Erforschung des GULag erst seit weniger als einem Jahrzehnt möglich. Mit der Studie des Bonner Historikers Ralf Stettner liegt nun die erste deutschsprachige Darstellung zum Lagersystem in der stalinistischen Sowjetunion vor. Stettner untersucht die Anfänge, die Ausweitung und die Auflösung des GULag, aber auch das Lagerregime und das Leben und Sterben in den Lagern, und er fragt nach deren Funktion im sowjetischen Herrschaftssystem der Jahre 1928 bis 1956.
Konzentrationslager und sogenannte "Lager zur besonderen Verwendung" wurden schon kurz nach der Oktoberrevolution errichtet, um politische Gegner zu isolieren oder zu vernichten; daneben existierten "Besserungsarbeitseinrichtungen" für Kriminelle. Der GULag entstand aber erst mit Stalins "großem Durchbruch" ab 1928, mit der Vernichtung des Bauerntums und der forcierten Industrialisierung im Zuge des ersten Fünfjahrplans. Immer mehr Häftlinge kamen nun in die Lager, die immer öfter unmittelbar dem Geheimdienst OGPU unterstellt wurden. Innerhalb der OGPU wurde im April 1930 die erste "Hauptverwaltung für Lager" geschaffen, die sich bis 1934 zu einem gewaltigen, von Moskau zentral geleiteten Verwaltungsapparat entwickelte. Ihr waren zahlreiche Branchenabteilungen, etwa für Holzwirtschaft, Bergbau, Großbaustellen oder Landwirtschaft, angegliedert. Der Geheimdienst - ab 1934 NKWD - wurde so zu einem der größten Wirtschaftsunternehmen des Landes, der über ein strategisch einsetzbares Heer an Zwangsarbeitern verfügte.
Die Arbeitssklaven des GULag gruben den Weißmeer-Ostsee-Kanal, verlegten die Schwellen der Baikal-Amur-Magistrale, wuschen Gold in Magadan, fällten Holz in Norilsk und bauten Hochöfen in Magnitogorsk. Der GULag wuchs von Karelien über den Fernen Osten und Sibirien bis nach Kasachstan, in der Nachkriegszeit erstreckte er sich schließlich über die gesamte Sowjetunion.
Die Häftlinge kamen in Wellen: Zehntausende "dekulakisierte" Bauern, Hunderttausende Arbeiter, die wegen Verletzung der Disziplin am Arbeitsplatz verurteilt worden waren, Hunderttausende Opfer des Großen Terrors der Jahre 1936 bis 1938, ab 1939 die Scharen der Polen, Balten, Finnen und Rumänen, dann die Rußlanddeutschen, zu jeder Zeit auch Kriminelle. Letztere stellten die größte Gruppe dar, unterteilt in die Lageraristokratie der Berufs- und Schwerverbrecher, eine Kaste mit rigidem Kodex, und die einfachen Kriminellen. Die zweite große und beständig wachsende Gruppe innerhalb der Lagerbevölkerung waren die "Konterrevolutionäre", nach dem berüchtigten Paragraphen auch "58er" genannt, die am unteren Ende der Hierarchie standen.
Im GULag hauste man in Holzbaracken ohne Strom, mit hundert bis 600 Bewohnern je Baracke. Das Essen war bei Schwerstarbeit völlig unzureichend, viele Häftlinge starben an Entkräftung und Krankheiten. Mit Beginn des Krieges wurden die Rationen weiter gekürzt, Hungerwellen durchliefen bis 1948 die Lager. In den Jahren 1945 bis 1948 flossen in den GULag die Ströme Hunderttausender neuer Gefangener, die als "Spione" verdächtigten ehemaligen Ostarbeiter und sowjetischen Kriegsgefangenen, die tatsächlichen und angeblichen Kriegsverbrecher und Kollaborateure.
Zu dieser Zeit begann man eine auf größere wirtschaftliche Effizienz ausgerichtete Reform des Lagersystems, denn mit der rasch wachsenden Häftlingszahl erreichte die Sterbequote in den Lagern 1947/48 einen Höhepunkt - ein Umstand, der die Planerfüllung unmöglich machte. Doch zugleich kam es zu Streiks, Hungerstreiks und offenen Aufständen in den Lagern, nicht zuletzt deshalb, weil unter den Häftlingen viele kampferprobte und selbstbewußte Soldaten und Partisanen waren, die sich das Leben nach dem Sieg über den Nationalsozialismus anders vorgestellt hatten.
Nach dem Tode Stalins im März 1953 und der Verhaftung des Geheimdienstchefs Beria im Juni desselben Jahres erschütterten weitere Aufstände das GULag-Imperium. Doch erst der innenpolitische Wandel unter Chruschtschow besiegelte das Ende der Schreckenslager. Nach dem XX. Parteitag der sowjetischen Kommunisten wurde der GULag abgeschafft, etwa 70 Prozent der Häftlinge - ihre Zahl lag in der Nachkriegszeit bei etwa drei Millionen - wurden aus den Lagern entlassen.
Der GULag, so Stettner, war zunächst ein Terrorinstrument, das der Herrschaftssicherung diente. Zugleich hatte er von Anfang an auch eine wirtschaftliche Funktion, die immer wichtiger wurde. Die Massenverhaftungen, vermutet der Autor, dienten seit 1937 und vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg der Rekrutierung neuer Arbeitssklaven. Ob bei den Verhaftungsquoten, die der NKWD seinen regionalen Gliederungen vorschrieb, der Arbeitskräftebedarf tatsächlich eine entscheidende Rolle spielte, kann Stettner allerdings nicht belegen.
Daß der GULag wirtschaftlich effizient war, bezweifelt der Autor zu Recht. Die Produktivität der Zwangsarbeit war unter den katastrophalen Lebensbedingungen niedrig. Stettner weist darauf hin, daß eine innerökonomische Analyse zu kurz greift. Der GULag war Teil des Arbeitszwangssystems und auch ein Mittel der Zwangskolonisation unwirtlicher Gebiete im Norden und in der Steppe Mittelasiens. Vor allem aber glaubte die stalinistische Führung daran, daß die Zwangsarbeit nutzbringend und unentbehrlich sei.
Stettners Studie ist ein guter und längst überfälliger Überblick zum derzeitigen Wissensstand über den GULag, dessen Erforschung aus verständlichen Gründen weit hinter der des nationalsozialistischen KZ-Systems zurückliegt. Der Autor, der von den Memoiren Überlebender bis zu den neuesten Veröffentlichungen russischer Historiker alle publizierten Quellen ausgewertet hat, nennt auch die vielen offenen Fragen, die nur anhand der Quellen in den zentralen und regionalen russischen Archiven gelöst werden können.
MARKUS WEHNER
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