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Hat es drei Jahrhunderte unseres Mittelalters gar nicht gegeben? Dieser aufregenden Frage geht Heribert Illig. Privatgelehrter und Publizist, auf den Grund. Kritisch und detailliert vergleicht er schriftliche Zeugnisse mit den architektonischen Befunden der Zeit und stößt dabei auf zahllose Widersprüche. Sein aufsehenerregender Schluß klingt unglaublich: Knapp 300 Jahre europäischer Geschichtsschreibung wurden nachträglich eingefügt. Karl der Große hat nie gelebt, seine Biographie ist erfunden! Selbiges gilt für mehrere Dutzend Kaiser und Päpste. Und die Jahrtausendwende ? fällt aus, denn dann befinden wir uns erst in Jahr 1703 n. Chr. ...…mehr

Produktbeschreibung
Hat es drei Jahrhunderte unseres Mittelalters gar nicht gegeben? Dieser aufregenden Frage geht Heribert Illig. Privatgelehrter und Publizist, auf den Grund. Kritisch und detailliert vergleicht er schriftliche Zeugnisse mit den architektonischen Befunden der Zeit und stößt dabei auf zahllose Widersprüche. Sein aufsehenerregender Schluß klingt unglaublich: Knapp 300 Jahre europäischer Geschichtsschreibung wurden nachträglich eingefügt. Karl der Große hat nie gelebt, seine Biographie ist erfunden! Selbiges gilt für mehrere Dutzend Kaiser und Päpste. Und die Jahrtausendwende ? fällt aus, denn dann befinden wir uns erst in Jahr 1703 n. Chr. ...

Autorenporträt
Illig, Heribert
Der 1947 in Vohenstrauß geborene, in Germanistik promovierte Friedell-Kenner und Systemanalytiker hatte im Alter von 30 Jahren erste Probleme mit der gängigen Chronologie und edierte später 30 Jahre lang die Zeitschrift Zeitsprünge für einschlägige Themen. Neben Arbeiten über Ägypten, Griechenland und die Megalithzeit erschien von ihm 1996 "Das erfundene Mittelalter", ein chronologiekritischer Fund, der ihn seitdem nicht mehr losgelassen hat und der sich in weiteren Büchern niederschlug.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Dr. Seltsam und die Zeitbombe
Heribert Illig kuriert die Chronologie / Von Matthias Grässlin

Ob es den heiligen Ludwig je gegeben habe, fragte Jacques Le Goff kürzlich in seiner großen Biographie von Frankreichs liebstem König. "Saint Louis a-t-il existé?" Das war der Stoßseufzer des Historikers in der Materialschlacht, die Pathosformel des Biographen im Papierkrieg. Und zugleich ein Liebäugeln mit der anti-biographischen Versuchung. Doch hat es der Altmeister der "Nouvelle histoire" verstanden, Maß zu halten beim Geschäft der Textkritik und Herrscherschelte. Der Mythos des heiligen Königs wurde nicht dekonstruiert, sondern nur analysiert.

Heribert Illig, ein Privatgelehrter aus München, hat sich da weniger geniert. Nach jahrelangen Forschungen über Sein und Nichtsein Karls des Großen hat sich ihm eine Arbeitshypothese zur Gewißheit verdichtet, die er jetzt in seinem Buch "Das erfundene Mittelalter" erstmals einer größeren Öffentlichkeit präsentiert. Der große Kaiser ist eine Fiktion, meint Illig, der Vater Europas wurde komplett erfunden. Und mit ihm 25 byzantinische Kaiser und 50 Päpste, nebst diversem historischem Kleingemüse. Nach Illigs Theorie wurden fast drei Jahrhunderte unseres christlichen Kalenders gefälscht: Sie bilden eine leere Zeit, die von einigen Hoheitsträgern und Schreibtischtätern mit imaginärem Inhalt gefüllt wurde. Er grenzt diesen Zeitraum ein auf die Jahre 614 bis 911 nach Christus.

Mit dem großen Karl verschwinden nicht nur dessen Kontrahenten Tassilo III., Widukind und Harun al-Rashid von der Bildfläche, sondern auch das Ahnenerbe der Vorfahren und Nachkommen, um das sich die genealogische Forschung so eifrig bemüht hat. Die totale Familie der Merowinger wird halbiert, kann aber jetzt ihr Gesicht wahren: Dagobert II. muß 656 nicht mehr kahlgeschoren in ein kaltes Inselkloster. Die schrecklich netten Karolinger werden dezimiert; ihre Geschichte beginnt, wenig ruhmlos, mit Karl dem Einfältigen (929).

Für seinesgleichen, für die schreibende Zunft, sieht Illig allerdings einen Sozialplan vor. Beda den Ehrwürdigen, Johannes Scotus Eriugena und den Karlsbiographen Einhard verfrachtet er ins zwölfte Jahrhundert. Phantastische Aussichten: Der eine könnte dort zwischen Abaelard und Bernhard schlichten, der andere mit Hildegard über "das dritte Geschlecht" diskutieren und der dritte vielleicht den Anonymus von York oder die Dichterin des Nibelungenlieds enttarnen. Auch an den Schnittstellen "614" und "911" stiftet Illigs Kalenderreform überraschende Begegnungen: Isidor von Sevilla wird Araber, Abt Kolumban könnte die Wikinger christianisieren und sein Schüler Gallus ottonische Reichsbischöfe ärgern. Immerhin.

Wie kommt Illig darauf, drei Jahrhunderte ersatzlos zu streichen? Sein wichtigstes Verdachtsmoment ist die gregorianische Kalenderreform: Als Gregor XIII. 1582 den julianischen Kalender reformierte, um die Menschenzeit wieder der Sonnenzeit anzupassen, vertat er sich um drei Tage. Die Spezialisten kennen das Problem und argumentieren, der Papst habe nicht bis zu Caesar zurückrechnen wollen, sondern nur bis zum Konzil von Nicäa im Jahre 325. Illig macht die umgekehrte Rechnung auf: Die drei Tage entsprächen ebenjenen drei Jahrhunderten, welche sich - fälschlicherweise oder fälschenderweise - auf der Zeitskala eingeschoben hätten. Er unterstellt also, bereits Gregor XIII. habe die Zeitfälschung bemerkt. Eine passable Romanidee, nur ist sie historisch wertlos: Sie basiert auf keinerlei Dokumenten.

Auch Illigs bau- und kunstgeschichtliche Argumente wirken zunächst evident und anschaulich, münden aber stets in Milchmädchenrechnungen. Die Aachener Pfalzkapelle, das Weltwunder Karls des Großen und angeblich erbaut um 800, muß als Exempel herhalten: Mit Kennerblick werden hier 24 technisch-stilistische "Anachronismen" entdeckt, bienenfleißig aufgelistet und mit antiken oder romanischen Bauten verglichen. Dann wird gerechnet, und schon spuckt der Taschenrechner eine Neudatierung aus: Salierzeit, zweite Hälfte des elften Jahrhunderts. Und Texte, welche dieses Datum eventuell stützen könnten? Fehlanzeige: Illigs Kunstkalkulator (den er sich patentieren lassen sollte!) kann zwar die Grundrechenarten, aber kein Latein.

Auch die allgemeine kultur- und sozialgeschichtliche "Quellenlage" durchforstet Illig mit mathematischem Verstand. Seine Methode basiert letztlich auf einer breit angelegten Rasterfahndung nach "Anachronismen". Da ihm allerdings die Regeln der methodischen Quellenkritik unvertraut sind, beschränkt er sich entweder auf sehr allgemeine Argumente oder auf punktuelle Beobachtungen, die vor allem das Gebiet der Mathematik oder Astronomie betreffen. Daß etwa Beda Venerabilis (673-735) mit der Ziffer "Null" rechnet, die im siebten Jahrhundert in Indien von einem buddhistischen Mönch erfunden wird und erst im Laufe des elften Jahrhunderts ins Abendland gelangt, ist originell gesehen, kann aber die Authentizität Bedas allein kaum anfechten. Es könnte als Parallelerfindung gedeutet werden - warum soll ein englischer Benediktiner dümmer sein als ein indischer Buddhist?

Es ist dieser Mangel an historischer Phantasie, der Illigs fixe Idee einer gefälschten Phantomzeit überhaupt erst aufkommen ließ. Wie er selbst einleitend erläutert, war der Ausgangspunkt seiner Forschungen der von Horst Fuhrmann 1986 kreierte Begriff "antizipatorischer Fälschungen": daß die berühmtesten päpstlichen Fälschungen des frühen Mittelalters - die Silvesterlegende mit Konstantinischer Schenkung, Symmachianische Fälschung, Pseudo-Clemens-Briefe und Pseudo-Isidor - "zur Zeit ihrer Entstehung kaum gewirkt haben", sondern erst im Investiturstreit des elften Jahrhunderts legitimatorisch voll ausgewertet werden, erscheint ihm schlechthin unverständlich und Indiz für die Kreation einer Phantomzeit, in der diese Texte dann plaziert wurden. Daß die Erfindung einer Sache und ihre Anwendung, daß Genese und Geltung in geschichtlichen Abläufen oft weit voneinander getrennt sein können, erklärt Illig zum Ding der Unmöglichkeit, und nach diesem unmöglichen Flugobjekt wird dann gefahndet. Illigs Theorie der Phantomzeit ist eine Art umgekehrter Ufologie: Sie läßt nichts Unmögliches wahr werden, sondern Mögliches falsch. Beide sind Produkte einer petitio principii: Die eine meint, im Universum müsse es so zugehen wie auf der Erde, die andere verwechselt Geschichte mit Logik.

Nach diesem Muster der logischen Realitätsleugnung ist es ein leichtes, die gesamte Zivilisation der Karolingerzeit zum Unding zu erklären. Das Nebeneinander von Natural- und Geldwirtschaft, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von Bürokratie und Barbarei - alle komplexen Realitäten dieser Übergangsgesellschaft, welche die Historiker in geduldigem Studium der Quellen zu rekonstruieren suchen, erklärt Illig pauschal für historisch unmöglich. Der Strukturgeschichte aber macht Illig ein merkwürdiges Angebot. Akzeptiert ihr meine Theorie der "Zeitfälschung", so verspricht er, dann wäre ein halbes Dutzend eurer "Forschungsprobleme" hinfällig. Nicht nur die Datierungsspiele der Kunsthistoriker, sondern auch die seit Alfons Dopsch und Henri Pirenne diskutierte Frage der Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter wären mit einem Schlag erledigt. Wann im Abendland die antike Sklaverei oder die Umgangssprache Latein verschwindet, wie man sich den Übergang von römischer civitas zu mittelalterlicher "Stadt" und "Burg" vorzustellen hat, wie das Nebeneinander von Natural- und Geldwirtschaft, die Vorgänge der Christianisierung, die Struktur des frühmittelalterlichen Adels, die "karolingische Renaissance", die Anfänge von Feudalgesellschaft beziehungsweise Rittertum - alle diese Fragen hätten sich verflüchtigt wie ein böser Traum.

Freilich sind in der Historie die einfachsten Erklärungen meistens die schlechtesten. Die mathematische Historik, die Illig entwirft, ist originell, aber fehl am Platze; ihre theoretischen Voraussetzungen sind der geschichtlichen Wirklichkeit nicht angemessen. Der Autor setzt eine Logik der Zeit voraus, in der eigentlich alles fehlt, was in der Geschichte zählt: Anachronismen, Operationen mit mehreren Unbekannten, Ungleichungen, Ungleichzeitigkeit, Unwahrscheinlichkeit, Unschärferelationen, Widersprüche. Um vor den Augen Heribert Illigs Gnade zu finden, müßte der Karolingerzeit alles Menschliche fremd sein. Wäre sie ohne Ereignisse, Chaos oder komplexe Strukturen, dann könnte er wieder mit ihr rechnen. Vorher aber nicht. Mit dieser Methode läßt sich die gesamte Weltgeschichte ausradieren.

Man hätte Illig dies alles durchgehen lassen, wäre es ihm am Ende gelungen, was Mythomanen normalerweise nicht schwerfällt: eine plausible Geschichte zu erzählen. Doch wer wissen will, wie denn nun dieser Einbruch einer imaginären in die echte Zeit vonstatten ging und wer die Fälscher waren, die eine ganze Epoche mit Kaiser Karl, Sohn Ludwig, Großvater Martell sowie Splittermengen anderer Jahrhunderte füllten, muß sich mit abstrusen Andeutungen begnügen. "Ist die nun zu streichende Zeit", fragt unser Autor, "zufällig oder absichtlich in die Geschichtsbücher hineingeraten?". Das wird wohl definitiv erst in den nächsten Wochen entschieden. Einstweilen lanciert er einige "Arbeitshypothesen", antizipatorisch sozusagen. Der Sachsenherrscher Otto III. (980-1002) steht auf der Berufungsliste ganz oben: Der Romantiker auf dem Kaiserthron könnte Karl erfunden haben, "um zur Jahrtausendwende als Endzeitkaiser aufzutreten"; mit von der Partie ist vielleicht auch Heinrich IV., der vermutliche Bauherr der Aachener Pfalzkapelle; die Mönche von St-Denis ebenfalls, war doch ihr "Abt Suger ein kühl kalkulierender Geschichtsfälscher par excellence, der in Deutschland ebenso emsige Karlsfälscher wie Friedrich Barbarossa auf den Plan rief". Der große Karl als deutsch-französisches Spaltprodukt? Warum nicht? Das ist zumindest gut geraten.

Was eigentlich erwartet sich Illig von seinem Angriff auf die Karlslegende? Glaubt er auf diese Weise, gleichsam im großen Zeitsprung, den langen Marsch des wissenschaftlichen Genies zu vermeiden, den Egon Friedell einst beschwor: "vom Kasperl ins Seminar"? Letztlich bleibt der Sinn seines bizarren Forschungsberichtes rätselhaft. Umschreiben der Geschichte? Doch umgeschrieben wird hier wenig. Statt dessen werden viele Datenmengen gelöscht und einige ziemlich wahllos neu adressiert. Bevor Heribert Illig kam, war das frühere Mittelalter ein lückenhafter, aber lesbarer Text. Traktiert mit seiner Methode, wächst dort kein Gras mehr, und die Epoche wird unlesbar. "Nimm die Zahl", sagte Isidor von Sevilla, "und alles stürzt zusammen." Aber Papier ist geduldig. Zum Glück.

Heribert Illig: "Das erfundene Mittelalter". Die größte Zeitfälschung der Geschichte. Econ Verlag, Düsseldorf 1996. 431 S., Abb., geb., 42,- DM.

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