entsandt. Mit Forschungsschiffen, Eisbrechern und U-Booten wollen sie herausfinden, ob der Höhenzug in der Tiefe zum eurasischen oder zum amerikanischen Kontinent zählt oder gar, so argumentieren mit Vorliebe dänische Wissenschaftler, eine Fortsetzung der Landmasse Grönlands ist. Nicht die Neugier auf die geologische Formation steckt freilich hinter diesen Bemühungen, sondern handfestes wirtschaftliches Interesse: Rund um den Nordpol lagern gewaltige Bodenschätze, und den Löwenanteil an ihnen wird nach geltendem Recht jene Nation abbauen dürfen, die den Lomonossow-Rücken für sich reklamieren kann.
Die komplizierte Mischung aus Völkerrecht und Geologie ist fester Bestandteil von Büchern über die Polarregion. Die bislang umfassendste Einführung in das Thema hat Christoph Seidler vorgelegt. Mit großer Sachkunde beleuchtet der Wissenschaftsjournalist des Nachrichtenportals "Spiegel Online" das wirtschaftliche Potential und die politischen Konfliktlinien des Gebiets, das nach dem Ende des Kalten Kriegs zunächst vom Radar der Weltöffentlichkeit verschwunden war. Die Debatte um die Erderwärmung einerseits, die im Meeresboden vermuteten Öl- und Gasreserven andererseits haben es in den vergangenen Jahren wieder auf die Titelseiten der Zeitungen und in die Hauptnachrichten im Fernsehen gehievt: 2006 erklärte die norwegische Regierung den Norden zum Schwerpunkt ihrer Außenpolitik, 2007 bohrte eine russische Expedition eine Nationalflagge in den Meeresboden unter dem Nordpol, 2008 reisten die Außenminister der Anrainerstaaten zu einem Gipfeltreffen nach Grönland.
Seidler ordnet in "Arktisches Monopoly" diese Entwicklung nach symbol- und machtpolitischen Kriterien und analysiert die Interessen der Kontrahenten. Dass es unter ihnen keine tragfähigen Bündnisse, sondern nur Widersacher gibt, stellt er als eine der Besonderheiten dieses zweiten Wettlaufs zum Pol heraus - den ersten hatten sich Abenteuerer und Entdecker wie der Norweger Fridtjof Nansen und der Amerikaner Edward Peary Anfang des 20. Jahrhunderts geliefert. Ihnen ging es um Ruhm und Ehre, heute treiben vor allem die anderswo zu Neige gehenden fossilen Reserven die Staaten an: Verhinderten klimatische und geologische Bedingungen lange die Öl- und Gasförderung in der Arktis, machen steigende Energiepreise, technischer Fortschritt und mildere Temperaturen Projekte wie jenes des russischen Staatskonzern Gasprom mit der norwegischen Statoil und der französischen Total betriebene Schtokman-Gasfeld in der Barentssee zumindest in der Planung rentabel.
Von der Goldgräber-Stimmung in der Arktis, die aus manchen Pressemeldungen der Unternehmen und den Reden einiger Politiker spricht, lässt der Autor sich glücklicherweise nicht anstecken. Eine vielzitierte Studie des Geologischen Dienstes der Vereinigten Staaten, nach der rund um den Nordpol rund ein Viertel aller noch nicht abgebauten, aber technisch erreichbaren Bodenschätze der Erde lagern, ergänzt er um deutlich nüchternere Zahlen, die sich auf neuere Untersuchungen stützen. Abwägend beurteilt er auch die Vorteile einer eisfreien Seefahrtsroute durch das Polargebiet: Die Nordwest- und Nordostpassage sind zwar deutlich kürzer als die Routen durch den Panama- und Suezkanal. Für eine kommerzielle Nutzung wäre außer dem Klimawandel aber auch eine gehörige Investitionsbereitschaft in die maritime Infrastruktur nötig. Zu den Stärken des Buchs gehören auch viele Infografiken, Karten und Fotos, die das Verständnis erheblich erleichtern.
Ganz anders als Seidler nähert sich Matthias Hannemann in "Der neue Norden" der Arktis. Auch hier kommen die grundlegenden Fakten und politischen Akteure vor. Im Vordergrund stehen die Bewohner der Polargebiete - und die Begegnungen des Autors mit ihnen. Der Schwerpunkt liegt auf Norwegen, Schweden, Finnland und dem in wichtigen Belangen immer noch aus Kopenhagen regierten Grönland. Schließlich ist Hannemann Skandinavist und berichtet als freier Journalist unter anderem für diese Zeitung aus Nordeuropa. Seine 12 Reportagen - die Grubenstadt Kiruna, an deren Rand örtliche Wirtschaftsförderer einen Weltraumbahnhof ansiedeln wollen, gehört zu den Zielen wie ein einsamer Wachposten an der finnisch-russischen Grenze und eine moderne Erdgasraffinerie in Hammerfest - sind gespickt mit prägnanten Charakterstudien, vielsagenden Alltagsbeobachtungen und kulturgeschichtlichen Bezügen.
So entsteht das vielschichtige Bild einer regionalen Mentalität: Dem neuen Interesse an ihrer Heimat begegnen die im Kampf mit den Elementen und der Abgeschiedenheit gestählten Bewohner von Europas nördlichem Rand mit einer Mischung aus Selbstbewusstsein, urwüchsigem Erfindergeist und unermüdlicher Zuversicht. Die Zeit, in der Michail Wassiljewitsch Lomonossow der Karriere wegen die 1000 Kilometer zwischen seiner Heimat im Norden bis nach Moskau zu Fuß zurücklegte, ist vorüber. Heute wirkt die Arktis selbst wie ein Magnet.
SEBASTIAN BALZTER.
Matthias Hannemann: Der Neue Norden. Die Arktis und der Traum vom Aufbruch.
Scoventa-Verlag, Bad Vilbel 2010, 216 Seiten, 19,90 Euro.
Christoph Seidler: Arktisches Monopoly. Der Kampf um die Rohstoffe der Polarregion.
DVA, München 2009, 288 Seiten, 19,95 Euro.
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