durch Rückbeugen geöffnet hat, wird sich anschließend einfach besser fühlen. Weil der Körper es tut, tut es der Geist.
Es kann natürlich auch sein, dass dahinter noch etwas mehr steckt, etwas Größeres, eine Art tieferer Sinn, jedenfalls erscheinen Yogalehrer ihren Schülern oft, als hätten sie ihnen etwas Entscheidendes an Wissen voraus. Als hätten die Jahre knochenharter Übung und die vielen Workshops an entlegenen Orten sie nicht nur biegsamer gemacht, sondern auch weiser, gütiger, gelassener. Haben sie nicht alle so ein wissendes Lächeln in ihren entspannten Gesichtern, wenn man sie, meist in Gruppen zusammen mit anderen Lehrern, außerhalb des Yogastudios mal zufällig in irgendeiner veganen Suppenküche sitzen sieht, an der man gerade auf dem Weg zu irgendetwas außerordentlich Wichtigem in großer Eile vorbeiläuft? Sind die Schritte, mit denen sie den Übungsraum durchqueren, nicht viel zuversichtlicher als die ihrer Schüler, von denen die meisten sich am liebsten einen Platz in der hintersten Reihe sichern, von der Hoffnung getragen vermutlich, dort unsichtbar zu sein? Und sprechen sie im Unterricht nicht schließlich selbst oft genug von ihrem Wissen? Vom "Wesentlichen", das sich erst enthülle, wenn man aufhört zu denken (bloß wie?), vom Atem als eigentlichem Lebenssinn (wer atmet, lebt, und umgekehrt), vom Loslassen, das nur leider nie gelingt, wenn man es unbedingt will.
Eine von ihnen, Kristin Rübesamen, hat jetzt ein Buch über ihr Leben als Yogalehrerin geschrieben, ein weltweit einzigartiges Tell-all, das nicht nur für Menschen interessant sein dürfte, die Yoga machen (korrekterweise sagt man: üben) - vorsichtigen Schätzungen nach sind es in Deutschland bereits vier Millionen -, sondern für alle, die sich gelegentlich fragen, ob sich diesem Leben nicht vielleicht doch irgendwie ein Quentchen an Sinn abtrotzen lässt. Wobei "Sinn" ein Wort ist, das die Autorin sofort mit einer ironischen Bemerkung zur Seite wischen würde. Große und demzufolge inhaltsleere Worte scheinen ihr nämlich nicht geheuer zu sein, angenehmerweise.
Schon der Titel ihres Buchs - "Alle sind erleuchtet" - lässt in seiner Anspielung auf einen Jonathan-Safran-Foer-Bestseller erahnen, aus welcher Welt Rübesamen kommt. In München geboren, in den frühen neunziger Jahren aus dem dortigen Nachtleben nicht wegzudenken, war sie Journalistin, Redakteurin und irgendwas beim Fernsehen, bevor sie kurz vor der Jahrtausendwende, eben auf bestem Weg, eine erfolgreiche Fernsehproduzentin zu werden, mit Mann und zwei kleinen Töchtern nach New York zog. Mit dreißig Jahren sah sie sich plötzlich mit der Notwendigkeit eines radikalen Neuanfangs konfrontiert. Zunächst versuchte sie es mit einer neuen Frisur: Haare ab und schwarz gefärbt. Sie schreibt selbst, dass es nur ein Versuch war. Dann erwog sie, sich die Brüste vergrößern zu lassen - und ließ es bleiben. Schließlich meinte sie, im Gesicht einer Freundin immer so ein verführerisches Glänzen zu sehen, das sie unbedingt auch haben wollte: "Sie schlenderte so lässig vorbei, als käme sie vom Strand, vom letzten Sonnenschein noch milde glühend." Nach dessen Herkunft gefragt, erklärt die Freundin es mit Yoga. "Sie sagte: ,Es gibt nichts Besseres für deinen Hintern, glaub's mir.'" Also meldete auch Rübesamen sich in einem Yogastudio an. So banal fing es an. Undramatisch "wie alle großen Veränderungen im Leben".
Ihr Buch ist das absolute Gegenteil von all den Glücksbüchern, die den Markt überschwemmen und in jedem Kapitel einen neuen, garantiert sicheren Trick präsentieren, mit dem sich den Widrigkeiten des Lebens eine lange Nase drehen lässt. Charmant schnoddrig im Ton, mit viel mutwilliger Ironie und dem Schuss Oberflächlichkeit, ohne den das Thema schwer zu ertragen wäre, ist ihr Buch von einer entwaffnenden Skepsis durchzogen und dekliniert eher Fragen durch, als Antworten zu geben. Es erzählt die Geschichte einer Frau, die nicht hinnehmen wollte, dass Arbeit, Ehe, Kinder, Essenseinladungen, ironische Gespräche und Urlaub in Griechenland alles sein sollten, was das Leben zu bieten hatte. Hätte sie damals, vor zehn Jahren, schon gewusst, dass man ein Hobby auch ernsthaft betreiben kann, schreibt sie, hätte sie sich vielleicht etwas weniger bedingungslos dem Yoga verschrieben, ihm nicht den riesigen Platz eingeräumt, den es schließlich einnehmen sollte. Sie wollte eine Veränderung, und diese veränderte sie radikal. Wobei das Schöne ist, dass es zwischen der vorlauten, feigen und extrem ungeduldigen Person, als die Rübesamen sich eingangs beschreibt, und der Yogalehrerin, die sie heute ist, offenbar gar keinen so großen Unterschied gibt. Sie ist keineswegs zu einer anderen geworden, geschweige denn einer "Erleuchteten", abgesehen davon, dass sie halt kein Fleisch mehr isst, es eine Viertelstunde im Kopfstand aushält und einiges über sich selbst herausgefunden hat. Doch all die Gefühlsregungen, die abzulegen von Yogis eigentlich verlangt wird, darunter große Freude, Schmerz, Egoismus, kennt sie nach wie vor, was die Lektüre nachvollziehbar und alles andere als esoterisch macht.
Zunächst hat Rübesamen mit Begrifflichkeiten zu kämpfen: Was bedeutet es etwa, "seine Aufmerksamkeit die Wirbelsäule entlang zu schicken", wie es zu Beginn ihrer Yoga-Laufbahn immer wieder von ihr gefordert wird? Nach und nach kapiert sie es. Lernt ihre Atmung kennen, diverse Knochen und Muskeln, Sitzbeinhöcker und andere anatomische Spezialitäten. Geht anfangs wöchentlich in Kurse, bald jeden Tag. "Es fühlte sich wild an, radikal, ganz und gar durchgedreht und hatte mich mit jeder Faser in seinen Besitz genommen wie ein Liebhaber, der alles richtig macht." Und absolviert schließlich die 500-stündige Ausbildung zum Yogalehrer, ohne dabei ihren kritischen Verstand abzuschalten, was angesichts der sektenähnlichen Gemeinschaft, als die sie das Ausbildungslager nahe New York beschreibt, an ein Wunder grenzt. In der Gruppe nackt ausziehen und Tagebucheintragskontrolle inklusive.
Ganz nebenbei erzählt sie die etwa zweitausendjährige Geschichte von Yoga, das in Indien erfunden wurde, wohin auch Rübesamen während der Recherche fährt (die Reise hinterlässt sie vor allem verstört), in den späten sechziger Jahren in der amerikanischen Hippiebewegung en vogue wurde und von dort irgendwann auch nach Deutschland herüberschwappte. Dem westlichen Geschmack wurde die alte Tradition in einigen der unterrichteten Stile mit poppiger Musikuntermalung angepasst; längst wird in Berlin-Mitte genauso modisch praktiziert wie in New York, wo Rübesamen, die heute wieder in Berlin wohnt, miterlebt hat, wie immer genau dann Madonnahits eingespielt wurden, wenn dieselbe - stets divenhaft verspätet - ihre Matte im Jivamukti-Center in Downtown Manhattan ausrollte, um anschließend ihr eigenes Programm zu absolvieren, während die anderen brav den Anweisungen der Lehrerin folgten.
Rübesamen hat dicke Einwanderinnen in Queens unterrichtet, Superreiche in London, Nachtlebenleute in Berlin. Yoga als Massenphänomen steht sie amüsiert gegenüber: Dass die Schüler vor Beginn einer Stunde alle die Augen noch seliger geschlossen haben als ihr Nachbar, fällt ihr genauso auf wie die seltsame Sehnsucht der Massen nach einer autoritären Führungsperson, als die sie die Verehrung identifiziert, die Yogalehrern entgegengebracht wird. Wer durch Yoga gerettet werden wolle, werde tief enttäuscht werden, schreibt sie. Doch ohne Yoga ließe sich "der Wahnsinn, den wir uns als Menschen auferlegt haben", noch schwerer ertragen. Und gelenkiger macht es allemal.
JOHANNA ADORJÁN
Kristin Rübesamen: "Alle sind erleuchtet - Bekenntnisse einer Yogalehrerin". Berlin-Verlag, 347 Seiten, 19,90 Euro
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