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Das Jahrhundert aus der Vogelschau Das "kurze 20. Jahrhundert" aus globaler Perspektive - auf der Basis ungeheuren Kenntnisreichtums wie auch persönlicher Erfahrung präzise analysiert und meisterhaft geschildert von einem der bedeutendsten Historiker unserer Zeit. "Nur wenige Historiker dürften bereit und in der Lage sein, ein solches Unternehmen durchzuführen."(Die Zeit) "Ein weites Panorama dieses Jahrhunderts, ein beeindruckend argumentierender Wurf." (Der Tagesspiegel)

Produktbeschreibung
Das Jahrhundert aus der Vogelschau
Das "kurze 20. Jahrhundert" aus globaler Perspektive - auf der Basis ungeheuren Kenntnisreichtums wie auch persönlicher Erfahrung präzise analysiert und meisterhaft geschildert von einem der bedeutendsten Historiker unserer Zeit. "Nur wenige Historiker dürften bereit und in der Lage sein, ein solches Unternehmen durchzuführen."(Die Zeit) "Ein weites Panorama dieses Jahrhunderts, ein beeindruckend argumentierender Wurf." (Der Tagesspiegel)
Autorenporträt
Eric J. Hobsbawm , (1917-2012), begann 1947 seine Lehrtätigkeit an der Universität London; zugleich übernahm er Professuren für Geschichte an der Stanford University, dem Massachusetts Institute of Technologoy, der Cornell University, der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und am Collège de France. Ab 1984 lehrte er an der New School for Social Research in New York.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.1995

Die obere Weißbrotscheibe
Eric Hobsbawms Sandwich des 20. Jahrhunderts / Fragwürdige Urteile

Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Yvonne Badal. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1995. 704 Seiten, 68,- Mark.

"Weltgeschichte" ist für den Historiker ein fragwürdiger Gegenstand. Als sie noch unschuldig betrieben wurde, hatte sie mit Geschichtswissenschaft im modernen Sinn wenig zu tun. Die Welt galt dem Polyhistor als Einheit, weil er von ihrer Uneinheitlichkeit nichts wußte beziehungsweise die Einheit für dogmatisch gegeben hielt, sei es, daß sie in Gottes Schöpfung oder in der vernünftigen Ordnung des Kosmos begründet lag. Je mehr Geschichte zum Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit wurde, desto problematischer erschien eine "Weltgeschichte". Seit ihrer Seßhaftwerdung in der Jungsteinzeit war die "Menschheit" offenbar kein Subjekt des historischen Prozesses mehr und konnte nur in der Konkretion ihrer verschiedenen Kulturen erfaßt werden. Wenn überhaupt, dann existierte "Weltgeschichte" bloß noch im Rahmen der geschichtsphilosophischen Spekulation oder als Buchbinderarbeit.

Diesem Dilemma ist nur zu entkommen, wenn sich der Historiker bei der Behandlung der "Weltgeschichte" von vornherein zur Verengung der Fragestellung entschließt. Sie kann beispielsweise darin bestehen, nur diejenigen Hochkulturen zu analysieren, die eine deutliche "Welthaftigkeit" (Alfred Heuß) besaßen, also über längere Zeit bestimmenden Einfluß auf die Welt beziehungsweise einen großen Teil der Welt ausübten. Solche "Welthaftigkeit" kam der chinesischen und der indischen, der arabisch-islamischen und in besonderem Maße der europäischen Hochkultur zu. Sie hat sich während der vergangenen zweihundert Jahre als erste Hochkultur im planetarischen Maßstab durchgesetzt, und in mancher Hinsicht ist die "Menschheit" dadurch, daß alle Zivilisationen gezwungen wurden, wesentliche Elemente des europäischen Musters zu übernehmen, wieder zu einer Einheit geworden. Nach der "Neolithischen Revolution" bildet die industrielle Revolution die zweite absolute Kulturschwelle, die alle Menschen überschritten haben, was es durchaus gerechtfertigt erscheinen läßt, zumindest die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts als eine "Weltgeschichte Europas" (Hans Freyer) zu schreiben.

Ohne es auszusprechen, hat Eric Hobsbawm genau an diese Voraussetzung angeknüpft, wenn er seine "Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts" in erster Linie als eine Geschichte der europäisch-nordamerikanischen Staaten anlegt. Die "merkwürdig schiefen Fundamente", auf denen seine Darstellung in bezug auf die Entwicklung Lateinamerikas, Afrikas und Asiens beruht, mag man - wie ehrlicherweise der Autor - beklagen, sie liegen aber zum einen in der Natur der Sache begründet und gehen zum anderen auf eine Perspektive zurück, gegen die zwar der modische Vorwurf des Eurozentrismus erhoben werden kann, die aber aus den oben genannten Gründen gerechtfertigt erscheint.

Hobsbawm schreibt die Geschichte des 20. Jahrhunderts, weil er sie bereits für beendet hält. Anders als das "lange" 19. Jahrhundert, das von der Französischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs andauerte, betrachtet er das "kurze" 20. Jahrhundert als eine Epoche, die 1914 begann und schon 1989/90 endete. Daß beide Daten wichtige Ereignisse markieren, ist unbestreitbar, aber unter welcher Signatur diese Ära gestanden hat, läßt sich bei Hobsbawm nicht ganz klar ausmachen. Die Bezeichnung "Zeitalter der Extreme" wirkt eher feuilletonistisch, die Definition über die "Zerstörung der Vergangenheit" ist rein negativ, und die Behauptung, es habe sich um ein "Jahrhundert der Religionskriege" gehandelt, trifft eigentlich nur für die obere Weißbrotscheibe des "historischen Sandwichs" zu, das Hobsbawm als Denkmodell zur Periodisierung des 20. Jahrhunderts vorschlägt: Demnach wurden die dreißig Jahre von 1914 bis 1945 durch die Weltkriege bestimmt, es folgte von 1945 bis 1970/75 ein "Goldenes Zeitalter", in dem trotz der ideologischen Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion keine Großkriege mehr stattfanden und wachsender wirtschaftlicher Erfolg die Situation im europäisch-amerikanisch-asiatischen Wohlstandsgürtel bestimmte, abgelöst von einer Phase der Dekomposition, die mit der Jugendrevolte der späten sechziger Jahre, dem Zusammenbruch des Finanzsystems von Bretton-Woods und der Ölkrise eingeleitet wurde und etwa 1990 durch die Implosion des sowjetischen Machtbereichs endete.

Im großen und ganzen dürfte dieser Vorschlag zur zeitlichen Gliederung konsensfähig sein. Einwände ergeben sich hier sowenig wie in bezug auf große Teile der Darstellung, die kaum anders als aus der "Vogelperspektive" erfolgen kann. Was an der Arbeit Hobsbawms irritiert, sind die Schwerpunktbildung und der besondere Akzent, den seine Analysen erhalten.

Wie bei einem Marxisten nicht anders zu erwarten, legt Hobsbawm besonderes Gewicht auf die Gesellschaftsgeschichte. Er leitet aus den sozialen und ökonomischen Vorgängen keineswegs alle anderen ab - die Entwicklung von Kunst und Kultur wird relativ breit und selbständig geschildert -, aber es verschwinden hinter den anonymen Prozessen fast immer die Akteure. Obwohl das "Zeitalter der Weltkriege" in hohem Maße von einzelnen Personen bestimmt wurde, finden sich nirgends überzeugende Charakterisierungen Hitlers oder Mussolinis, Roosevelts oder Churchills. Eine Ausnahme bilden Lenin und Stalin, später noch Mao. Das hängt damit zusammen, daß Hobsbawm der Entwicklung im sowjetischen Machtbereich besondere Aufmerksamkeit zuwendet, und zum Teil beurteilt er die Vorgänge mit einem befremdlichen Wohlwollen. So, wenn er die Oktoberrevolution einerseits als Ursprung einer Modernisierungsdiktatur im agrarischen Rußland definiert und die Pläne und Vorbereitungen für eine "Weltrevolution" als notwendig betrachtet, um mit diesem Projekt überhaupt Erfolg haben zu können. Daß die Weltrevolution ausblieb, erklärt für Hobsbawm hinlänglich den Übergang zu einem terroristischen System: Seiner Meinung nach mußte die Rückständigkeit des Landes die Bolschewiki dazu "nötigen, die Wahldemokratie abzuschaffen", da sonst grundsätzlich reaktionäre Mehrheiten zustande gekommen wären. Die "notwendigerweise skrupellose und disziplinierte Armee zur Emanzipation der Menschheit" hatte zwar keinen Erfolg bei dem Versuch, ihr Endziel zu erreichen, und Hobsbawm macht aus seiner Abscheu des Stalinismus keinen Hehl, aber in globaler Perspektive erscheint ihm der Sieg des "Sozialismus in einem Land" doch segensreich, weil ohne die Oktoberrevolution die Welt (ohne die Vereinigten Staaten) "heute wahrscheinlich eher aus einer Reihe von autoritären und faschistischen Varianten als aus einem Ensemble unterschiedlicher liberaler, parlamentarischer Demokratien" bestünde.

Die eigentümliche "antifaschistische" Optik beherrscht auch sonst Hobsbawms Darstellung der Entwicklung zwischen 1914 und 1945. Die "kapitalistisch-kommunistische Allianz" gegen Deutschland, Italien und Japan deutet er nicht in erster Linie als Folge einer bestimmten politisch-militärischen Konstellation, sondern als Bündnis von "Aufklärung" und "Fortschritt" gegen Obskurantismus und "Reaktion". So realistisch er das machtpolitische Kalkül etwa bei der Beurteilung des Versailler Vertrages ins Feld führt, so gering ist seine Bereitschaft, diesen Aspekt auch in bezug auf den Zweiten Weltkrieg gelten zu lassen. Das hängt vor allem mit einer außerordentlich verkürzten Deutung dessen zusammen, was Hobsbawm "Faschismus" nennt. Er betrachtet die "Faschisten" in Deutschland und Italien zwar nicht als "Agenten" des Großkapitals, aber doch als Exponenten der "Konterrevolution", die es verstanden, durch eine geschickte "Kombination aus konservativen Werten, Techniken der Massendemokratie und der innovativen Ideologie einer irrationalen Barbarei" die desorientierten Massen zu mobilisieren, als sich in der Phase der Weltwirtschaftskrise eine Chance dazu bot. In merkwürdiger Widersprüchlichkeit billigt er dem "Faschismus" einmal das Potential zu, daß er hätte universal werden können (auch den nationalen Emanzipationsbewegungen in Afrika und Asien sei die Kombination aus Traditionalismus und einer instrumentalisierten Moderne bekannt gewesen, die Militärdiktaturen in Lateinamerika hätten zum Teil offen mit Hitler oder Mussolini sympathisiert), während er ihm andererseits jeden echten ideologischen Gehalt abspricht. Angesichts dieser wenig überzeugenden Interpretation kann es nicht überraschen, daß Hobsbawm den Molotow-Ribbentrop-Pakt für einen Verzweiflungsakt Stalins hält, um einen drohenden Ausgleich Deutschlands mit den Westmächten zu verhindern, während der Angriff auf die Sowjetunion nur als ideologisch willkommener Beutezug und die Kriegserklärung Hitlers an die Vereinigten Staaten als Ausdruck des Größenwahns erscheinen.

Hätte sich der Autor in bezug auf diese Fragen intensiver mit dem Forschungsstand auseinandergesetzt, wären möglicherweise auch einige der folgenden Verzeichnungen unnötig gewesen. Etwa die Bewertung des Ausbruchs des Kalten Krieges als Mißverständnis zwischen Ost und West. Hobsbawm betrachtet die Maßnahme der Sowjetunion jenseits des "Eisernen Vorhangs" als im Grunde rationale und angemessene Form defensiver Politik. Es seien die faktische Hegemonie der Vereinigten Staaten und deren Atomwaffenmonopol gewesen, die Moskau in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre gezwungen hätten, ihren Machtbereich in dieser Weise zu sichern. Darüber hinaus seien die Konflikte zwischen den Blöcken, auch wenn sich im Westen gelegentlich ein gefährlich "apokalyptischer" Ton in die Propaganda eingeschlichen habe, niemals wirklich auf den großen Konflikt zugesteuert.

Wesentlich überzeugender als die Ausführungen zur politischen Geschichte der Nachkriegszeit fällt die Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung in den "glücklichen dreißig Jahren" zwischen 1945 und 1975 aus, die Hobsbawm einerseits auf die allgemeine Anwendung keynesianischer Maßnahmen, andererseits auf die breite wirtschaftliche Aufbauhilfe der Vereinigten Staaten zurückführt. Und überzeugend erscheint auch die Behauptung, es habe wesentlich zum Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus beigetragen, daß dieser seit den siebziger Jahren der Versuchung nicht widerstehen konnte, seine wirtschaftliche Abschottung aufzugeben und sich dem Westen durch Kreditaufnahme und Handelsverkehr zu öffnen. Das mußte angesichts der schwächeren Leistungsfähigkeit und mangelnden Flexibilität der Kommandowirtschaft schließlich zu einem Kollaps des bis dahin isolierten ökonomischen Systems führen. Unbestreitbar richtig ist auch die Feststellung, daß der Untergang des Kommunismus nicht zwangsläufig die historische Bestätigung des westlichen Systems zur Folge haben müsse. Der wachsende demographische Druck des "Südens", die Verelendung zahlreicher Staaten der "Dritten Welt" und die ökologischen Probleme könnten - wie Hobsbawm bemerkt - durchaus dazu führen, daß sich die Perspektive im 21. Jahrhundert deutlich verändert und die alten Parolen so unverständlich erscheinen wie dem 18. Jahrhundert die konfessionellen Konflikte des 17.

Hobsbawm hat auf diesen Aspekt im Schlußteil seines Buches Bezug genommen und ist in jenen kulturkritischen Tonfall geraten, wie er bei intelligenten Marxisten jetzt häufiger registriert werden kann. Ganz ähnlich auch bei seinen Bemerkungen zur Tendenz des Wohlfahrtsstaates, sich immer stärker von seiner Basis zu entfernen und technokratisch zu werden, und seiner Auffassung, daß darauf irgendwann eine "bonapartistische" Gegenbewegung folgen werde, eine Sorge, der man auch dann zustimmen kann, wenn man sonst skeptisch bleibt gegenüber seiner Deutung unserer Zeit. KARLHEINZ WEISSMANN

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