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ADAC reisemagazin: Südtirol Nr. 67 1/2004
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Aus dem adac-reisemagazin Südtirol: Himmel! Wo ist jetzt die Landewiese? Paragliding in Alta Badia: Ein Text von Markus Wolff Eines vorweg: Der Liedermacher Reinhard Mey lügt. Herr Mey behauptet seit Jahren mit stoischer Beharrlichkeit, dass die Luft eine Art problemfreier Raum sei. Er sagt das nicht ganz so nüchtern. Eher blumig-raffiniert: "Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen." Mit "darunter" meint er unter den Wolken. Und spätestens beim unverbindlichen "sagt man" möchte man meinen, dass Herr Mey den Zustand in der Luft auch nur vom Hörensagen kennt. Aber diese Bedenken kommen erst, als es schon zu spät ist, als ich im Gleitschirm hänge, 500 Meter über dem Boden, und der Himmel so nah ist, dass ich mit dem Kopf fast an ihm vorbeischramme. Da sind die Ängste und Sorgen alles andere als verborgen. Im Gegenteil. Sie tanzen in der Luft Lambada.
Von vorne. Träumen ist nicht ohne Folgen. Denn wer den Traum vom Fliegen zu oft hat, bei dem gibt es auf einmal einen weißen Blitz - wie in amerikanischen Filmen. Und dann trägt man keine Brille mehr. Und keine Cordhose. Stattdessen Helm und Gurtzeug und fühlt sich sehr dynamisch. Und überall sind Berge und keine Hochhäuser. "Willkommen zum Gleitschirmkurs in Alta Badia!", sagt eine Stimme. Der Mann, der zur Stimme gehört, trägt Sonnenbrille, eine Baseballkappe und den Namen Helmuth Stricker. Er ist Direktor von Südtirols einziger Gleitschirmschule und hat schon 3000 Sprünge mit Schirmen und Drachen hinter sich. Ausgangspunkt für eine Pilotenkarriere ist Corvara, einer von sechs Dolomitenorten im Gadertal, die sich als touristische Interessengemeinschaft zur Region Alta Badia (Hochabteital) zusammengeschlossen haben. Drei Wege führen nach Corvara: einer durchs Tal aus Richtung Bruneck, zwei über die Berge. In fast penibler Symmetrie winden sich die Passstraßen aus der Höhe hinab und lassen die Autos wie
Murmeln erscheinen, die von oben links nach unten rechts und oben rechts nach unten links abwärts rollen. So lange, bis sie der Ort auf 1568 Meter Höhe verschluckt.
Die Hauptrollen auf der Freilichtbühne in Alta Badia spielen die Bergriesen der Dolomiten. Gewichtig ragt das Sassongher-Massiv auf, Form und Farbe wie ein überdimensionierter Pappmaschee-Felsen bei Karl-May-Festspielen. Direkt gegenüber die Sellagruppe. Festungsgleich zeichnet sich die Gebirgsformation vor tiefblauem Hintergrund ab, thront über steilen Geröllhängen, dichten Tannengürteln und sattgrünen Wiesen. Von Corvara aus können im Winter Skifahrer, im Sommer Wanderer mit Seilbahnen und Liften in die Sellagruppe hineinfahren. Näher an den Himmel heran, auf genau 2555 Meter. Dann stehen die Bergfahrer inmitten von Felswänden, die sie umgeben wie ein riesiger, hohler Zahn. Zu einer Seite ist der Zahn offen und gibt den Blick frei ins Tal. Zum Beispiel auf das Hotel Bo am Campolongo-Pass. Direkt daneben, auf einem Hang, stehen wir. Wir, das sind Lehrer Stricker, Walter, Jürgen und ich. Der Hang - im Winter eine Abfahrt mit Schwierigkeitsstufe Blau - dient Stricker im Sommer als Übungshügel für seine
Gleitschirm-Novizen. Da hat die Piste aber Schwierigkeitsstufe Schwarz. Wenn nicht Pechschwarz. Meine Mitschüler Jürgen, 37, und Walter, 26, kommen beide aus Südtirol. Walter ist Maschinist bei einem Bergbahnbetrieb, Jürgen baut Öfen. Schon vor zehn Jahren wollte er eigentlich mit dem Fliegen beginnen. Aber dann ist er gleich am ersten Tag eines Wochenendkurses mit seinem Lehrer zu einem Tandemsprung aufgebrochen. Doch oben auf dem Berg sagte der Lehrer: "Du bist doch fit. Du kannst das auch allein." Jürgen sprang damals, allein, nur mit einem Funkgerät um den Hals - und auch wenn letztendlich alles gut ging, saß der Schock tief. "Das gibt's doch nicht!" Herr Stricker ist entsetzt. "Am ersten Tag?", fragt er ungläubig, und seine Worte können das Tempo der Stimme nicht ganz mithalten. "An einem Tag lernst du noch nicht einmal Pingpong!" Herr Stricker ist ärgerlich, und darum klingt Pingpong, als sei es eine asiatische Kampftechnik. Dann setzt er zu einem Monolog an: Über Menschen, die sich und - noch viel
schlimmer - andere leichtfertig in Gefahr und damit den gesamten Sport in Misskredit bringen. Über Wochenend-Unfälle. Unfälle, die geschehen, weil sich die Piloten optimale Flugbedingungen einreden. "Sicherheit hat immer Vorrang!", endet Stricker und heftet dabei ein dickes Ausrufezeichen an sein Schlusswort. "Wenn du nicht den Mut hast zu sagen: ,Heute verzichte ich auf meinen Flug', dann bist du kein guter Flieger." Die ersten Übungen beginnen. Den Schirm hinter dem Körper aufziehen, "aufreißen" nennt sich das. Und dann loslaufen. Herr Stricker macht es vor. Er legt Gurtzeug an. Darin werden die unterschiedlichen Leinen eingehakt, die mit dem Schirm verbunden sind. Stricker macht einige Schritte nach vorne. Die Leinen spannen sich, der Schirm wird gleichmäßig straff. Ruhig gleitet er nach vorne. Stricker läuft los und blickt nach oben. Der Schirm ist über seinem Kopf. "Und laufen!", ruft der Lehrer beim Laufen, "Und lenken!" beim Lenken. Der Schirm neigt sich leicht nach links. Dabei hüpft Herr Stricker
durchs kniehohe Gras, als sei er auf einer Moorhuhnjagd oder sogar das Moorhuhn selbst. Die ersten Versuche seiner Schüler scheitern dagegen kläglich. Ich werfe mich so stark in die Gurte, als müsste ich eine Kutsche ziehen. Der Schirm schnellt nach vorne und fällt ziemlich unsinnlich in sich zusammen. Dann kommt Walter. Auch sein Schirm behält im Kampf die Oberhand und verpackt ihn schon nach wenigen Metern Christo-gleich in 20 Quadratmeter gelbem Stoff. Jürgen bewahrt noch am ehesten Haltung. Sein Versuch scheitert. Einfach so. Nach neun, zehn Versuchen endet der erste Übungstag mit der Frage, ob die verschiedenen Startstufen nicht zu viel für einen einzelnen Menschen sind. Am nächsten Morgen sind die Flugbedingungen wieder perfekt. Ein schwacher Wind weht den Hang hinauf, und über allem lacht ein 0/8-Himmel. So sagt's der Flieger. Weniger kryptisch formuliert: Der Himmel ist zu null von acht Teilen bedeckt. Oder auch: super Wetter. So wird es den ganzen Tag bleiben. Nur der Wind werde sich leicht drehen,
prophezeit Herr Stricker. Er weiß das, weil er eine Art menschgewordene Wettervorhersage ist. Zugegeben, mit leichter Unterstützung durch die ORF-Nachrichten. ...
Von vorne. Träumen ist nicht ohne Folgen. Denn wer den Traum vom Fliegen zu oft hat, bei dem gibt es auf einmal einen weißen Blitz - wie in amerikanischen Filmen. Und dann trägt man keine Brille mehr. Und keine Cordhose. Stattdessen Helm und Gurtzeug und fühlt sich sehr dynamisch. Und überall sind Berge und keine Hochhäuser. "Willkommen zum Gleitschirmkurs in Alta Badia!", sagt eine Stimme. Der Mann, der zur Stimme gehört, trägt Sonnenbrille, eine Baseballkappe und den Namen Helmuth Stricker. Er ist Direktor von Südtirols einziger Gleitschirmschule und hat schon 3000 Sprünge mit Schirmen und Drachen hinter sich. Ausgangspunkt für eine Pilotenkarriere ist Corvara, einer von sechs Dolomitenorten im Gadertal, die sich als touristische Interessengemeinschaft zur Region Alta Badia (Hochabteital) zusammengeschlossen haben. Drei Wege führen nach Corvara: einer durchs Tal aus Richtung Bruneck, zwei über die Berge. In fast penibler Symmetrie winden sich die Passstraßen aus der Höhe hinab und lassen die Autos wie
Murmeln erscheinen, die von oben links nach unten rechts und oben rechts nach unten links abwärts rollen. So lange, bis sie der Ort auf 1568 Meter Höhe verschluckt.
Die Hauptrollen auf der Freilichtbühne in Alta Badia spielen die Bergriesen der Dolomiten. Gewichtig ragt das Sassongher-Massiv auf, Form und Farbe wie ein überdimensionierter Pappmaschee-Felsen bei Karl-May-Festspielen. Direkt gegenüber die Sellagruppe. Festungsgleich zeichnet sich die Gebirgsformation vor tiefblauem Hintergrund ab, thront über steilen Geröllhängen, dichten Tannengürteln und sattgrünen Wiesen. Von Corvara aus können im Winter Skifahrer, im Sommer Wanderer mit Seilbahnen und Liften in die Sellagruppe hineinfahren. Näher an den Himmel heran, auf genau 2555 Meter. Dann stehen die Bergfahrer inmitten von Felswänden, die sie umgeben wie ein riesiger, hohler Zahn. Zu einer Seite ist der Zahn offen und gibt den Blick frei ins Tal. Zum Beispiel auf das Hotel Bo am Campolongo-Pass. Direkt daneben, auf einem Hang, stehen wir. Wir, das sind Lehrer Stricker, Walter, Jürgen und ich. Der Hang - im Winter eine Abfahrt mit Schwierigkeitsstufe Blau - dient Stricker im Sommer als Übungshügel für seine
Gleitschirm-Novizen. Da hat die Piste aber Schwierigkeitsstufe Schwarz. Wenn nicht Pechschwarz. Meine Mitschüler Jürgen, 37, und Walter, 26, kommen beide aus Südtirol. Walter ist Maschinist bei einem Bergbahnbetrieb, Jürgen baut Öfen. Schon vor zehn Jahren wollte er eigentlich mit dem Fliegen beginnen. Aber dann ist er gleich am ersten Tag eines Wochenendkurses mit seinem Lehrer zu einem Tandemsprung aufgebrochen. Doch oben auf dem Berg sagte der Lehrer: "Du bist doch fit. Du kannst das auch allein." Jürgen sprang damals, allein, nur mit einem Funkgerät um den Hals - und auch wenn letztendlich alles gut ging, saß der Schock tief. "Das gibt's doch nicht!" Herr Stricker ist entsetzt. "Am ersten Tag?", fragt er ungläubig, und seine Worte können das Tempo der Stimme nicht ganz mithalten. "An einem Tag lernst du noch nicht einmal Pingpong!" Herr Stricker ist ärgerlich, und darum klingt Pingpong, als sei es eine asiatische Kampftechnik. Dann setzt er zu einem Monolog an: Über Menschen, die sich und - noch viel
schlimmer - andere leichtfertig in Gefahr und damit den gesamten Sport in Misskredit bringen. Über Wochenend-Unfälle. Unfälle, die geschehen, weil sich die Piloten optimale Flugbedingungen einreden. "Sicherheit hat immer Vorrang!", endet Stricker und heftet dabei ein dickes Ausrufezeichen an sein Schlusswort. "Wenn du nicht den Mut hast zu sagen: ,Heute verzichte ich auf meinen Flug', dann bist du kein guter Flieger." Die ersten Übungen beginnen. Den Schirm hinter dem Körper aufziehen, "aufreißen" nennt sich das. Und dann loslaufen. Herr Stricker macht es vor. Er legt Gurtzeug an. Darin werden die unterschiedlichen Leinen eingehakt, die mit dem Schirm verbunden sind. Stricker macht einige Schritte nach vorne. Die Leinen spannen sich, der Schirm wird gleichmäßig straff. Ruhig gleitet er nach vorne. Stricker läuft los und blickt nach oben. Der Schirm ist über seinem Kopf. "Und laufen!", ruft der Lehrer beim Laufen, "Und lenken!" beim Lenken. Der Schirm neigt sich leicht nach links. Dabei hüpft Herr Stricker
durchs kniehohe Gras, als sei er auf einer Moorhuhnjagd oder sogar das Moorhuhn selbst. Die ersten Versuche seiner Schüler scheitern dagegen kläglich. Ich werfe mich so stark in die Gurte, als müsste ich eine Kutsche ziehen. Der Schirm schnellt nach vorne und fällt ziemlich unsinnlich in sich zusammen. Dann kommt Walter. Auch sein Schirm behält im Kampf die Oberhand und verpackt ihn schon nach wenigen Metern Christo-gleich in 20 Quadratmeter gelbem Stoff. Jürgen bewahrt noch am ehesten Haltung. Sein Versuch scheitert. Einfach so. Nach neun, zehn Versuchen endet der erste Übungstag mit der Frage, ob die verschiedenen Startstufen nicht zu viel für einen einzelnen Menschen sind. Am nächsten Morgen sind die Flugbedingungen wieder perfekt. Ein schwacher Wind weht den Hang hinauf, und über allem lacht ein 0/8-Himmel. So sagt's der Flieger. Weniger kryptisch formuliert: Der Himmel ist zu null von acht Teilen bedeckt. Oder auch: super Wetter. So wird es den ganzen Tag bleiben. Nur der Wind werde sich leicht drehen,
prophezeit Herr Stricker. Er weiß das, weil er eine Art menschgewordene Wettervorhersage ist. Zugegeben, mit leichter Unterstützung durch die ORF-Nachrichten. ...