Javier Cercas
Gebundenes Buch
Anatomie eines Augenblicks
Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde. Ausgezeichnet mit dem Premio Nacional de Narrativa 2010
Übersetzung: Kultzen, Peter
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In 'Anatomie eines Augenblicks' schildert Javier Cercas den entscheidenden Augenblick am 23. Februar 1981, als das Schicksal der noch jungen Demokratie Spaniens auf der Kippe stand: Das Parlament war umstellt, die Putschisten in den Startlöchern, aber der damalige Präsident und der junge König blieben unerschütterlich. Wie in einem Thriller entfaltet Cercas diesen Moment und analysiert ihn.
Mit dem Gespür für Spannung und dem Auge des Romanautors schuf Javier Cercas das bewegte Standbild einer dramatischen Episode, die Spaniens Geschichte hätte auf den Kopf stellen können. "Wir werden ... zu Zeugen einer grandiosen Tat des Widerstands gegen die sich ständig wiederholende Infamie der Geschichte", schrieb Alberto Manguel. El País wählte es zu seinem Buch des Jahres, und ganz Spanien machte es zum Bestseller.
Mit dem Gespür für Spannung und dem Auge des Romanautors schuf Javier Cercas das bewegte Standbild einer dramatischen Episode, die Spaniens Geschichte hätte auf den Kopf stellen können. "Wir werden ... zu Zeugen einer grandiosen Tat des Widerstands gegen die sich ständig wiederholende Infamie der Geschichte", schrieb Alberto Manguel. El País wählte es zu seinem Buch des Jahres, und ganz Spanien machte es zum Bestseller.
Javier Cercas, geboren 1962 in Ibahernando in der spanischen Extremadura, lebt als Schriftsteller, Publizist und Universitätsdozent in Girona. Mit seinem Roman 'Soldaten von Salamis' wurde er international bekannt. Heute ist sein Werk in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Für 'Der falsche Überlebende' (S. Fischer 2017), erhielt er u.a. den Prix du livre européen 2016 und den chinesischen Taofen-Preis 2015 für das beste ausländische Buch.
Peter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.
Peter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.
Produktdetails
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- Originaltitel: Anatomía de un instante
- Seitenzahl: 576
- Erscheinungstermin: 8. Februar 2011
- Deutsch
- Abmessung: 209mm
- Gewicht: 680g
- ISBN-13: 9783100113696
- ISBN-10: 3100113691
- Artikelnr.: 29508443
Herstellerkennzeichnung
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Was geschah am 23. Februar 1981?
Als die Schüsse fielen und alle sich auf den Boden warfen, behielten drei Männer die Köpfe oben: Javier Cercas hat eine mitreißende Geschichtserzählung über den Putsch im spanischen Parlament geschrieben.
Von Paul Ingendaay
Hier und da ist zu lesen, der Putsch im spanischen Parlament vom 23. Februar 1981 habe etwas Billiges, Operettenhaftes an sich gehabt, über die schlampige Planung hinaus, die sich am Ende als sein hervorstechendes Merkmal erwies. Vielleicht liegt das vor allem an dem naiven, ungestümen Oberstleutnant Antonio Tejero, dessen kurze Fernsehsekunden vor dreißig Jahren um die Welt gingen und für immer das Bild des Ereignisses geprägt haben, das die wenige Jahre
Als die Schüsse fielen und alle sich auf den Boden warfen, behielten drei Männer die Köpfe oben: Javier Cercas hat eine mitreißende Geschichtserzählung über den Putsch im spanischen Parlament geschrieben.
Von Paul Ingendaay
Hier und da ist zu lesen, der Putsch im spanischen Parlament vom 23. Februar 1981 habe etwas Billiges, Operettenhaftes an sich gehabt, über die schlampige Planung hinaus, die sich am Ende als sein hervorstechendes Merkmal erwies. Vielleicht liegt das vor allem an dem naiven, ungestümen Oberstleutnant Antonio Tejero, dessen kurze Fernsehsekunden vor dreißig Jahren um die Welt gingen und für immer das Bild des Ereignisses geprägt haben, das die wenige Jahre
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zuvor errungene spanische Demokratie wieder ins Wanken brachte.
Unter lautem Rufen unterbrach der Militär, unterstützt von einer Einheit der Guardia Civil, an jenem Vormittag vor dreißig Jahren die Parlamentssitzung, in der Leopoldo Calvo Sotelo zum neuen Ministerpräsidenten gewählt werden sollte, feuerte mit der Pistole in die Luft und befahl den Parlamentariern: "Auf den Boden! Auf den Boden!" Dann fielen Schüsse aus Maschinenpistolen. Und alle gingen zu Boden und verkrochen sich unter ihren Bänken, so dass das Halbrund der Abgeordnetenränge im Nu wie leergefegt war.
Bis auf drei Männer, die sich nicht hinwarfen. Einer war der amtierende Ministerpräsident Adolfo Suárez, der fünfundzwanzig Tage zuvor seinen Rücktritt erklärt hatte, ein ausgelaugter Politiker des demokratischen Übergangs vor dem Trümmerhaufen seiner Politik; der zweite sein Vizepräsident, Manuel Gutiérrez Mellado, ein General, der sich zum Dienst an der Demokratie überreden ließ und dafür unter seinesgleichen als Verräter galt; und der dritte Santiago Carrillo, der legendäre Führer der Kommunistischen Partei, der er verordnet hatte, sich zu wenden und den Leninismus auf den Müllhaufen zu werfen.
Anhand dieser drei Figuren, in drei großen Kapiteln, die mehr als die Hälfte seines Buches ausmachen, entwickelt der spanische Schriftsteller Javier Cercas die turbulente Geschichte der achtzehn Stunden und dreiundzwanzig Minuten, in denen die Zukunft der Nation auf Messers Schneide stand. Man muss kein Spezialist in der von Verschwörungstheorien umrankten Literatur zu diesem Putsch sein, um die Originalität von Cercas' Verfahren zu erkennen. Denn hier wird der historische Augenblick jeweils zusammen mit Vorgeschichte, Lebensgeschichte und politischer Mentalitätsgeschichte beleuchtet, hier stehen Personen in einem Kontext, den sie formen und von dem sie geformt werden.
Das Mindeste, was wir von einem begabten Erzähler erwarten, der sich unter die Historiker begibt, ist, dass auch seine Faktentreue etwas Narratives behält, so dass aus dem Erzählerischen ein Mehrwert entspringt. Worin er bestünde, das vorzuführen wäre die Aufgabe seines Buches. Wunderbarerweise geschieht hier genau das. War Javier Cercas bisher vor allem als Autor des Bestsellerromans "Soldaten von Salamis" (2002) bekannt, der viel Lob, aber auch - etwa bei diesem Rezensenten - manchen Einwand geerntet hat, komponiert er in der "Anatomie eines Augenblicks" aus einem sattsam bekannten Geschichtsthema ein mitreißendes, sich in breitem epischen Format entrollendes Buch. Sein Denken ist komplex, und selbst seine Einsichten kommen als Fragen daher. Für Momente wird vor dem Auge des Lesers die Gestaltbarkeit des ungeheuren Geschehens sichtbar, und dieser Eindruck ist das Verdienst dieser glänzend gebauten Geschichtserzählung, mit der Javier Cercas wohl sein Meisterwerk geschrieben hat. Dazu trägt auch der Übersetzer Peter Kultzen bei, dessen Sprachvermögen der ideale Resonanzapparat für Cercas' melodienreiches Spanisch ist.
Aber was sind diese gut fünfhundert Seiten mit dem Titel "Anatomie eines Augenblicks" überhaupt? Der allein für die deutsche Ausgabe erfundene Untertitel - "Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde" - verschleiert, dass es sich weder um einen Roman noch eine Erzählung handelt. Um ein Sachbuch aber auch nicht. Eher eine an der historischen Wahrheit orientierte Untersuchung, die mit erzählerischen Mitteln das Wesen des Putsches vom 23. Februar und, weit darüber hinaus, die unheilvolle Entzweiung in der spanischen Politik des zwanzigsten Jahrhunderts ergründen will.
Cercas gesteht gleich zu Beginn, zunächst habe er einen Roman über den Putsch geschrieben, ihn dann aber lieber nicht veröffentlicht, weil es bereits Romane darüber gebe und die Fiktion ohnehin nicht an die Dramatik der Wirklichkeit heranreiche. Das erklärt er im Nachwort, das jedoch am Anfang des Buches steht, während das Vorwort erst am Ende kommt. Verkehrte Welt! Offenbar musste der Autor ganz neu zu denken beginnen, um den heiklen, so oft bearbeiteten Stoff noch einmal schultern zu können. Ganz am Ende, nachdem alles erzählt ist, steht eine Erkenntnis, die wohl nicht alle Spanier teilen: dass der abgewendete Putsch das Ende des Spanischen Bürgerkriegs bedeute, eben weil sein Bedeutungskern mit einem schablonenhaften Denken in ideologischen Frontlinien nicht mehr zu erfassen sei.
Cercas' Kronzeuge ist Hans Magnus Enzensberger, der in seinem berühmten Essay "Die Helden des Rückzugs", erschienen in dieser Zeitung im Dezember 1989, so etwas wie die Theorie einer neuen politischen Aufgabe für gewandelte politische Zeiten formuliert hat. Zwei Absätze zu Adolfo Suárez reichen Enzensberger aus, um den von der Rechten als Verräter, von der Linken als Opportunisten geschmähten Ministerpräsidenten des Übergangs zum Wegbereiter eines anderen Spanien zu erklären. "Eines und nur eines ist dem Helden des Rückzugs sicher: der Undank des Vaterlandes." Und das ist das Leitmotiv von Cercas. Aus diesem Gedanken entwickelt er Adolfo Suárez, den Künstler der Zweideutigkeit, des Taktierens und der kalkulierten Verschleierung. "Den Franquisten gegenüber versicherte er, es gelte, auf gewisse Bestandteile des Franquismus zu verzichten, um den Fortbestand des Franquismus zu gewährleisten; der demokratischen Opposition erklärte er, es gelte, auf gewisse Elemente des Bruchs mit dem Franquismus zu verzichten, um den Bruch mit dem Franquismus zu gewährleisten. Zur Überraschung aller gelang es ihm, alle zu überzeugen."
Natürlich vergisst Cercas neben seinen drei Hauptfiguren im Parlamentssaal die anderen Mitspieler nicht, König Juan Carlos etwa, dessen nächtliche Fernsehansprache zur Verteidigung der demokratischen Legalität das endgültige Scheitern des Putsches bedeutete (und von dem rechte Kreise bis heute sagen, er habe den Umsturz gewollt, um den Einfluss der Krone zu sichern); oder den Geheimdienst Cesid, dessen genaue Rolle bei dem Komplott wohl für immer im Dunkeln bleiben wird; oder die putschfreudigen Militärs in Madrid und Valencia, die ihre Männer ausrücken und die Motoren der Panzer warmlaufen ließen, um im Land endlich wieder das herzustellen, was sie unter Ordnung verstanden.
Doch immer wieder kehrt der Autor zu der mutigen, trotzigen, nahezu selbstmörderischen, vielleicht auch als Wiedergutmachung zu verstehenden Geste der drei Männer zurück, die sich im Parlament, während Pistolenkugeln sie umschwirren, nicht hinwerfen und den Putschisten die Stirn bieten. Cercas idealisiert diese Instinktentscheidung nicht, sondern zerlegt sie in ihre persönlichen, politischen, schauspielerischen, ja zirzensischen Elemente. So eindeutig er in der Beurteilung moralischer Schwächen ist, so klug unterscheidet er zwischen sofortigem und verzögertem Effekt, zwischen persönlichem Motiv (welches eines) und historischer Wirkung (die etwas ganz anderes sein kann). Dabei orientiert er sich auch an den visuellen Quellen. Ja man kann sagen, seine erzählerische Phantasie entzünde sich erst an der halbstündigen Sequenz, die die Kameras uns hinterlassen haben. Cercas' Werk ist deshalb auch eine Bildbetrachtung, eine Meditation über den Fernsehzuschauer als historisch denkendes Subjekt, der Versuch, dem grobkörnigen Material aus den beiden Parlamentskameras eine Wahrheit abzulesen, die auch der Urteilsspruch des Militärtribunals im Jahr darauf, nach dem größten Prozess der spanischen Geschichte, nicht enthalten konnte.
Zum Beispiel diese: dass den drei Männern auf der einen Seite des Staates drei Männer auf der Gegenseite entsprachen und sich so etwas wie ein faszinierendes geometrisches Muster ergibt, Stoff für Leser von John le Carré. Dass die Persönlichkeit der Akteure - schlecht kontrolliertes Temperament, Eitelkeit oder Angeberei - über Sieg oder Niederlage von Ideologien entscheiden kann. Und die tiefste Wahrheit von allen: dass die spanische Demokratie im kritischen Augenblick ausgerechnet von drei Männern verteidigt wurde, von denen keiner sich sieben Jahre zuvor als Demokrat bezeichnet hätte, ja die sich früher einmal aktiv gegen demokratisch gewählte Regierungen erhoben hatten (wie Carrillo und Gutiérrez Mellado in den dreißiger Jahren) oder die, wie Suárez, nach einer langen, von Lächeln und Opportunismus bestimmten Karriere im franquistischen Machtapparat ganz nach oben gekrabbelt waren, möglicherweise sogar, ohne zu ahnen, welche historische Aufgabe sie einmal als ihre begreifen würden. Eine Aufgabe, die sie am Ende zerstört hat, was sonst? Und niemanden mehr als Adolfo Suárez, den Mann, der sich heute wegen seiner Alzheimer-Krankheit nicht einmal mehr daran erinnert, je Ministerpräsident dieses Landes gewesen zu sein.
"Anatomie eines Augenblicks" ist ein freies Buch, das keiner Theorie folgt, nichts behaupten oder beweisen will. Gerade in der Ruhe und Absichtslosigkeit der Reflexionen kommt es viel weiter, als es starre Geschichtslektionen könnten. Cercas nimmt auch die Spanier seiner Generation in den Blick, das, was sie von der Geschichte erfahren, gelernt oder nicht gelernt haben und nach dem zweiten Glas Wein vielleicht historische Erkenntnis nennen würden. Der unkritischen Selbstfeier der "transición" setzt er die Einsicht entgegen, dass unsere Erinnerung die Ereignisse irgendwann mit Make-up bedeckt und wir uns lieber nicht auf die Genauigkeit unseres Gedächtnisses verlassen sollten. Jeder Spanier, so erzählt er uns, glaube zu wissen, wo er an jenem 23. Februar 1981 die Live-Berichterstattung aus dem Plenarsaal des Parlaments gesehen habe. Merkwürdig daran sei nur, dass die Live-Berichterstattung nicht im Fernsehen, sondern im Radio lief, denn die Kamerabilder wurden erst am Tag darauf veröffentlicht.
Kaum weniger kritisch geht er mit der selbstzufriedenen Haltung ins Gericht, das Volk habe kühlen Kopf bewahrt, die Politik habe souverän reagiert und die spanische Demokratie ihre Bewährungsprobe bestanden. "Bis auf eine Handvoll entschlossener Menschen, die ihre Bereitschaft zu erkennen gaben, für die Verteidigung der Demokratie ihre Haut zu riskieren, zog sich das gesamte Land zwischen die eigenen vier Wände zurück, um abzuwarten, ob der Putsch scheiterte. Oder Erfolg hatte." Man könnte auch sagen: Es warf sich auf den Boden hinter die Bänke und gehorchte den Anweisungen von Uniformierten, die gekommen waren, um eine drei Jahre zuvor verabschiedete Verfassung außer Kraft zu setzen. "Wer die eigenen Positionen räumt", schrieb Enzensberger in seinem Essay, "gibt nicht nur objektiv Terrain preis, sondern auch einen Teil seiner selbst." Javier Cercas hat die zugleich tragische und versöhnliche Geschichte dieses Verlusts geschrieben, der für ein ganzes Land zum Gewinn wurde.
Javier Cercas: "Anatomie eines Augenblicks". Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 569 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unter lautem Rufen unterbrach der Militär, unterstützt von einer Einheit der Guardia Civil, an jenem Vormittag vor dreißig Jahren die Parlamentssitzung, in der Leopoldo Calvo Sotelo zum neuen Ministerpräsidenten gewählt werden sollte, feuerte mit der Pistole in die Luft und befahl den Parlamentariern: "Auf den Boden! Auf den Boden!" Dann fielen Schüsse aus Maschinenpistolen. Und alle gingen zu Boden und verkrochen sich unter ihren Bänken, so dass das Halbrund der Abgeordnetenränge im Nu wie leergefegt war.
Bis auf drei Männer, die sich nicht hinwarfen. Einer war der amtierende Ministerpräsident Adolfo Suárez, der fünfundzwanzig Tage zuvor seinen Rücktritt erklärt hatte, ein ausgelaugter Politiker des demokratischen Übergangs vor dem Trümmerhaufen seiner Politik; der zweite sein Vizepräsident, Manuel Gutiérrez Mellado, ein General, der sich zum Dienst an der Demokratie überreden ließ und dafür unter seinesgleichen als Verräter galt; und der dritte Santiago Carrillo, der legendäre Führer der Kommunistischen Partei, der er verordnet hatte, sich zu wenden und den Leninismus auf den Müllhaufen zu werfen.
Anhand dieser drei Figuren, in drei großen Kapiteln, die mehr als die Hälfte seines Buches ausmachen, entwickelt der spanische Schriftsteller Javier Cercas die turbulente Geschichte der achtzehn Stunden und dreiundzwanzig Minuten, in denen die Zukunft der Nation auf Messers Schneide stand. Man muss kein Spezialist in der von Verschwörungstheorien umrankten Literatur zu diesem Putsch sein, um die Originalität von Cercas' Verfahren zu erkennen. Denn hier wird der historische Augenblick jeweils zusammen mit Vorgeschichte, Lebensgeschichte und politischer Mentalitätsgeschichte beleuchtet, hier stehen Personen in einem Kontext, den sie formen und von dem sie geformt werden.
Das Mindeste, was wir von einem begabten Erzähler erwarten, der sich unter die Historiker begibt, ist, dass auch seine Faktentreue etwas Narratives behält, so dass aus dem Erzählerischen ein Mehrwert entspringt. Worin er bestünde, das vorzuführen wäre die Aufgabe seines Buches. Wunderbarerweise geschieht hier genau das. War Javier Cercas bisher vor allem als Autor des Bestsellerromans "Soldaten von Salamis" (2002) bekannt, der viel Lob, aber auch - etwa bei diesem Rezensenten - manchen Einwand geerntet hat, komponiert er in der "Anatomie eines Augenblicks" aus einem sattsam bekannten Geschichtsthema ein mitreißendes, sich in breitem epischen Format entrollendes Buch. Sein Denken ist komplex, und selbst seine Einsichten kommen als Fragen daher. Für Momente wird vor dem Auge des Lesers die Gestaltbarkeit des ungeheuren Geschehens sichtbar, und dieser Eindruck ist das Verdienst dieser glänzend gebauten Geschichtserzählung, mit der Javier Cercas wohl sein Meisterwerk geschrieben hat. Dazu trägt auch der Übersetzer Peter Kultzen bei, dessen Sprachvermögen der ideale Resonanzapparat für Cercas' melodienreiches Spanisch ist.
Aber was sind diese gut fünfhundert Seiten mit dem Titel "Anatomie eines Augenblicks" überhaupt? Der allein für die deutsche Ausgabe erfundene Untertitel - "Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde" - verschleiert, dass es sich weder um einen Roman noch eine Erzählung handelt. Um ein Sachbuch aber auch nicht. Eher eine an der historischen Wahrheit orientierte Untersuchung, die mit erzählerischen Mitteln das Wesen des Putsches vom 23. Februar und, weit darüber hinaus, die unheilvolle Entzweiung in der spanischen Politik des zwanzigsten Jahrhunderts ergründen will.
Cercas gesteht gleich zu Beginn, zunächst habe er einen Roman über den Putsch geschrieben, ihn dann aber lieber nicht veröffentlicht, weil es bereits Romane darüber gebe und die Fiktion ohnehin nicht an die Dramatik der Wirklichkeit heranreiche. Das erklärt er im Nachwort, das jedoch am Anfang des Buches steht, während das Vorwort erst am Ende kommt. Verkehrte Welt! Offenbar musste der Autor ganz neu zu denken beginnen, um den heiklen, so oft bearbeiteten Stoff noch einmal schultern zu können. Ganz am Ende, nachdem alles erzählt ist, steht eine Erkenntnis, die wohl nicht alle Spanier teilen: dass der abgewendete Putsch das Ende des Spanischen Bürgerkriegs bedeute, eben weil sein Bedeutungskern mit einem schablonenhaften Denken in ideologischen Frontlinien nicht mehr zu erfassen sei.
Cercas' Kronzeuge ist Hans Magnus Enzensberger, der in seinem berühmten Essay "Die Helden des Rückzugs", erschienen in dieser Zeitung im Dezember 1989, so etwas wie die Theorie einer neuen politischen Aufgabe für gewandelte politische Zeiten formuliert hat. Zwei Absätze zu Adolfo Suárez reichen Enzensberger aus, um den von der Rechten als Verräter, von der Linken als Opportunisten geschmähten Ministerpräsidenten des Übergangs zum Wegbereiter eines anderen Spanien zu erklären. "Eines und nur eines ist dem Helden des Rückzugs sicher: der Undank des Vaterlandes." Und das ist das Leitmotiv von Cercas. Aus diesem Gedanken entwickelt er Adolfo Suárez, den Künstler der Zweideutigkeit, des Taktierens und der kalkulierten Verschleierung. "Den Franquisten gegenüber versicherte er, es gelte, auf gewisse Bestandteile des Franquismus zu verzichten, um den Fortbestand des Franquismus zu gewährleisten; der demokratischen Opposition erklärte er, es gelte, auf gewisse Elemente des Bruchs mit dem Franquismus zu verzichten, um den Bruch mit dem Franquismus zu gewährleisten. Zur Überraschung aller gelang es ihm, alle zu überzeugen."
Natürlich vergisst Cercas neben seinen drei Hauptfiguren im Parlamentssaal die anderen Mitspieler nicht, König Juan Carlos etwa, dessen nächtliche Fernsehansprache zur Verteidigung der demokratischen Legalität das endgültige Scheitern des Putsches bedeutete (und von dem rechte Kreise bis heute sagen, er habe den Umsturz gewollt, um den Einfluss der Krone zu sichern); oder den Geheimdienst Cesid, dessen genaue Rolle bei dem Komplott wohl für immer im Dunkeln bleiben wird; oder die putschfreudigen Militärs in Madrid und Valencia, die ihre Männer ausrücken und die Motoren der Panzer warmlaufen ließen, um im Land endlich wieder das herzustellen, was sie unter Ordnung verstanden.
Doch immer wieder kehrt der Autor zu der mutigen, trotzigen, nahezu selbstmörderischen, vielleicht auch als Wiedergutmachung zu verstehenden Geste der drei Männer zurück, die sich im Parlament, während Pistolenkugeln sie umschwirren, nicht hinwerfen und den Putschisten die Stirn bieten. Cercas idealisiert diese Instinktentscheidung nicht, sondern zerlegt sie in ihre persönlichen, politischen, schauspielerischen, ja zirzensischen Elemente. So eindeutig er in der Beurteilung moralischer Schwächen ist, so klug unterscheidet er zwischen sofortigem und verzögertem Effekt, zwischen persönlichem Motiv (welches eines) und historischer Wirkung (die etwas ganz anderes sein kann). Dabei orientiert er sich auch an den visuellen Quellen. Ja man kann sagen, seine erzählerische Phantasie entzünde sich erst an der halbstündigen Sequenz, die die Kameras uns hinterlassen haben. Cercas' Werk ist deshalb auch eine Bildbetrachtung, eine Meditation über den Fernsehzuschauer als historisch denkendes Subjekt, der Versuch, dem grobkörnigen Material aus den beiden Parlamentskameras eine Wahrheit abzulesen, die auch der Urteilsspruch des Militärtribunals im Jahr darauf, nach dem größten Prozess der spanischen Geschichte, nicht enthalten konnte.
Zum Beispiel diese: dass den drei Männern auf der einen Seite des Staates drei Männer auf der Gegenseite entsprachen und sich so etwas wie ein faszinierendes geometrisches Muster ergibt, Stoff für Leser von John le Carré. Dass die Persönlichkeit der Akteure - schlecht kontrolliertes Temperament, Eitelkeit oder Angeberei - über Sieg oder Niederlage von Ideologien entscheiden kann. Und die tiefste Wahrheit von allen: dass die spanische Demokratie im kritischen Augenblick ausgerechnet von drei Männern verteidigt wurde, von denen keiner sich sieben Jahre zuvor als Demokrat bezeichnet hätte, ja die sich früher einmal aktiv gegen demokratisch gewählte Regierungen erhoben hatten (wie Carrillo und Gutiérrez Mellado in den dreißiger Jahren) oder die, wie Suárez, nach einer langen, von Lächeln und Opportunismus bestimmten Karriere im franquistischen Machtapparat ganz nach oben gekrabbelt waren, möglicherweise sogar, ohne zu ahnen, welche historische Aufgabe sie einmal als ihre begreifen würden. Eine Aufgabe, die sie am Ende zerstört hat, was sonst? Und niemanden mehr als Adolfo Suárez, den Mann, der sich heute wegen seiner Alzheimer-Krankheit nicht einmal mehr daran erinnert, je Ministerpräsident dieses Landes gewesen zu sein.
"Anatomie eines Augenblicks" ist ein freies Buch, das keiner Theorie folgt, nichts behaupten oder beweisen will. Gerade in der Ruhe und Absichtslosigkeit der Reflexionen kommt es viel weiter, als es starre Geschichtslektionen könnten. Cercas nimmt auch die Spanier seiner Generation in den Blick, das, was sie von der Geschichte erfahren, gelernt oder nicht gelernt haben und nach dem zweiten Glas Wein vielleicht historische Erkenntnis nennen würden. Der unkritischen Selbstfeier der "transición" setzt er die Einsicht entgegen, dass unsere Erinnerung die Ereignisse irgendwann mit Make-up bedeckt und wir uns lieber nicht auf die Genauigkeit unseres Gedächtnisses verlassen sollten. Jeder Spanier, so erzählt er uns, glaube zu wissen, wo er an jenem 23. Februar 1981 die Live-Berichterstattung aus dem Plenarsaal des Parlaments gesehen habe. Merkwürdig daran sei nur, dass die Live-Berichterstattung nicht im Fernsehen, sondern im Radio lief, denn die Kamerabilder wurden erst am Tag darauf veröffentlicht.
Kaum weniger kritisch geht er mit der selbstzufriedenen Haltung ins Gericht, das Volk habe kühlen Kopf bewahrt, die Politik habe souverän reagiert und die spanische Demokratie ihre Bewährungsprobe bestanden. "Bis auf eine Handvoll entschlossener Menschen, die ihre Bereitschaft zu erkennen gaben, für die Verteidigung der Demokratie ihre Haut zu riskieren, zog sich das gesamte Land zwischen die eigenen vier Wände zurück, um abzuwarten, ob der Putsch scheiterte. Oder Erfolg hatte." Man könnte auch sagen: Es warf sich auf den Boden hinter die Bänke und gehorchte den Anweisungen von Uniformierten, die gekommen waren, um eine drei Jahre zuvor verabschiedete Verfassung außer Kraft zu setzen. "Wer die eigenen Positionen räumt", schrieb Enzensberger in seinem Essay, "gibt nicht nur objektiv Terrain preis, sondern auch einen Teil seiner selbst." Javier Cercas hat die zugleich tragische und versöhnliche Geschichte dieses Verlusts geschrieben, der für ein ganzes Land zum Gewinn wurde.
Javier Cercas: "Anatomie eines Augenblicks". Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 569 S., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Den Spaniern seiner Generation erweist der Autor mit diesem Buch einen beachtlichen Dienst, meint Jeannette Villachica. Vor allem die in Javier Cercas dokumentarischen Essay über den Putschversuch im spanischen Parlament am 23. Februar 1981 eingegangenen Zweifel und die Verwirrung des Autors über die damaligen Geschehnisse in seinem Land, über die Elterngeneration und über Franco, hält die Rezensentin für berührend und durchaus erkenntnisfördernd. Dafür gräbt sie sich durch einen ausufernden, stellenweise trockenen monologischen Text, der auf Basis von Recherchen und eigenen Mutmaßungen des Autors die Vorgeschichte und den Verlauf des Putschversuches erzählt. Die Forschung zum Gegenstand voranzutreiben, schreibt sie, sei dem Autor offenbar kein Anliegen gewesen. Die Bedeutung des Bandes sieht Villachica im persönlichen Ansatz, in der individuellen Aufarbeitung eines historischen Moments.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Jugend, Freundschaft und ein Spanien, dass selbst nach seinem Weg sucht, bilden die faszinierende Kulisse dieses Romans! Christian Döring 20140415
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