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Brillant geschriebenes und nobelpreisgekröntes Hauptwerk Bergsons, das weit über die Lebensphilosophie hinaus auf die Literatur und Ästhetik der Folgezeit wirkte und auf Autoren wie Proust, Gide, T. S. Eliot und Musil großen Einfluß ausübte. Mit seinem epochemachenden zweiten Hauptwerk »L'évolution créatrice«, für das er 1927 den Nobelpreis für Literatur erhielt, greift Bergson unmittelbar in die Diskussion über zeitgenössische Evolutionstheorien ein, die die Biologie um die Jahrhundertwende beherrschten. Gegenüber mechanistischen Konzepten wie dem Neo-Darwinismus, die er - mit großer…mehr

Produktbeschreibung
Brillant geschriebenes und nobelpreisgekröntes Hauptwerk Bergsons, das weit über die Lebensphilosophie hinaus auf die Literatur und Ästhetik der Folgezeit wirkte und auf Autoren wie Proust, Gide, T. S. Eliot und Musil großen Einfluß ausübte. Mit seinem epochemachenden zweiten Hauptwerk »L'évolution créatrice«, für das er 1927 den Nobelpreis für Literatur erhielt, greift Bergson unmittelbar in die Diskussion über zeitgenössische Evolutionstheorien ein, die die Biologie um die Jahrhundertwende beherrschten. Gegenüber mechanistischen Konzepten wie dem Neo-Darwinismus, die er - mit großer Sachkenntnis im Detail - als unzureichend für das Verständnis der Komplexität evolutionärer Prozesse kritisiert, versucht Bergson für die Philosophie die Deutungshoheit über den Lebensbegriff zurückzugewinnen. Die Grundfrage des Werks lautet: Gibt es etwas, das alle Lebewesen in ihrer Entwicklung gemeinsam haben und das insofern ein bestimmendes Merkmal des Lebens selbst ist? Bergson findet die Antwort im titelgebenden Begriff der »schöpferischen Evolution«. Nicht nur ist die Evolution als schöpferisch zu denken, sondern zugleich der schöpferische Akt als »evolutiv«. Als treibende Kraft und Ursache aller Veränderungen macht Bergson dabei den ursprünglichen »élan vital« (Lebensimpuls) aus, der zu einem Zentralbegriff seiner Philosophie wurde. Die Kritik am Szientismus seiner Zeit führt Bergson darüber hinaus zu einem neuen Zugang zur Lebenswirklichkeit, den er in der (methodisch präzise bestimmten) »Intuition« entdeckt. So wird die Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie zugleich zu einer großangelegten Neubestimmung der philosophischen Methode. L'évolution créatrice wurde 1912 von Gertrud Kantorowicz zum ersten Mal ins Deutsche übertragen. Ihre in Sprache und Terminologie stark vom George-Kreis geprägte Übersetzung wurde für diese Neuausgabe vollständig überarbeitet und enthält jetzt auch die in der ersten deutschen Ausgabe fehlenden Anmerkungen und Nachweise Bergsons.
Autorenporträt
Henri Bergson wird 1859 in Paris geboren. Nach seiner Ausbildung an der Ècole Normale Supérieure ist er zunächst 16 Jahre als Gymnasiallehrer beschäftigt, kann sich aber gleichzeitig seinen wissenschaftlichen Interessen widmen.
Als Vertreter der Lebensphilosophie setzt Bergson den positivistischen und szientistischen Strömungen seiner Zeit eine Neubegründung der Metaphysik entgegen. Die Lebenskraft (élan vital) ist seiner Anschauung nach das movens der Entwicklung des Lebendigen, weswegen der Raum zwar analytisch erfaßt werden könne, die Zeit jedoch als ein inhomogener Zustand ein qualitatives Phänomen sei. In Materie und Geist (1896) tritt dann die Problematik der freien Handlung im Zusammenwirken von Körper und Geist in den Vordergrund. 1889 legt Bergson seine Dissertation Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen ( Zeit und Freiheit) an der Sorbonne vor, erhält schließlich 1900 einen Ruf an das Collège de France und wird 1914 in die Académie Francaise aufgenommen.
Die schöpferische Entwicklung erscheint 1907 und erreicht innerhalb von 10 Jahren 21 Auflagen. Hier entwickelt Bergson eine Ontolgie, die um den Zentralbegriff des "élan vital" aufgebaut ist und die er den Evolutionstheorien Darwins entgegensetzt. Auf Grund der herausragenden literarischen Qualität seiner Schriften erhält er 1927 den Nobelpreis für Literatur.
Bergson stirbt 1941 an den Folgen einer Lungenentzündung.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2013

Die Bewegung
des Lebens
Lektüre für heute: „Schöpferische Evolution“,
das Hauptwerk des Philosophen Henri Bergson
VON RALF KONERSMANN
In seinen Überlegungen zur Funktion und zum Aufbau der Sprache weist Sokrates bei Platon darauf hin, dass das griechische Wort für „Wissen“ ein Innehalten zum Ausdruck bringt. „Epistéme“ ist die Aufforderung an die Seele, bei den Dingen stehen zu bleiben und sich nicht mit ihnen umherzubewegen. Etymologisch gesehen beginnt das Wissen also mit einem gezielten Bruch, der es uns ermöglicht, die fließende und verwirrende Wirklichkeit in die stehende und klare Ordnung der Ideen zu übertragen.
  Das Werk des französischen Philosophen Henri Bergson, der 1941 in Paris starb, lässt sich als eine einzige Gegenrede gegen diese klassische Gedankenfigur des philosophischen Idealismus lesen. Während Platon im „Kratylos“ für ein Wissen wirbt, dessen Geltungsanspruch auf Festigkeit beruht, öffnet Bergson das Denken der Bewegung in der Zeit, oder genauer: Er weigert sich, das Denken überhaupt von der strömenden Wirklichkeit abzukoppeln. In seinen Augen erscheint der Idealismus, einschließlich seiner modernen Varianten, als mutwillige Entstellung, die das Bild der Wirklichkeit unnötig verkompliziert und sich die notorischen Probleme der Erkenntnis, an denen sie sich mühsam abarbeitet, zuvor selbst bereitet hat.
  Aus heutiger Sicht ist kaum noch nachvollziehbar, welches Gewicht die Stimme Bergsons zu Lebzeiten besaß. In Deutschland ist es neben Max Scheler, Edmund Husserl und Ernst Robert Curtius vor allem Georg Simmel gewesen, der sich für Bergson eingesetzt und sein Denken bekannt gemacht hat. Auf die erste deutsche Übersetzung der „Évolution créatrice“, die vor 100 Jahren bei Eugen Diederichs in Jena erschien, hat Simmel vielfältig Einfluss genommen. Die Gemeinsamkeit der beiden Philosophen reicht aber noch weiter. Nach anfänglicher Begeisterung sackte in beiden Fällen die Aufmerksamkeit der Kollegenschaft dramatisch ab, und erst in jüngster Zeit beginnt man sich erneut auf ihre Originalität zu besinnen.
  Die vorliegende Neuübersetzung ist Ausdruck dieses Wandels und bietet alles, was nötig ist, um ihn zu verstärken. Während die alte Übersetzung der „Schöpferischen Evolution“ in eleganten, aber gelegentlich unscharfen Linien ein imposantes Gedankengemälde schuf, überträgt nun Margarethe Drewsen den Text in eine betont sachliche und historisch versierte Prosa. Das Ergebnis ist durchweg überzeugend. Hier ist das Mögliche getan worden, um dem deutschsprachigen Publikum das Denken Bergsons aufs Neue nahezubringen.
  Wie alle Philosophen seiner Zeit, die den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens stellten, ist auch Bergson mit dem Vorwurf des Irrationalismus konfrontiert gewesen. Wer die Neuübersetzung zur Hand nimmt, sucht vergebens nach Anhaltspunkten, die diese Stimmen rechtfertigen würden. Allerdings wird nachvollziehbar, wie das Urteil des Irrationalismus, das zu den hartnäckigsten Klischees der jüngeren Ideengeschichte gehört, überhaupt hat entstehen können. Bergsons Ansinnen ist radikal: Im Sinne eines Paradigmenwechsels möchte er die überlieferte und bislang maßgebliche Gedankenordnung des Herstellens und Machens der Gedankenordnung des Wachsens und Bildens unterstellen. Wachsen, so die Ultrakurzformel seiner Kritik, ist etwas anderes als Herstellen.
Bergson spricht dezidiert als Philosoph. Die Philosophie müsse über die Wissenschaft hinausgehen, sagt er, müsse sie erweitern und über sich selbst ins Bild setzen. Der Erfolg der wissenschaftlichen Weltbeschreibung soll damit keineswegs in Abrede gestellt werden, im Gegenteil. In den Augen Bergsons nutzt die Wissenschaft mit großem Geschick gewisse Eigenschaften der Dinge, um sich hernach durch die Erfahrung bestätigt zu fühlen, dass ihre Methoden funktionieren, und es ihr erlauben, beliebige Ziele zu erreichen.
  Der Philosophie allerdings genügt der Beweis, der im Erfolg liegt, nicht. Sie widerspricht den Voraussetzungen der wissenschaftlichen Praxis sowie der Tendenz, ihre Methoden wahllos zu verallgemeinern. Ohne wissenschaftsfeindliche Nebentöne anzuschlagen, gibt Bergson zu bedenken, dass diese Praxis die Fragen des Sinns und der Bedeutung aus methodologischen Gründen beiseitelassen muss. Die Wissenschaft bezahlt die Maßlosigkeit ihres Verfügbarkeitsversprechens mit dem Bild des Menschen, der in der von ihm selbst geschaffenen Welt zum Fremdling geworden ist. Rémi Brague, der zu der vorliegenden Neuausgabe ein bündiges Begleitwort beigesteuert hat, spricht von der „gnostischen Versuchung“. Der im 20. Jahrhundert so wortmächtig beschriebene Eindruck der Geworfenheit beruht nicht etwa auf einer Verkennung des wissenschaftlichen Weltbildes, sondern ist von ihm selbst herausgefordert.
  Bergsons Äußerungen verstehen sich als rettende Kritik, deren befreiendes Potenzial eine Reihe neuer oder neu verstandener Begriffe entfalten soll. Die Dauer – la durée – ist, neben dem berühmten Élan vital , das zentrale Element dieses philosophischen Entwurfs. Anders als die umgangssprachliche Bedeutung des Wortes meint Bergsons Dauer nicht Beharrlichkeit, sondern Kontinuität im Wandel: jene „flüssige Realität“, die zu beschreiben die Philosophie aufgerufen sei. Der Anspruch ist, den aus der idealistischen Tradition in das wissenschaftliche Weltbild übernommenen Gegensatz von Solidität und Liquidität, von Sein und Werden, nicht einfach umzukehren, sondern überhaupt zu überwinden und zu einem neuen Weltverstehen zu finden.
  Es ist leicht zu sehen, wie umfassend Bergson der Wissenschaftsphilosophie und speziell der in jüngster Zeit erstarkten Naturphilosophie vorgearbeitet hat. Ohne den Begriff zu verwenden, ist er ein ökologischer Denker gewesen. Weniger offensichtlich ist seine theologische Ambition. Dem geduldigen Leser tritt sie zwischen den Zeilen entgegen – dort etwa, wo Bergson den ursprünglichen Elan von einem dauernden „Absoluten“ getragen sieht, das nichts anderes sei als das bewegte Leben selbst.
Henri Bergson: Schöpferische Evolution. Aus dem Französischen von Margarethe Drewsen. Mit einer Einleitung von Rémi Brague. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. 428 Seiten, 68 Euro.
Für „L’évolution créatrice“
erhielt Bergson 1927 den
Literaturnobelpreis
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Manfred Sommer freut sich über die gelungene Neuübersetzung von Henry Bergsons erstmals 1907 erschienenen Buch, das ihn zu so komplizierten Fragen wie der nach dem Wesen reiner Zeit führt. Und darüber hinaus. Denn Bergson, erkennt Sommer, ist hier genau argumentierender Philosoph und literarischer Formenmeister in einer Person. Dem eigentlich Unsagbaren kommt der Autor auf die Weise nahe, dank der liebevollen Übersetzung von Margarethe Drewsen sogar recht nahe, findet der Rezensent. Dies wiederum bedeutet laut Sommer, dass mit diesem Band schlimmste theologische Befürchtungen wahr werden: Die Evolution ist Schöpferin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2013

Zuinnerst sind wir reine Zeit

Ein Philosoph, der unglücklicherweise auch den Literatur-Nobelpreis bekam: Henri Bergsons "L'évolution créatrice" in einer exzellenten neuen Übersetzung.

Drei Dinge sind es, mit denen gründlich aufgeräumt zu haben die Philosophie sich seit langem sicher wähnt. Dass es etwas Gegebenes gäbe, ist ein alteuropäischer Mythos; die unmittelbare Präsenz der "Sachen selbst" ist eine Illusion sprachvergessener Hinterwäldler; das reine Bewusstsein haust bloß als Gespenst in einer Maschine. Wollte man sich, aus Trotz, ein philosophisches Buch von größter Sperrigkeit ausdenken, so müsste man alle drei Nichtigkeiten in dem Titel bündeln: "Über die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins". Für die Erwachsenen wäre es ein Märchenbuch, das staunenden Kindern von Dingen erzählt, die es nicht gibt. Just dieses Buch hat Henri Bergson geschrieben, allerdings schon im Jahre 1888. Sein "Essai sur les données immédiates de la conscience" ist 1911 auch auf Deutsch erschienen. Dann freilich unter dem Titel "Zeit und Freiheit".

Buchtitel sind Theoriewappen. "Zeit und Freiheit" ist vom französischen Original ganz weit weg. Der Sache nach aber ist dieser deutsche Titel sehr genau, und er lässt erkennen, dass dieses frühe Werk Bergsons bereits den gedanklichen Grundriss enthält für "L'évolution créatrice" von 1907, das nun als "Schöpferische Evolution" in neuer deutscher Übersetzung vorliegt. Bleiben wir zunächst bei dem vermeintlichen Mythen- und Märchenbuch aus dem 19. Jahrhundert. Es geht um das rechte Verständnis der Zeit und deren Bedeutung für das Verständnis von Freiheit. Die wahre Zeit ist für Bergson die lebendige Zeit des bewegten Bewusstseins. Die äußere Zeit hingegen ist von Raumvorstellungen durchformt. In ihr gibt es Zeitpunkte und Zeitstrecken, die wir zählen und messen können. Diese Zeit bildet zusammen mit dem Raum die Welt der objektiven Ursachen und Wirkungen, in der sich berechnen lässt, was kommen wird, auch die Welt der praktischen Mittel und Zwecke, in der vieles sich wiederholt und Routine sich ausbildet. Für den versierten Umgang mit dem, was uns umgibt, sind Intellekt und Sprache die geeigneten Instrumente - aber auch nur dafür.

Aber was ist mit uns selbst? Wir sind - neben allem, was wir wissen und können - zuinnerst reine Zeit. Was ist sie? Als reine ist sie bar aller Räumlichkeit, und deshalb ist sie dem Intellekt nicht fassbar, für ihn und uns verloren. Grundfalsch, sie sich als Linie vorzustellen. Sie ist weder eines noch vieles, hat keine Teile und bildet kein Ganzes, kennt keine Ursachen und keine Wirkungen. In ihr und durch sie ist alles immer neu und einmalig. Freiheit ist die der inneren Zeit eigene Bewegtheit, die inkommensurabel ist mit dem, was in der äußeren Raum-Zeit-Welt geschieht. Sich auf diese objektive Welt zu beziehen macht Determinismus und Indeterminismus gleichermaßen zu Theorien, die das Thema Freiheit verfehlen müssen.

All diese Überlegungen nimmt Bergson in seine neue "Schöpferischen Evolution" mit hinein, gibt ihnen aber zusätzlich eine Wendung ins Universale. Aus "Zeit und Freiheit" im Kleinen wird nun im Großen "Evolution und Schöpfung". Der Storchenschnabel für diese Ausweitung ist Ernst Haeckels biogenetisches Grundgesetz: Die Entwicklung des individuellen Organismus gilt als eine kurze Rekapitulation der Stammesentwicklung. Und August Weismanns Konzept der "Kontinuität des Keimplasmas" integriert alles Leben in einen Lebenszusammenhang. Evolution läuft für Bergson nicht nach dem mechanischen Schema von Mutation und Selektion. Vielmehr ist es ein und dieselbe Dynamik der reinen Zeit, die mein Leben, unser Leben und das Leben insgesamt trägt und immer neues, nie dagewesenes und unausdenkbares Leben hervorbringt. Natürlich holt sich Bergson mit dem Leben im Großformat auch das seit Spinoza, ja seit Plotin bekannte Folgeproblem ins Haus, wie sich denn nun das einzelne Leben im Gesamtleben und aus ihm heraus individuiert.

Also noch ein Mythen- und Märchenbuch? Beileibe nicht. Bergson ist ein sorgfältig und genau argumentierender Philosoph. Aber er führt die Argumentation auch zu den Stellen hin, an denen zu merken ist, dass es, wenn überhaupt, dann nur anders weitergehen kann. Was reine Zeit ist, kann unser weltläufiger Intellekt nicht begreifen, und wenn er es könnte, hätten wir keine Sprache, es auszudrücken und mitzuteilen. Doch philosophische Einsichten sind eben nicht allein im Austausch von Argumenten zu erlangen. Meditation und Kontemplation, Intuition und Interpretation - auch alter Mythen und Märchen - sind nicht minder sinnvolle Weisen des Philosophierens. Wo jedoch die versierte Begriffsanalyse selbstsicher voranschreitet und das routinierte Diskussionsgeschäft blüht, stößt ein Denker wie Bergson unausweichlich auf das, was Jürgen Habermas einst "das methodisch geübte Kannitverstan" genannt hat.

Obgleich unsere normale Sprache auf welthafte Objekte zugeschnitten ist, kommen uns, so von Zeit und Leben und Kreativität die Rede sein soll, literarische Formen des Sprechens zu Hilfe. Auch für sie gibt es Maßstäbe, die uns Angemessenheit von Sachferne, Aufschlusskraft von Irreführung unterscheiden lassen. Bergson war ein Meister in der schwierigen Kunst, mit solchen Mitteln über das, worüber man nicht reden kann, dennoch nicht zu schweigen. Dann hatte er jedoch das Pech, für seine eindringliche Suche nach der verlorenen Zeit 1927 den Nobelpreis für Literatur zu erhalten. Besser kann der Ruf eines Philosophen nicht ruiniert werden.

Die Übersetzung des Buches wird seinem literarischen Rang gerecht; sie ist geradezu liebevoll. Margarethe Drewsen mag ihren Autor und führt mit zurückhaltender Eleganz den Leser so, wie Bergson ihn geführt wissen will. Verlag und Übersetzerin haben überdies gut daran getan, den deutschen Titel von 1912 "Schöpferische Entwicklung" durch "Schöpferische Evolution" zu ersetzen. "Entwicklung" kann eben auch die Übersetzung von développement sein.

Eine solche Entfaltung oder Auswickelung von implizit schon Vorgegebenem ist aber nicht nur nicht gemeint, sondern gerade das Gegenteil dessen, was Bergson der Evolution zutraut: immer gänzlich Neues hervorzubringen. Hätte man aber des Guten nicht noch mehr tun können? Bergsons Titel "L'évolution créatrice" muss nicht, kann aber und sollte wohl auch wortwörtlich gelesen werden: "Die Evolution Schöpferin". Es gibt die Evolution, und sie ist die Schöpferin von allem. Das ist die These des Buches. Bergson hat eigens darauf geachtet, dass auf dem Titelblatt und selbst auf dem Buchrücken das CRÉATRICE doppelt so groß gesetzt wird wie das scheinbar wichtigere "L'évolution". Die Créatrice aber ist die Rivalin des Créateur. Weshalb also nicht "Die Schöpferin Evolution"?

Im Vatikan gab es kluge Köpfe, die genau gesehen haben, was da los ist. Sie setzten das Werk 1914 auf den Index der verbotenen Bücher. Denn es ist die Bestätigung der ehemals schlimmsten theologischen Befürchtungen. Dass die Evolutionstheorie des Teufels ist, wusste man schon; jetzt aber, wo die Evolution selbst sich dreist an die Stelle des Schöpfergottes setzt, wurde das vollends offenkundig.Veni Creator Spiritus, "Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein!", kann nicht mehr gesungen werden, wenn er längst da ist - und wir selbst es sind. Da zudem das grammatische Geschlecht der Evolution die Schöpferin fordert, könnte der Titel bereits vor hundert Jahren an ein Thema gerührt haben, das wir heute mit dem feministischen Uralt-Spruch verbinden: "Als Gott den Mann schuf, übte sie nur." Es ist nicht einmal auszuschließen, dass auch damals schon in Paris gedacht wurde: "Warum denn nicht?" in Rom aber: "Auch das noch!"

MANFRED SOMMER

Henri Bergson: "Schöpferische Evolution".

Aus dem Französischen von Margarethe Drewsen. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. 428 S., geb., 68,- [Euro].

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Henri Bergsons Schöpferische Evolution sei geradezu liebevoll übersetzt, schreibt Manfred Sommer und attestiert Margarete Drewsen, sie folge ganz dem Bergsonschen Denken.
Frankfurter Allgemeine 28.11.2013