vorliegenden Darstellungen kann das Buch inhaltlich nichts wesentlich Neues bringen. Seine Bedeutung liegt in einer breiteren Darstellung und der Abstützung auf eine sehr viel größere Quellengrundlage. Miquel hat die Akten der Bundestagsfraktionen, des Auswärtigen Amts und des Bundesjustizministeriums, die Protokolle der Sitzungen des Rechtsausschusses des Bundestages, der Konferenzen der Landesjustizminister und der CDU-Bundestagsfraktion, die Generalakten des Baden-Württembergischen Justizministeriums zur Zentralen Stelle in Ludwigsburg und außerdem die Berichterstattung in den wichtigsten Tageszeitungen ausgewertet. Dadurch sieht er mehr Personen als bisher bekannt an den Vorgängen beteiligt, besonders Politiker.
Miquel betont den Beitrag der DDR zur Aufklärung der Vorgänge. Die Arbeit beginnt mit der Broschüre des Ost-Berliner Ausschusses für Deutsche Einheit "Nazi-Richter im Bonner Dienst" von 1956. Bis 1960 erschienen acht derartige Broschüren, in denen mehr als tausend Juristen der nationalsozialistischen Sonder- und Standgerichte, des Volksgerichtshofs und der Wehrmachtsjustiz "enttarnt" und als "Blutrichter" bezeichnet wurden. Die Lage der Bundesrepublik war heikel, denn die DDR bezweckte mit diesen Publikationen nicht eine Reinigung der westdeutschen Justiz von nationalsozialistischen Elementen, sondern die Diskreditierung der Bundesrepublik. Überdies arbeitete die englische Presse mit ihren bekannten Mitteln. So führte der populäre Journalist Sefton Delmar im Massenblatt "Daily Express" den Schnurrbart eines von ihm interviewten Richters als Beweis für das Fortwirken nationalsozialistischer Überzeugungen an.
Eingehend schildert Miquel die Pläne für eine Pensionierung von belasteten Richtern. Ein weiterer Schwerpunkt der Darstellung ist die Kontroverse um den 1962 ernannten Generalbundesanwalt Wolfgang Fränkel. Die DDR entdeckte nicht nur in seiner Personalakte ein Lob für die "ausgezeichnete Bearbeitung" der politischen Strafsachen an der Oberstaatsanwaltschaft Kassel von 1934 bis 1936, sondern auch in Akten des Reichsgerichts 34 Fälle, in denen Fränkel die Todesstrafe beantragt oder bestätigt hatte. Kurz darauf wurde Fränkel entlassen. Miquel sieht den Kampf um die Ahndung der NS-Verbrechen als ein fortgesetztes Komplott zur Verhinderung der Verfolgung mittels Amnestien und Verjährungsregelungen, dem die Versuche der DDR und der übrigen Ostblockstaaten gegenüberstanden, die Diskreditierung der Bundesrepublik auf internationaler Ebene durch die gestreckte Veröffentlichung von Dokumenten möglichst lange aufrechtzuerhalten.
Der deutschen Öffentlichkeit wurden die nationalsozialistischen Untaten erstmals durch den Ulmer Einsatzgruppenprozeß von 1958 bewußt. Miquel zeigt, daß dieser auf einem grotesken Vorfall beruhte: dem querulatorischen Leserbrief eines Mitglieds des Einsatzkommandos Tilsit wegen der Abweisung seiner Wiedereinstellungsklage. Diesen Leserbrief lasen zufällig zwei ehemalige Chauffeure des früheren Polizeidirektors, deren Empörung wiederum zufällig ein ehemaliger litauischer Rabbiner erfuhr, der dann schließlich Strafanzeige erstattete. Der mit den Ermittlungen beauftragte Staatsanwalt Erwin Schüle, übrigens selbst NSDAP-Mitglied und in der Sowjetunion wegen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung zum Tode verurteilt, arbeitete sich mit enormem Wissensdrang in die Materie ein, nahm Einsicht in die Akten des amerikanischen Berlin Document Center und vertrat daher die Anklage in dem Prozeß brillant. Der Stuttgarter Generalstaatsanwalt betrieb daraufhin die Einrichtung einer zentralen Ermittlungsbehörde. Deren Kompetenzen waren allerdings überaus umstritten, ging es doch um die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern und überwiegend um Tatorte außerhalb Deutschlands, für die keine Staatsanwaltschaft örtlich zuständig war. Ende Dezember wurde schließlich die "Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg gegründet und Schüle zu ihrem Leiter ernannt.
Das Buch ist cum ira et studio geschrieben. Entgegenstehende Argumente werden als "absurd", "grotesk" und "haarsträubend" gewertet, Personen mit abweichender Auffassung als "Frontstadtkämpfer" und "Kalte Krieger" abqualifiziert. Das Buch enthält zahlreiche unbelegte diskriminierende Vermutungen und Anspielungen. Der Kampf um die - rechtsstaatlich problematische - Aufhebung der Verjährung wird bei Miquel zu einem unmoralischen Kampf für die Verjährung. Mehrfach wird der "aggressive Antisemitismus" von 1959/60 beschworen, der inzwischen als Inszenierung des tschechischen Geheimdienstes entlarvt ist. Immer wieder spricht Miquel von "belasteten" Juristen, obwohl er in einer Fußnote darauf hinweist, daß "analytische Kriterien, anhand deren die Belastung der NS-Juristen beurteilt werden kann, bezeichnenderweise bis heute ein Desiderat der rechtshistorischen Forschung darstellen". Dazu paßt es, daß Miquel im Anhang eine "Übersicht über die belasteten Juristen in der Bundesjustiz" publiziert, zu der es im Vorspann heißt, daß er die Stichhaltigkeit der aus der DDR erhobenen Anschuldigungen nicht habe überprüfen können. Fazit sind "moralische Kosten der Ahndungsdefizite", eine "moralische Hypothek", die die Bundesrepublik jahrzehntelang belastet habe.
Die Versäumnisse bei der Verfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen in der Bundesrepublik sind hinlänglich erforscht. Interessant erscheinen noch Untersuchungen, wie die verbreitete Kameraderie der Ehemaligen zu erklären ist. Furcht vor Verfolgung hätte doch eher eine demonstrative Distanzierung nahegelegt. Untersuchenswert wäre ferner, weshalb Völker offensichtlich allgemein - wie sich gegenwärtig wieder im Irak zeigt - eine Abneigung dagegen haben, selbst Terrorregime im eigenen Land strafrechtlich zu verfolgen. Mit dieser Anregung riskiert man allerdings den Vorwurf der "Aufrechnungsmentalität".
FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main