das deutsche Wort Tatsachenroman bezeichnet die spezifische Eigenart seines Schreibens nur ungenau. Aufschlussreicher als derlei Zuordnungen ist der Hinweis auf literarische Vorbilder: Es genügt, an dieser Stelle die Namen Bruce Chatwin und Ryszard Kapuscinski zu nennen oder den diesjährigen Nobelpreisträger Jean-Marie Le Clézio: Nomadisierende Schriftsteller, deren Werk Gattungsgrenzen wie geographische Horizonte überschreitet und sich mit souveräner Selbstverständlichkeit durch fremde Kulturen bewegt.
Das gilt auch für Frank Westerman, der in seinem Buch "El Negro" die Odyssee eines zu Ausstellungszwecken präparierten Leichnams von Kapstadt über Paris nach Barcelona sowie dessen Rückführung nach Südafrika schilderte, wo er hundertfünfzig Jahre nach seinem Tod endlich in heimatlicher Erde bestattet wurde. Der Folgeband "Ingenieure der Seele" verknüpfte Leben und Schicksal prominenter Sowjetschriftsteller mit gigantischen Wasserbauprojekten, in denen der marxistische Ketzer Karl August Wittfogel - und nicht nur er - Stalins despotische Herrschaft gespiegelt sah: Der größenwahnsinnige Eingriff in die Natur führte zu einer ökologischen Katastrophe, bei der dann auch die Literatur auf der Strecke blieb.
Der dritte Teil der Trilogie - wenn es denn eine ist - peilt ein noch größeres Thema an: Es geht um die Sintflut, um nicht mehr und nicht weniger. Westerman schildert den Einbruch der vorschnell für tot erklärten Religion in unsere säkulare Lebenswelt: Nicht am Beispiel des Terroranschlags vom 11. September - das wäre zu vordergründig -, sondern anhand der eigenen Biographie, die typisch ist für Westeuropäer der zweiten Nachkriegsgeneration - und nicht nur für sie. Die Geschichte beginnt mit einer Kindheitserinnerung an Ferien in Österreich, wo der kleine Frank mit Spielkameraden einen Gebirgsbach einzudämmen versucht und sich in letzter Sekunde vor einer Sturzflut in Sicherheit bringt. Ein Felsvorsprung rettet ihm das Leben; die Warnung der Wasserbehörde vor dem Öffnen der Schleusen eines Stausees hatte den Campingplatz zu spät erreicht. Das Buch endet mit der Besteigung des Berges Ararat, wo der Autor orthodoxen Mönchen aus Moskau und evangelikalen Christen aus Amerika begegnet, die auf der Suche nach versteinerten Überresten der Arche Noah sind, misstrauisch beäugt von kurdischen Schafhirten, türkischen Soldaten und Kämpfern der PKK. Der im Grenzgebiet zu Armenien und Iran gelegene Berg, früher ein Horchposten im Kalten Krieg, steht an der Wiege dreier Weltreligionen und beschäftigt seit dreitausend Jahren die menschliche Phantasie, denn Überlieferungen von einer verheerenden Flut gibt es nicht nur im Zweistromland oder am Mittelmeer, sondern fast überall auf der Welt.
Was Frank Westerman interessiert, ist nicht die durch den Klimawandel und das Ansteigen des Meeresspiegels aktualisierte Angst vor einer neuen Sintflut, sondern die Gretchenfrage: Wie hältst du's mit der Religion? Anders ausgedrückt: die Suche nach dem historischen Ursprung der alttestamentarischen Überlieferung und nach den Ablagerungen, die Texte späterer Kommentatoren und Berichte moderner Reisender um diesen harten Kern herum gebildet haben. "Sicherheiten waren Mangelware, selbst innerhalb der Geowissenschaften. Trotzdem wollte mir nicht in den Kopf gehen, dass ein Doktor der Geologie keine Moräne von einem Lahar unterscheiden konnte. Bis mir klar wurde, dass er nicht hinkam. Er war ein Ararat-Experte, ohne jemals auf dem Ararat gewesen zu sein! Und das galt auch für seine Widersacher. Es war ausgeschlossen, dass sie ein türkisches Forschungsvisum bekommen würden. Das also war das Problem? Arkadi spreizte die Finger zu einer ,So ist es'-Geste. "Aber wenn Sie vorhaben, dorthin zu reisen", sagte er, "wäre ich an Fotos interessiert."
Nicht nur der armenische Geowissenschaftler, auch der Autor hat Schwierigkeiten, ein Visum zu bekommen, und das Warten darauf erinnert an Kafkas Parabel "vor dem Gesetz". Er muss seinen Beruf verleugnen, und als er nach langwierigen Demarchen endlich ein sogenanntes Bergsteigervisum erhält, muss er feststellen, dass die bürokratische Prozedur überflüssig war, weil auf den Gletscherfeldern des Ararat nicht die türkische Armee, sondern die PKK das Sagen hat.
Aus dem Gesagten wird klar, dass Frank Westermans "Pilgerreise eines Ungläubigen" mehr ist als ein auf der neuen Welle modischer Pseudoreligiosität reitendes Sachbuch, das sorgfältig recherchiert und gut geschrieben ist. Der von Stefan Häring und Verena Kiefer übersetzte Text hat mich mehr fasziniert als viele hochgelobte Romane, weil er auf jede Effekthascherei verzichtet; seine Eleganz liegt darin, dass und wie der Autor hinter der Sache zurücktritt und mit größtmöglicher Exaktheit ganz und gar unprätentiös erzählt, ohne seine Subjektivität zu verleugnen oder sich zur allwissenden Instanz aufzuwerfen. "Ararat" ist eine verkappte Autobiographie, die vom Ölboom der fünfziger Jahre ebenso handelt wie von einer tödlich endenden Wattwanderung oder vom Verlust des Kinderglaubens an Gott, den der Ich-Erzähler im calvinistischen Holland, wo er mit seinen Zweifeln allein blieb, schmerzhafter empfand als in einer katholisch oder lutheranisch geprägten Gesellschaft: "In dem Notizbuch, dem ich meine Gedanken anvertraute, standen einige Anmerkungen unter der feierlichen Überschrift ,Randnotizen zur Schöpfungsgeschichte'. Dabei untersuchte ich unter anderem die Möglichkeit, dass Gott auch einen ,Pflug der Logik' geschaffen hatte, für Adam und Eva, mit welchem sie den Paradiesgarten bearbeiten konnten. Aber der Pflug der Logik stieß auf etwas Hartes und brach, und dadurch waren ihre Nachkommen dazu verurteilt, in Angst und Unsicherheit zu leben. Was das Reich der Vernunft hätte werden sollen, lief auf die Herrschaft der Religion hinaus."
HANS CHRISTOPH BUCH
Frank Westerman: "Ararat - Pilgerreise eines Ungläubigen". Aus dem Niederländischen von Stefan Häring und Verena Kiefer. Christoph Links Verlag, Berlin 2008. 285 S., geb., 19,90 [Euro].
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