Hochhausexistenzen in der Banlieue zu Erfolg gebracht; trotz Detailänderungen scheint eine biographische Folie durch, etwa die Drehbucharbeit für Philippe Liorets Film "Welcome" (2009). Wie Adam ist Paul aus den Vorstädten geflohen, erst nach Paris, dann in die Bretagne, an die "äußersten Ränder des Landes", darauf hoffend, seiner Herkunft und seinen Dämonen zu entfliehen. Allerdings ist das Spiel mit Biographischem begrenzt und sollte mit Vorsicht genossen werden: Im Roman wehrt Paul sich gegen Leser und Kritiker, die ihn in seinen Texten erkennen wollen; außerdem sind die Abweichungen nicht nur flagrant, sondern entscheidend.
Anders als sein Schöpfer, der mit der Schriftstellerin Karine Reysset zusammenlebt, steht Paul allein in der Welt: Seine Lebensgefährtin Sarah hat ihn vor die Tür gesetzt, die gemeinsamen Kinder Manon und Clément sieht er nur am Wochenende. Dabei war Sarah seine Rettung, wie Paul nicht müde wird zu betonen: Die Krankenschwester hat dem psychisch Labilen Halt gegeben. Irgendwann aber wurde seine mentale Abwesenheit auch der einfühlsamen Sarah zu viel - nicht ganz zu Unrecht: "Seit wir uns getrennt hatten, war Sarah aufgeblüht, etwas in ihr schien von einer Last befreit, und ich musste wohl oder übel akzeptieren, dass ich diese Last gewesen war." Paul hingegen schleppt sie weiter mit sich herum, in Form überflüssiger Kilos und psychischen Ballasts, der den Zigaretten-, Alkohol- und Pillenkonsum hochschnellen lässt.
Adams Texte drehen sich meist um bescheidene Figuren kurz vor dem Kollaps, die, wenn sie Glück haben, gerade so davonkommen. Auch den Intellektuellen Paul schickt Adam zunächst in den Abgrund: Als seine Mutter sich den Oberschenkelhals bricht und sein Vater schlecht zurechtkommt, kehrt er in die Vorstadt zurück. Dort wird er mit der Familie konfrontiert, vorneweg mit seinem Bruder François, der Tierarzt ist, rechts wählt, familiäre Verantwortung zeigt - in jeder Hinsicht das Gegenteil zu Paul. Immerhin streiten sie offen miteinander, schwieriger ist die Beziehung zum Vater: "Ich hatte ihn nie anders erlebt als so: mit vor Erbitterung zusammengepressten Kiefern, kalter Wut, erschöpft." Die Familie insgesamt ist seit je beherrscht von einem "Gefühl eisiger Traurigkeit".
Die zunehmende geistige Verwirrung der Mutter und ihr geplanter Umzug in eine Seniorenresidenz zwingen Paul, zehn Tage vor Ort zu bleiben. Er taucht in die Atmosphäre eines Lebensabschnitts ein, den er hinter sich lassen wollte. Er versucht zu verstehen, wie es kommen konnte, dass seine Erinnerungen erst mit einem Selbstmordversuch im Alter von zehn Jahren einsetzen, dass er immer flüchten wollte, nie präsent sein kann - und macht überraschende Entdeckungen. Beim Umräumen der Wohnung stößt er auf ein Foto, das ein Familiengeheimnis birgt: Es zeigt den drei Tage nach der Geburt verstorbenen Zwillingsbruder Guillaume, seinen "Doppelgänger", der den Schlüssel zum familiären und persönlichen Unglück darzustellen scheint.
Olivier Adam ist zwar ein rockiger, aber kein einfacher Autor. Seine Texte haben etwas Gepeinigtes, sie erinnern an Gérard Mansets pechschwarze Lieder, denen sie Reverenz erweisen. Manchmal scheint Adam sich in Melancholie und Depression zu gefallen, die Selbstzerfleischung zur Methode zu entwickeln - umso mehr, als der intime Ton dazu verlockt, den Autor in der Figur zu sehen. Aber das existentielle Leid ist kein Selbstzweck, sondern wird urban und sozial präzise verankert: "Ich war auf dem Treibsand der Einfamilienhaussiedlungen, der Vorstädte ohne Anfang und Ende aufgewachsen, und meine Kindheit hatte sich irgendwohin verflüchtigt." In Begegnungen mit und Erinnerungen an Pauls Schulkameraden entfaltet sich ein Panorama der Schlaf- und Wohnstädte um Paris und ihrer sozialen Schichten, vom Supermarktkassierer und der Schwesternhelferin, die ums Überleben kämpfen, bis zur depressiven Gattin eines leitenden Angestellten oder dem überarbeiteten Tierarzt. Im Hintergrund steht die französische Dauerkrise und der Aufstieg des Front National, dessen Präsidentin als "die Blonde" durch den Roman geistert. Universelle Ausmaße bekommt er durch den Nuklearunfall von Fukushima, der über die Bildschirme flimmert.
Von "An den Rändern der Welt" verkauften sich bei Erscheinen 2012 in Frankreich rasch mehr als 150 000 Exemplare; der Roman wurde als Favorit für den Goncourt-Preis gehandelt. Der Bestseller ist in vieler Hinsicht ein gelungener Roman. Adam gibt der Versuchung nicht nach, aus dem verstorbenen Zwilling den Identitätsschlüssel für Paul zu machen, wie er sich überhaupt gegen einfache Erklärungen sträubt. Stilistisch gelingen ihm mitunter kleine harte Sätze, die an seine Erzählungen in "Am Ende des Winters" erinnern: "Der Himmel hatte sich plötzlich aufgeklart. Alles glänzte wie am ersten Tag. Ich übergab mich in den Büschen."
Deshalb ist es schade, dass er seine Rede- und Erzählökonomie nicht besser beherrscht. Sein Held ist nur als Figur ein schweigsamer Whiskytrinker: Als Erzähler plappert und analysiert er viel zu viel. Er wiederholt Beobachtungen und argumentiert bei jeder Gelegenheit soziologisch. Da greift Adam zu Schlagworten, die den platten Talkshows und Bistrodebatten entstammen, die er zu Recht kritisiert; sosehr die Beschreibung der urbanen Peripherie überzeugt, so sehr bringen die theoretischen Ausführungen dazu nach dreißig Jahren leerem Zentrums-Diskurs zum Gähnen. Da fehlen Maß und lakonische Außensicht.
Dennoch ist der durchs Leben schlingernde Paul eine mitreißende Figur. Man fühlt mit ihm in seinem Kampf um Identität, Frau und Kinder, gerät mit ihm in Rage, als er entdeckt, dass Sarah mit einem George-Clooney-Klon angebandelt hat. Als Paul an den Gräbern von Zwilling und Mutter etwas Frieden findet und auf einen Neuanfang mit Sarah hoffen kann, ist der Leser ebenfalls gelöst: Er würde die Wandlung vom bretonischen Seebären zum japanischen Tempelliebhaber gern weiterverfolgen.
NIKLAS BENDER
Olivier Adam: "An den Rändern der Welt". Roman.
Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015. 424 S., geb., 24,95 [Euro].
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