denn auch der Schriftsteller Michel Bergmann in seiner Erzählung "Alles was war" lakonisch fest.
Dass Bergmann 1945 in der Schweiz geboren wurde, hat ihm nichts genützt. Denn er tat seine ersten Atemzüge in einem Internierungslager, und alle Menschen, die im Lager waren, so weiß der Erzähler, haben seelische Defekte. Diese Bemerkung bezieht sich auf die Mutter des Protagonisten. Sie ist "waidwund" geworden, "immer misstrauisch" ob der vielen Toten, die sie in ihrer Familie zu beklagen hat. Auch der Sohn, von dessen Jugend im Nachkriegsdeutschland das Buch berichtet, das Alter Ego seines Autors, trägt die Narben seiner Herkunft und Abkunft.
Wider Erwarten stimmt Bergmann in der autobiographischen Erzählung über seine jungen Jahre in Frankfurt am Main kein Klagelied an über verstockten Antisemitismus oder verlogene Judenfreundlichkeit, wie sie in jenen Jahren des Wiederaufbaus und der Verdrängung der bösen Geschichte hierzulande gang und gäbe waren. Er schweigt sich darüber nicht aus, aber er berichtet darüber nicht im Jammerton, sondern in einer fast ironischen Art und Weise.
Seine Kindheitsbeschreibung steckt voller Witz und komischer Geschichten, voller liebevoll gezeichneter Figuren: Ilona Kranzler, die Chefin des gleichnamigen Cafés, die aus Wien an den Main gekommen ist und über die Österreicher feststellt: "Ein verlogenes, hinterfotziges Pack. Die schlimmsten Nazis." Oder die Mischpacha, die Familie, heute abfällig Mischpoke genannt, mit Onkel Siegfried und Tante Sophie aus Paris, die einen Fleisch-Supermarkt nach dem anderen aufgezogen haben, und Onkel Jack, der zur Barmizwa des Knaben aus New Jersey angereist ist und seinen schwarzen Cadillac DeVille mitgebracht hat, in dem die ganze Verwandtschaft mitfahren will.
Eine der hinreißendsten Geschichten spielt im ehemaligen Frankfurter Jüdischen Krankenhaus, das 1949 eine halbe Ruine ist, in der jüdische Überlebende provisorisch Unterschlupf gefunden haben. Auch die Familie des Knaben. Sie hat eine christliche Waise aufgenommen, ein herzensgutes naives Geschöpf, das von allen Bewohnern des Krankenhauses geliebt wird. Dieser Frieda wollen sie, die Juden, ein Weihnachtsfest ausrichten mit Tannenzweigen, Kerzen, Äpfeln. Professor Theodor Wiesengrund aus dem dritten Stock, nachmalig bekannt unter dem Namen Adorno, gibt den Weihnachtsmann. Ein gewisser Hanns Eisler, der ein berühmter Komponist und eingefleischter Bolschewist sein soll, erklärt sich gequält bereit, auf seinem Akkordeon "O Tannenbaum" und "Stille Nacht" zu spielen. "Warst du auch schön brav?", fragt Weihnachtsmann Wiesengrund und nimmt Frieda in die Arme, Eisler spielt dazu "Die Internationale", und allgemeine Fröhlichkeit kehrt ein in dem zur Weihnachtsstube umfunktionierten jüdischen Betsaal, als plötzlich der Rabbiner Riesenfeld angekündigt wird und Panik ausbricht. Zu dieser Pointe setzt Bergmann noch eine zweite, die hier nicht ausgeplaudert werden soll.
Wie viel in diesem Kapitel mit der Überschrift "Weihnukka" erfunden und wie viel Bergmann von dem, was er erzählt, erlebt hat, sei dahingestellt. "Alles was war" ist schließlich keine Dokumentation, sondern Literatur, der es nicht auf die Wahrheit jedes Details ankommt, sondern darauf, dass ein stimmiges Gemälde einer vergangenen Zeit gezeichnet wird - der Trümmerzeit mit einer zertrümmerten jüdischen Gemeinschaft, die aus Überlebenden besteht, die es nicht nach Amerika oder Israel geschafft haben und sich nun in Deutschland durchstrampeln müssen mit ewig schlechtem Gewissen, im Lande der Mörder zu wohnen.
Bergmann erzählt nicht chronologisch, sondern assoziativ. Es ist eine untergegangene Welt, in der Frankfurt noch vielerorts aus Trümmergrundstücken besteht, an der Alten Oper keine Ampel den Autofahrern den Weg weist, sondern Herr Seidel, der Polizist, auf einer rot-weiß gestreiften Kiste steht. Mit Melancholie schaut Bergmann auf die verlorene Zeit zurück. Und lässt doch keinen Zweifel daran, dass es für einen jüdischen Jungen keine heile Welt war.
"Jüdisch zu sein ist eben etwas anderes als katholisch oder evangelisch", schreibt der Autor und verfällt plötzlich in die Gegenwart und die Ich-Form. Heute komme der Risches, der Judenhass, im Gewand des Antizionismus daher, stellt Bergmann fest. Niemand interessiere sich für die Konfession der Vorstände von Daimler, Siemens oder Samsung. Aber sobald Manager wie Zuckerberg oder Soros involviert seien, schnappe die Judenfalle zu, schimpft er.
Die jüdische Erbsünde, sie wird dem Knaben und späteren jungen Mann nicht von Jahwe, sondern von der Umwelt, von ignoranten Mitmenschen aufgezwungen. Ein wenig hat sie Bergmann hoffentlich mit dieser hinreißenden Erzählung abwaschen können.
HANS RIEBSAMEN
Michel Bergmann: "Alles was war". Erzählung.
Arche-Literatur Verlag, Zürich 2014. 128 S., geb., 14,- [Euro].
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