Olga Kryschtanowskaja

Gebundenes Buch

Anatomie der russischen Elite

Die Militarisierung Russlands unter Putin

Übersetzung: Ettinger, Helmut

Beschreibung

Russlands Marsch in die kapitalistische MilitärdiktaturBleibt die Liberalisierung Russlands unter Gorbatschow und Jelzin nur eine Episode, eine Zwischenzeit des »Tauwetters«, wie so oft in der russischen Geschichte? Russland heute müssen wir uns eher nach dem kapitalistisch-autoritären Modell Chinas oder dem faschistischen Korporatismus Deutschlands und Italiens vor 1945 vorstellen.

Dieses Buch ermöglicht einen neuen Blick auf die sowjetisch-russische Geschichte der letzten beiden Jahrzehnte, den Seelenzustand, die Prägungen und Ziele des Personals, das an den Schalthebeln des Staates sitzt. Für die internationalen Medien gilt Olga Kryschtanowskaja als Kronzeugin in der aktuellen Berichterstattung über Putins neuen Kurs, sein Vorgehen gegen Milliardäre wie Michail Chodorkowskij und die Neubesetzung der Führungspositionen mit alten Seilschaften aus Geheimpolizei und Militär. Vor allem ihrer Recherche, die sich auf ein geradezu minuziös erhobenes Zahlenwerk stützt, und ihren Analysen ist es zu verdanken, dass der kontinuierliche Aufstieg des aus dem KGB hervorgegangenen Inlandsgeheimdienstes FSB ins öffentliche Bewusstsein gelangte: So tragen 58 Prozent der Mitglieder des Sicherheitsrates und 70 Prozent der Präsidialverwaltung in den Provinzen heute Uniform - im Politbüro der KPdSU unter Breschnew waren es gerade mal vier Prozent. Putin hat in wenigen Jahren den Staat radikal umgebaut, die Duma zu einem Erfüllungsorgan des Kreml gemacht und die freie Presse ausgeschaltet. Dass Russland sich auf dem Weg in den Autoritarismus befindet, daran gibt es nach Kryschtanowskajas Analyse keinen Zweifel. Die Folgen für Westeuropa und die geopolitische Lage insgesamt sind gravierend.

Autor

Kryschtanowskaja, OlgaDr. Olga Kryschtanowskaja ist Direktorin des Instituts für angewandte Politik und Leiterin der Abteilung für Eliteforschung am Institut für Soziologie der russischen Akademie der Wissenschaften. Sie bekleidet eine Ehrenprofessur an der Universität von Glasgow, hat an Universitäten in New York und Salzburg und im Auftrag des französischen Verteidigungsministeriums geforscht und als »spin doctor« für Politiker wie Gorbatschow, Tschernomyrdin, Nemzow und Lebed gearbeitet. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und politische Kommentare. International ist Kryschtanowskaja 1994 mit ihrem Essay Die russische Finanzoligarchie bekannt geworden.

Produktdetails

• Verlag: Kiepenheuer & Witsch
• 1. Auflage
• Seitenzahl: 281
• Deutsch
• Abmessung: 220mm
• Gewicht: 464g
• ISBN-13: 9783462034158
• ISBN-10: 3462034154
• Artikelnr.: 12765778

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2005

Aufstieg einer Hilfskraft
Die Militarisierung und Sowjetisierung Rußlands unter Putin

Olga Kryschtanowskaja: Anatomie der russischen Elite. Die Militarisierung Rußlands unter Putin. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 281 Seiten, 19,90 [Euro].

Es gibt einen Zyklus in der russischen Geschichte, der bislang noch von nahezu allen Machthabern - ob zaristischer, kommunistischer oder postsowjetischer Provenienz - bestätigt worden ist. Mit jedem neuen Kremlführer verbanden sich zunächst die Hoffnung seiner Untertanen auf weniger Drangsal und die Erwartung der Nachbarländer auf ein wohlgefälligeres Verhalten seines Reiches ihnen gegenüber. Daran schloß sich zumeist Enttäuschung über ausbleibende Verheißungen

an, gefolgt von Ungewißheit darüber, ob nach einem Rückfall in altbekannte Herrschermethoden nicht doch mit einem neuerlichen Machtwechsel zu rechnen sei, der allen Erfahrungen zum Trotz eine lichtere Zukunft einleiten werde. Für diesen Kreislauf standen in der jüngeren Geschichte nach dem Ende der düsteren Stalinzeit vor allem Namen wie Chruschtschow, Gorbatschow, Jelzin. Und Putin?

Eine von recht bedrückender Aktualität getragene Antwort gibt in Anlehnung an ebendiesen Zyklus die russische Politikwissenschaftlerin und Soziologin Olga Kryschtanowskaja. Sie kommt in einer historisch detaillierten Beschreibung des Werdegangs der sogenannten Eliten ihres Landes zu dem Schluß, daß auf Phasen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformversuche noch stets solche eines autoritären Regimes zu folgen pflegten, sobald "eine von der Staatsmacht relativ unabhängige Klasse von Eigentümern entstanden war". Immerhin gehen die Repräsentanten der Staatsmacht - und nur auf diese Nomenklatura läßt sich in Rußland nach Meinung der Autorin der Begriff "Elite" anwenden und nicht etwa auf die Besten einer Berufsgruppe - heutzutage öffentlich und mit dem Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit gegen vermeintlich unbotmäßige Verfechter einer "Ökonomisierung" und politischen Pluralisierung des Landes vor. Dagegen durfte dieses Wort bis 1989 nicht einmal in den sowjetischen Mund genommen werden. Von Michail Woslenskijs berühmtem, 1980 im Westen veröffentlichtem Buch "Nomenklatura" beispielsweise habe es in Moskau nur ein einziges Exemplar in der Bibliothek des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei gegeben - und das in dem Regal "Streng geheim".

War die Nomenklatura zu Sowjetzeiten eine geschlossene Gruppe, die den Zugang zur Elite und den Abgang aus ihr strikt unter Kontrolle hielt, so setzte mit dem Amtsantritt Gorbatschows in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre eine folgenreiche Transformation ein. Die Elite öffnete sich, es gab Wahlen mit Alternativkandidaten, und eine vom Staat unabhängige Eigentümerklasse nahm Konturen an. Gleich die ersten Wahlen mit Gegenkandidaten führten 1989 dazu, daß im Obersten Sowjet nicht länger die herkömmliche Nomenklatura die stärkste Abgeordnetengruppe stellte. Statt dessen nahm die Gruppe der Akademiker mit einem Anteil von mehr als einem Drittel um das Fünffache zu, während sich die Vertretung der Arbeiter und Bauern halbierte. Das eigentliche Novum aber bestand darin, daß nach kommunistischer Auffassung höchst unsichere Kantonisten, ja sogar Dissidenten wie Roy Medwedjew und Andrej Sacharow Eingang in die oberste Legislative fanden und diese unter wachsender Anteilnahme der Bevölkerung politisch-demokratisch geradezu revolutionär belebten.

Einmal in seinen monozentristischen Grundfesten kommunistischer Alleinherrschaft erschüttert, war es nur zwei Jahre später um das Imperium geschehen. Als erster frei gewählter Präsident des russischen Kernlandes der untergegangenen Sowjetunion setzte Jelzin die Reformbemühungen seines Vorgängers im Kreml, mit dem ihm ein Verhältnis gegenseitiger Abneigung verband, um so entschiedener fort - indes mit dem Resultat, daß sich das bürokratische Staatswesen aufspaltete und die Elite in einzelne Clans zerfiel.

Einer der mächtigsten dieser Clans wurde Anfang der neunziger Jahre von Anatolij Tschubais angeführt, der es unter Jelzin bis zum Stabschef im Kreml brachte. Dabei stützte er sich als ein Mann von der Newa (und nicht von der Moskwa) auf eine schon damals so genannte Petersburger Gruppe, zu der als Hilfskraft auch jener Wladimir Putin zählte, der diese Gruppe als ehemaliger "Tschekist" mit seinesgleichen über alle Maßen anreichern und zum heutigen Machtzentrum Rußlands ausbauen sollte. Ausgangsbasis war das Staatliche Komitee für die Verwaltung des Eigentums, das seinerzeit die Privatisierung der sowjetischen Staatsunternehmen in die Wege leitete und damit, weniger gewollt als mit einer Mischung aus ökonomischer Inkompetenz und finanzieller Habsucht, zum Geburtshelfer des seither viel zitierten und viel gescholtenen Oligarchen-Systems wurde. Neureiche vom Schlage eines Boris Beresowskij griffen fortan, so die Autorin, "kühn in Sphären ein, die bisher als das Allerheiligste der Macht galten - in Personalpolitik, Außenbeziehungen und Verteidigung".

Nicht nur die zerzauste Elite, auch große Teile der Bevölkerung begrüßten es daher, daß nach den Verwerfungen, die Gorbatschows und Jelzins Reformversuche mit sich gebracht hatten, zur Jahrtausendwende mit Putin ein Mann das Ruder übernahm, dem von Anbeginn nichts so sehr wie die Wiederherstellung der Machtvertikale mit strammen bürokratischen und hierarchischen Strukturen am Herzen lag. Fünf Jahre später hat die zunächst so populäre Rückkehr zu vermeintlicher Ruhe und Ordnung freilich nahezu alle politischen Institutionen wieder in die Subordination gezwungen und mit Hilfe der Repressionsorgane entstehen lassen, was Olga Kryschtanowskaja gänzlich unpolemisch, aber mit resignierendem Unterton als "Militokratie" bezeichnet. Unter Putin hat die Elite aufs neue festen Tritt gefaßt und einen "Prozeß der Sowjetisierung" in Gang gesetzt. Auf den Zyklus, so scheint es, ist Verlaß.

WERNER ADAM

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Aufschlussreich findet Rezensent Werner Adam dieses Buch der russischen Politikwissenschaftlerin und Soziologin Olga Kryschtanowskaja über die russische Elite. In ihrer "historisch detaillierten Beschreibung" des Werdegangs der sogenannten Eliten ihres Landes komme Kryschtanowskaja zu dem Schluss, "dass auf Phasen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformversuche noch stets solche eines autoritären Regimes zu folgen pflegten". Elite meint die Repräsentanten der Staatsmacht, die Nomenklatura, nicht etwa die Besten einer Berufsgruppe. Adam zeichnet die Geschichte dieser Elite in den unterschiedlichen Phasen seit Gorbatschows Amtsantritt nach. Er hebt hervor, dass nach der Öffnung und Transformation der Nomenklatura unter Gorbatschow und nach den Reformbemühungen Jelzins mit Putin ein Machtmensch ans Ruder kam, der die Widerherstellung strammer bürokratischer und hierarchischer Strukturen betrieb. Unter ihm habe die Elite aufs neue festen Tritt gefasst und einen "Prozess der Sowjetisierung" in Gang gesetzt.

© Perlentaucher Medien GmbH

»So verwandelt der Ex-Spitzel Putin sein Land [...] und kaum jemand hat den Mechanismus dieses Wandels so offen gelegt, wie die Soziologin Kryschtanowskaja [...].« Süddeutsche Zeitung