille und Vorstellung" zusammensetzt, die erst 26 beziehungsweise 41 Jahre nach der Erstauflage vom Dezember 1818 erschienen sind.
Das zermürbende Warten, dem er Nebenwerke wie "Parerga und Paralipomena" (1851) abtrotzt, ist der "Vorrede zur dritten Auflage" nur noch am selbstgespendeten Trost des Petrarca-Wortes "Si quis tota die currens pervenit ad vesperam, satis est" (Wenn einer, der den ganzen Tag gelaufen, am Abend ankommt, so ist's genug) abzulesen: "Bin ich zuletzt doch auch angelangt und habe die Befriedigung, am Ende meiner Laufbahn den Anfang meiner Wirksamkeit zu sehn, unter der Hoffnung, daß sie einer alten Regel gemäß in dem Verhältnis lange dauern wird, als sie spät angefangen hat." Doch wer die sich im blinden Haß überbietenden Dokumente ihrer Entstehungsgeschichte studiert, die von der leidenschaftlichen Bitterkeit des Frühvollendeten zeugen, der auf seinen Nachruhm harrt, könnte leicht in den Trübsinn geführt werden.
Dagegen hat Alfred Estermann das denkbar heilsamste Gegengift aufgeboten, die Liebe zum Wort in ihrem geläutertsten Sinn: die Philologie. Ein berückender Schadenabwehrzauber geht von der Sammlung der sechs Studien aus, die in der Zeit seiner Tätigkeit als Leiter des Schopenhauer-Archivs der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main entstanden sind. Die längste und aufschlußreichste ist Schopenhauers Entwürfen zu den Vorreden gewidmet und eröffnet im Stil der critique génétique einen Einblick in Schopenhauers Schreibwerkstatt und die Beweggründe seines Philosophierens. Die übrigen "Szenen aus der Umgebung der Philosophie" gruppieren sich um drei Entdeckungen: Ein unbekanntes Gemälde Franz von Lenbachs nimmt Estermann zum Anlaß für eine kleine Geschichte der Schopenhauer-Ikonographie, die Ergänzung der Privatkorrespondenz um den bislang verschollenen Brief an Anthime Grégoire de Blésimaire vom 2. Mai 1845 zum Anlaß, das Altern dieser Jugendfreundschaft zu dokumentieren. Schließlich dokumentiert Estermann akribisch die Anstreichungen und Glossen Schopenhauers in seinem Exemplar von Kants Streitschrift gegen Johann August Eberhard, "Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll" (1790), das 1995 aus dem Antiquariats-Buchhandel für das Schopenhauer-Archiv erworben werden konnte, und eröffnet so auch einen Einblick in Schopenhauers Lesewerkstatt.
Die Sammlung wird abgerundet durch eine Betrachtung des Verhältnisses zwischen Arthur Schopenhauer und Richard Wagner und die Geschichte des letzten Schopenhauer-Briefes, der ihn noch drei Wochen vor seinem Tod am 21. September 1860 in Erwartung seines Nachruhms zeigt. An zwei junge Verehrer, die ihn um die Auflösung eines Widerspruchs in seiner Philosophie bitten, schreibt er: "Vielleicht intreßirt es Sie, daß in diesen Tagen die 2te vermehrte Auflage meiner Ethik bei Brockhaus erscheint; imgleichen daß meine Büste, von der Bildhauerin Ney (Großnichte des Marschalls) in Berlin, verfertigt u. von Allen einstimmig sprechend ähnlich befunden, jetzt durch Abgüße vervielfältigt, auch auf der Ausstellung in Wien zu sehn seyn wird." Estermann hat Schopenhauer mit dieser Sammlung von Studien und neuentdeckten Dokumenten ein bleibenderes Denkmal gesetzt.
MARTIN STINGELIN
Alfred Estermann: "Arthur Schopenhauer". Szenen aus der Umgebung der Philosophie. Insel Verlag, Frankfurt am Main, Leipzig 2000. 324 S., Abb., geb., 56,- DM.
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