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In diesem prächtig ausgestatteten zweisprachigen Band sind erstmals sämtliche Songtexte enthalten, die Bob Dylan zwischen 1962 und 2001 geschrieben hat, kongenial und originalgetreu ins Deutsche übertragen von dem Schriftsteller und Bob-Dylan-Fan Gisbert Haefs, der sich auch als Übersetzer und Herausgeber der Werkausgaben von Jorge Luis Borges, Rudyard Kipling, Georges Brassens u.a. einen Namen gemacht hat.
Lyrics 1962 - 2001 machen es einmal mehr deutlich: Bob Dylan hat nicht nur die letzten vierzig Jahre Musikgeschichte wie kaum ein anderer geprägt, sondern ist ebenso einer der großen und
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Produktbeschreibung
In diesem prächtig ausgestatteten zweisprachigen Band sind erstmals sämtliche Songtexte enthalten, die Bob Dylan zwischen 1962 und 2001 geschrieben hat, kongenial und originalgetreu ins Deutsche übertragen von dem Schriftsteller und Bob-Dylan-Fan Gisbert Haefs, der sich auch als Übersetzer und Herausgeber der Werkausgaben von Jorge Luis Borges, Rudyard Kipling, Georges Brassens u.a. einen Namen gemacht hat.

Lyrics 1962 - 2001 machen es einmal mehr deutlich: Bob Dylan hat nicht nur die letzten vierzig Jahre Musikgeschichte wie kaum ein anderer geprägt, sondern ist ebenso einer der großen und einflussreichsten Lyriker unserer Zeit, der mehrmals von Allen Ginsberg offiziell für den Literaturnobelpreis nominiert wurde. Seine Kollegen sind sich einig über die Bedeutung seines uvres: Bob befreite den Geist auf dieselbe Art, wie Elvis den Körper befreit hat. (Bruce Springsteen) - Bob Dylan ist ein Planet, den es zu entdecken gilt. (Tom Waits) - Außer Blues hatte mich nie etwas interessiert, bis ich Bob Dylan hörte. (Eric Clapton) - Und selbst der (ehemalige) Präsident der Vereinigten Staaten muss offen bekennen: Bob Dylan hatte wahrscheinlich mehr Einfluss auf die Menschen meiner Generation als jeder andere Künstler. (Bill Clinton)

Vierzig Jahre lang - das entspricht rund dreißig Alben mit neuen Songs - hat sich Bob Dylan immer wieder den Moden und Etikettierungen entzogen. Er spielte Folk, als die geistesverwandten Beatniks nur Modern Jazz und Bebop gelten ließen, stieß die Folk-Gemeinde vor den Kopf, als er mit einer RocknRoll-Band auf Tour ging. Er verspottete die Spießer mit Ballad of a Thin Man, düpierte die Hippies, als er mit dem seinerzeit als reaktionär verschrienen Johnny Cash 1969 auf Nashville Skyline duettierte und verblüffte die Fans mit seiner plötzlichen Hinwendung zum Christentum. Bob Dylan, der im London der Swingin Sixties selbst von Ikonen wie den Beatles und den Rolling Stones wie ein Gott (Marianne Faithfull) verehrt wurde, hat alle Erwartungshaltungen schon 1965 treffend kommentiert: You dont need a weatherman to know which way the wind blows.

Autorenporträt
Dylan, Bob§Bob Dylan, geboren 1941 in Minnesota, wurde mit seinen Schallplatten und Konzerten, seinen Filmen und Büchern zu einem der einflussreichsten amerikanischen Künstler der Gegenwart. 2016 erhielt er für seine Songpoesie den Literaturnobelpreis.

Haefs, Gisbert§Gisbert Haefs, geboren 1950 in Wachtendonk am Niederrhein, lebt und arbeitet als Schriftsteller und Übersetzer in Bonn. Er ist Autor zahlreicher Kriminalromane und historischer Romane. Neben Bob Dylan übersetzte er u.a. Werke von Ambrose Bierce, Georges Brassens, Arthur Conan Doyle.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2004

Hierher kommt der Teufel, um zu seufzen
Visionär der Sünde: Bob Dylans Bildungsroman und seine Songs / Von Heinrich Detering

Die Geschichte beginnt mit einer Autofahrt durch das winterliche New York 1961, zum Restaurant des Ex-Boxers Jack Dempsey, der dem Ich-Erzähler wenig Talent für eine Boxkarriere bescheinigt. Dieser namenlose Junge aus einem weltfernen "north country fair" vagabundiert durch die Metropole wie ein urbaner Huckleberry Finn, halb Unschuldslamm, halb Picaro, ohne festen Wohnsitz und mit stabilem Selbstvertrauen. Er spielt Mundharmonika in obskuren Clubs in Greenwich Village und singt die Songs der amerikanischen Traditionen, Folksongs, Country-Balladen, Bluesnummern, die irgendwie schon immer seine Atemluft waren. Er gewinnt lokalen Ruhm als wanderndes Song-Lexikon, als lebendes Archiv einer romantischen Popularkultur. Gelegentlich ertönen aus dieses Knaben Wunderhorn auch eigene Songs, frei improvisiert aus den Traditionsbeständen, Diebstahl aus Liebe, "love and theft". Und irgendwann findet sich der Hobo dann auch in kleinen Aufnahmestudios wieder.

Die uneitle Selbstdistanz, die die amerikanischen Rezensenten an Bob Dylans "Chronicles" überrascht hat, ergibt sich schon daraus, daß dieser Erzähler sich vom ersten Kapitel an durch eine Welt trudeln läßt, in der er ganz Auge und ganz Ohr ist. Dazu gehört auch die Chuzpe, mit der er stets haarscharf an den Ereignissen vorbeierzählt, auf deren Enthüllung seine Fans so dringend gewartet haben. Nichts also über die Revolution der Rockmusik, kaum ein Wort über die wichtigsten Alben, nichts von der Ehescheidung, nichts von Jesus. Gerade so aber entsteht hier ein plastisches Selbstporträt aus schrägen Perspektiven.

Unter der scheinbaren Spontaneität dieser autobiographischen Geschichten verbirgt sich ein Kunstbewußtsein, dessen Raffinesse der Leser nie ganz auf die Schliche kommt. Schon der Titel kann nur ironisch gelesen werden - Dylans zeitraffendes und zeitdehnendes Erzählen unternimmt einige Anstrengungen, alle Chronologie aufzuheben. Mit Techniken, wie er sie in seinen Songs seit den siebziger Jahren entwickelt hat, zielt er auch hier auf den stehenden Augenblick jenseits der verstreichenden Zeit. Und in welcher Zeit lebt dieser wandernde Held überhaupt? "Die Nachrichten, die mich interessierten und die ich im Auge behielt", berichtet er über das Jahr 1961, waren "der Untergang der ,Titanic', die Flut von Galveston, John Henry, der Schienenleger": Balladenstoffe aus einem versunkenen Amerika. Auch das Wiederauftauchen des Künstlers Dylan aus einer langen Stagnation, zwanzig Jahre später, spielt sich hier ab zwischen den Kolonialhäusern und nächtlichen Friedhöfen eines New Orleans, das außerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts zu liegen scheint: "hierher kommt der Teufel, um zu seufzen."

Insgeheim erzählt Dylan einen selbstironischen Bildungsroman über den Weg in eine zeitlose, mit religiösen Vorstellungen verschwimmende Sphäre der Kunst. Sein Held ist ein Ich, das lange namenlos bleibt. Seinen Geburtsnamen hören wir zum ersten und letzten Mal in dieser Anekdote: "Was Bobby Zimmerman angeht, sage ich's, wie's ist, und das kann man jederzeit nachprüfen. Einer der ersten Präsidenten der San Bernardino Angels war Bobby Zimmerman, und er kam 1964 beim Bass Lake Run ums Leben. Sein Motorrad hatte den Schalldämpfer verloren - um ihn aufzuheben, hatte Zimmerman vor den übrigen Teilnehmern kehrtgemacht und war auf der Straße überfahren worden. Jetzt gibt es keinen Bobby Zimmerman mehr. Das war sein Ende." Mit diesem ersten Erscheinen verschwindet Bob Zimmerman schon wieder aus diesem Buch, an seiner Stelle bleibt eine vor unseren Augen erfundene Kunstfigur, die den Namen "Bob Dylan" trägt.

Die Initiation dieses Helden in die Welt der Kunst ereignet sich in der karnevalistischen Welt der New Yorker Clubs. Man muß das unbedingt ausführlich zitieren: "Plötzlich wurden die Türen aufgerissen, und herein trat Gorgeous George persönlich . . . Er schritt einher wie vierzig Mann. Es war Gorgeous George in all seiner atemberaubenden Pracht, mit aller Glorie und Vitalität, die man erwarten durfte. Er hatte Diener dabei, war umringt von Frauen mit Rosen in den Händen, trug ein majestätisches Cape mit Pelzbesatz, und seine langen blonden Locken tanzten um ihn her. Er stürmte auf meine improvisierte Bühne zu und horchte auf. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, sah er mich an, und in seinen Augen blitzte das Mondlicht. Er blinzelte, und es sah aus, als formten seine Lippen den Satz: ,Du machst die Musik lebendig.' Ob er das wirklich gesagt hat, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß ich dachte, ich hätte es gehört, und ich habe es nie vergessen . . . Gorgeous George. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen. Vielleicht stimmt das." Vielleicht ist es auch erfunden. Erwiese sich der komplette Text mitsamt seiner Erzählerfigur als freie Erfindung - er würde wenig von seiner Spannung und seinem Witz verlieren.

Gorgeous George ist eine der vielen Gestalten in Dylans bizarrem und vergnüglichem Panoptikum. Nicht nur den musikalischen Weggefährten begegnen wir hier und den kanonisierten Kunst-Heiligen, dem sterbend schon ins Übermenschliche entrückten Woody Guthrie etwa oder Johnny Cash, sondern auch einem falsettsprechenden Ukulelespieler namens "Tiny Tim" oder "Billy the Butcher", der unverdrossen immer nur einen einzigen Song spielt, oder Honoré de Balzac, dem Dylan ein hübsches Porträt widmet. Mondäne Dandys und kleine Gangster bevölkern diese Welt, Beatniks und Bürgerkriegshelden. Ganz am Ende kommen dann auch die Lieder eines Songwriters namens Bertolt Brecht hinzu, den Dylan zu seinen Geburtshelfern zählt, namentlich dank eines Songs, der hier "Pirate Jenny" heißt; und es ist schön anzusehen, wie diese Lieder hier aufgehen in den Outlaw-Balladen von Hank Williams und dem Blues von Robert Johnson.

Der junge Dylan in New York: das ist ein Mystiker der Folksongs, den es in die Schriftkultur verschlagen hat; ein imaginärer Gefährte der wandernden Sänger, der auf einmal Thukydides, Rimbaud und Eliot begegnet. So wie er die Songs eingeatmet hat, so liest er nun wahllos, was ihm in die Finger gerät. Bei näherem Hinsehen allerdings ergibt sein unbekümmerter Eklektizismus eine Grundfigur. Da ist Clausewitz' "Vom Kriege", eines seiner Lieblingsbücher, da sind Tschechow und Melville, da trifft sich Tarzan mit Carl Sandburg, Machiavelli mit Kerouac. Im Schnittpunkt der heterogenen Lektüren zeichnet sich ab, was der Literaturwissenschaftler Christopher Ricks in einer kürzlich erschienenen Studie "Dylan's Vision of Sin" genannt hat: ein religiös grundiertes Weltbild, das dem Kampfplatz der Sünde die Hoffnung auf eine Erlösung gegenüberstellt, deren Licht aus den Popularmythen leuchtet wie aus der Heiligen Schrift. Hier die "political world", dort aber, und immer in Sichtweite, die "Highlands", die er in einem seiner schönsten Songs aus Burns und dem Blues komponiert hat.

Dylan erzählt solche Passagen mit spürbarer Provokationslust gegenüber jenen, die ihn noch immer auf die Rolle eines "Protestsängers" festlegen wollen, der er nie war. Ausgiebig läßt er seiner Empörung und Verzweiflung darüber freien Lauf, wie "radikale Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung" ihn zur Erlöserfigur einer Kunstreligion des Pop erhoben, erzählt von der Verleihung seiner Ehrendoktorwürde in Princeton und der Zusammenarbeit mit Archibald MacLeish, von seinen dilettierenden Versuchen als Zeichner und Bildhauer. Manchmal genügt eine einzige Wendung, um solche Berichte umschlagen zu lassen ins Metaphysische. Während der Pause bei einer Aufnahmesession beobachtet er den vor sich hin träumenden Schlagzeuger: "Er starrte durch einen Spiegel in ein dunkles Bild." Wie nebenbei fällt da der Blitzschein des Bibelwortes auf die Studio-Szene.

Das Schlußkapitel schließt die Zeitschleife; hier geht es zurück vor die Zeit, mit der das Buch begann, zurück ins winterkalte Minnesota und zurück in die Zeit Harry S. Trumans. Die letzten der alten Minstrel Shows gibt es da noch zu sehen, und Woody Guthries Autobiographie (die zu den Vorbildern der vorliegenden gehört) ist eben erst erschienen. Es ist jenes vergangene und nie ganz wirkliche Amerika, aus dem Dylans Songpoesie lebt und in die dieses Buch, nach einem weit ausholenden Bogen hinauf in unsere Gegenwart, sich wieder zurückbiegt. Es ist die Geschichte von Gorgeous Bob. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen.

Gleichzeitig mit den "Chronicles" hat Dylan die erweiterte Fassung seines Songbooks veröffentlicht. 1150 Seiten umfaßt die zweisprachige Ausgabe mitsamt Gisbert Haefs' angenehm unambitionierter und genauer Übersetzung - ein Lebenswerk, über das längst eine ganze Bibliothek geschrieben worden ist. Und doch bloß ein umfangreicher, vom Autor komponierter Ausschnitt, in dem nicht nur viele der unveröffentlichten Songs fehlen, sondern auch einige der bekannten, von "Heartland" bis zur Bürgerkriegs-Ballade "Cross the Green Mountain". Auch in der Wiedergabe von Varianten ist Dylan sehr wählerisch. Die Neufassung von "Gonna Change My Way of Thinking" wird uns mitgeteilt, die nicht minder radikale Überarbeitung von "Tangled Up In Blue", die auf dem Album "Real Life" doch unüberhörbar war, bleibt ausgespart - und so fort. Und schließlich sind hier die Gedichtzyklen und Prosatexte, die in den früheren Auflagen enthalten waren, komplett entfallen; hier präsentiert der Poet aus seinem Werk nichts als die Songs. Es ist ein wunderbarer Band geworden, Dylans Dylan-Anthologie. Wer aber auf eine Werkausgabe gehofft hat, muß weiter warten. Die Unmöglichkeit, die Fülle der Anspielungen und Mehrdeutigkeiten auf deutsch wiederzugeben, erörtert Haefs selbst im Vorwort. So unvermeidlich aber die Vereindeutigungen sind, so betrüblich bleiben sie doch. Das gilt auch für die zunehmende Zahl kryptischer Zitate - noch der vorerst letzte Vers, ein prophetischer Ausblick auf das Weltgericht, entstammt hier weder der Bibel noch Dylans eigenem Ingenium, sondern einem Sinatra-Song. Wer solche Entschlüsselungshilfen sucht, findet sie vorerst nur bei Dylan-Philologen wie Christopher Ricks, Michael Gray oder Paul Williams. Wo der Poet selber Spuren legt, verwischt er sie sogleich wieder. Wir haben ihn nur, indem er sich entzieht.

Bob Dylan: "Chronicles". Volume One. Deutsch/Englisch. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 304 S., geb., 22,- [Euro].

Bob Dylan: "Lyrics 1962 - 2001". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gisbert Haefs. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 1152 S., geb., 39,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2004

Gib mir Milch, du Kuh, oder geh’ nach Haus
Bob Dylans Texte, die Lyrik und das Prinzip des Wanderpredigers: Was sich aus der großen zweisprachigen Edition seiner Songs lernen lässt
Dies ist die Geschichte von Herrn Jones. Er kommt in einen Raum, trägt einen Bleistift in der Hand und sieht einen Nackten. Wer ist dieser Mann? Das weiß Herr Jones nicht. Grübelnd geht er wieder nach Hause, um später an anderen Orten aufzutauchen, wo er Monstern begegnet, Holzfällern, Professoren und Anwälten. Einmal stößt er sogar auf einen Schwertschlucker, der vor ihm niederkniet und ihn fragt, wie sich „das” anfühle. Herr Jones aber weiß immer noch nicht, was hier vorgeht. „Jetzt siehst Du diesen einäugigen Zwerg / Der schreit ,Jetzt‘ / Und du sagst: ,Aus welchem Grund?‘ / Und er sagt: ,Wie?‘ / Und du sagst: ,Was soll das heißen?‘ / Und er schreit zurück: ,Du bist eine Kuh / Gib mir Milch / Oder geh nach Haus‘.” Herr Jones indessen bleibt dumm.
Wer ist dieser Jones? Und was sind das für Verse? Ein mehr oder minder hermetisches Gedicht, das seine Dechiffrierer auf den Plan ruft, die professionellen wie die dilettierenden? Eine Allegorie auf den modernen Menschen in all seiner Vereinzelung und Ratlosigkeit? Die surreal verfremdete Darstellung einer homosexuellen Begegnung? Eine Persiflage auf das Verhältnis zwischen dem Interpreten eines Textes und seinem singenden Urheber, mit Herrn Jones als ahnungslosem Deuter, der alle Bücher von F. Scott Fitzgerald kennt? Und mit Bob Dylan als einäugigem Zwerg, als kleines Monster, das dem hilflosen Frager sein „Jetzt” entgegenschleudert, weil es sich aller Hermeneutik verweigern will? Noch lange könnte man assoziieren, vergleichen, nach dem Sinn in jeder Façon suchen und also tun, was die Fachleute für moderne Lyrik zu tun pflegen.
Aber der Text zu „The Ballad Of A Thin Man”, dem 1965 auf dem Album „Highway 61 Revisited” veröffentlichten Lied von Bob Dylan, gehört weniger zur Lyrik als vielmehr zum Genre der „lyrics”, zu den Songtexten, und auch wenn sich die Genres zuweilen ähneln, so sind sie doch auch sehr verschieden. Und obwohl es längst eine auch akademisch organisierte Philologie zu Bob Dylan gibt und die Universität Stanford Symposien zu seinen Ehren veranstaltet, ist es doch so, dass ein gelehrtes Werk wie „Bob Dylan’s Vision of Sin”(2004) von Christopher Ricks, Literaturwissenschaftler an der Universität Boston, nicht erscheinen kann, ohne dass im Times Literary Supplement der Satz steht, Christopher Ricks müsse sich offenbar „versichern”, dass sein Interesse an Bob Dylan akademischen Wert besitze.
Nicht zum ersten Mal lässt Bob Dylan seine „lyrics” herausgeben. Vor dreißig Jahren gab es schon einmal eine Ausgabe der gesammelten Texte, die damals in Deutschland - vermehrt um die freien, aber oft gereimten Übersetzungen von Carl Weissner - zu einem der frühen Erfolge des Verlags Zweitausendeins wurde. Auf der Homepage bobdylan.com sind alle Songtexte des Künstlers, als ganzes Werk alphabetisch oder nach Schallplatten geordnet, mitsamt den Texten der Hüllen und Begleithefte nachzulesen, bis hin zu seinem jüngsten Werk, dem im Jahr 2001 erschienenen Album „Love and Theft”.
Gesang auf stummem Papier
Warum wird das nun alles noch einmal veröffentlicht, in Buchform, und zwar in der amerikanischen Originalausgabe ganz ohne Zusätze? Und auch die Übersetzungen von Gisbert Haefs, die der deutschen Edition beigefügt sind, rechtfertigen die Neuerscheinung nicht. Denn eher als dass sie selber poetische Gestalt hätten, sind sie nüchterne, dem Verständnis des Originals dienende Übertragungen. Und, problematischer noch: Sie können ihre Aufgabe nur im Ungefähren erfüllen. Um größere Genauigkeit zu erreichen, hätte ein umfangreicher Kommentar angelegt werden müssen, ein Kommentar, der auch den zahllosen Anspielungen und Zitaten in Bob Dylans Texten nachzugehen hätte. Doch einen solchen hat nicht zuletzt der Dichter selbst nicht gedruckt sehen wollen.
Warum also eine solche Ausgabe? Bob Dylan, so scheint es, erkennt selbst in seinen „lyrics” mehr als nur die Texte zu seinen Liedern. Er mutet ihnen zu, von den Songs und Sounds isoliert als Lyrik im Buch, auf stummem Papier, bestehen zu müssen. In der populären Musik gibt es zwar viele Gestalten, denen die Sprache ihrer Lieder wichtig ist, Leonhard Cohen zum Beispiel oder Nick Cave. Aber Bob Dylan meint es ernster als sie alle. Und dieser Ernst ist es, dieser Anspruch auf Poesie, der solche Dokumentationen hervorbringt - aber ganz bis zur Literatur, zur selbständigen Kunstform, reicht der Ehrgeiz nicht. Oder vielleicht ist sich der Künstler seiner Sache auch nur nicht ganz sicher und glaubt daher, nicht darauf verzichten zu können, dass die Fans das Buch und die darin enthaltenen Texte als Beleg behandeln. Geordnet wird daher nach Schallplatten und deren jeweiligem Erscheinungsdatum, also unselbstständig. Und so entsteht ein Werk zwischen den Genres, eines, das beides, „lyrics” und Lyrik, zugleich ist, ein lyrisches Œuvre, das einer musikalischen Ordnung unterworfen ist.
Fast tausendzweihundert Seiten hat der Band mit den Liedtexten von Bob Dylan, achtundzwanzig Langspielplatten sind darin umschlossen, aber die Texte darin sind von sehr verschiedener Art: Die einfachen Lieder mit ihren Strophen und Refrains gehören dazu, Stücke wie „Blowin’ in the Wind”, die erzählenden Balladen aus der Zeit des Albums „Desire”, Gospels wie „Pressing On” - und die in einer Art von stream-of-consciousness verfassten surrealen Texte, angefangen bei „Desolation Row” (1965): „All die Leute, die du erwähnst / Ja, ich kenne sie, sie sind ziemlich lahm / Ich musste ihre Gesichter neu gestalten / Und ihnen allen andere Namen geben” - letztere vor allem haben Bob Dylans Ruf als Lyriker begründet.
Die Gesetze der populären Musik aber sind in diesen als anspruchsvoll geltenden Texten stets berücksichtigt. Sie sind kurz, sie bewegen sich auf engem Raum, sie arbeiten mit den Wiederholungen, die für ein Lied notwendig sind. Die Wörter sind gemeinverständlich. Ja, vielleicht geht auch Bob Dylans Surrealismus weniger auf eine Entscheidung zur ästhetischen Moderne zurück als vielmehr auf eine Eigenheit der populären Musik - darauf nämlich, dass sie oft nur flüchtig, im Vorbeigehen gehört wird, darauf, dass jeder musikalische Augenblick für sich muss wirken, klingen können. Deswegen zerfallen „lyrics”, hört man ihnen aufmerksam zu - oder besser: liest man sie - so oft in eine lose Reihe ebenso unterschiedlicher wie starker Bilder: „’Twas there by the bakery / Surrounded by fakery / Tell her my story” singt Bob Dylan. Das dazugehörige Lied „Sign Language” (1976) ist eine treffliche Illustration zum Surrealismus als Naturform der „lyrics”.
Lautstarkes Gemurmel
Intim ist die Lyrik, aber „lyrics” sind intimer. Wie sehr sie das sind, bemerkt der Leser, wenn er den englischen Text studiert - er hat, nicht nur bei den bekannten Liedern, sofort die näselnde Stimme Bob Dylans im Kopf, er liest keine Zeile, ohne nicht zugleich die Wortgrenzen zu verschleifen, die Vokale zu dehnen und die Silben zu verschlucken, zu murmeln und zu nuscheln, wie nur dieser Sänger es tut. Diese Texte sind in einem hohen Maße personalisiert, sie sind mit einer, und nur mit einer Stimme verbunden - und dafür muss jede Übersetzung büßen, sie mag so vorsichtig, so zurückhaltend sein, wie sie will. Es ist nun nicht mehr Bob Dylan, der da spricht, sondern ein Fremder, und seine Form ist notwendig nicht mehr das Lied, sondern der Text, der für sich allein stehen muss, und auch dies ist ein Beleg für den sonderbaren Zwischenstatus der „lyrics”.
Intimität aber macht auch angreifbar. Es ist immer etwas Indiskretes, etwas Exhibitionistisches, ein Element von Peinlichkeit in der ungeschulten Stimme, die mit Hilfe eines Mikrophons und einer gigantischen Verstärkeranlage ganz nah an das Ohr des Hörers befördert wird. Das mit größter Lautstärke den Massen vorgetragene Gemurmel und Geraune ist die größte Erfindung der populären Musik, die Entdeckung, dass intim und allgemein keine Gegensätze sein müssen, sondern mit den Mitteln der Unterhaltungselektronik vermittelt werden können. Die Erscheinung von Bob Dylan, aber auch seine Kunst ist von dieser sonderbaren Verbindung geprägt bis ins Innerste hinein. Von der stets missglückenden Einheit des Widersprüchlichen zeugen seine oft verhuschten Auftritte, seine vergeblichen Versuche, sich von der Bühne zu singen. Das weiß das Publikum, und es verzeiht, wenn er, wie Heinrich Detering in einem Gedicht berichtet, „in Bielefeld die Strophe den Song sich selbst vergaß”. Als wahrhaft öffentliches Ereignis würde die Musik bei Bob Dylan nicht funktionieren, und deswegen ist die große Edition am Ende ein notwendig den Kern dieser Kunst verfehlendes Unternehmen.
Jeder Literaturwissenschaftler, der sich mit Bob Dylan beschäftigt, stößt auf die Gegenwart des Alten Testaments in Bob Dylans Texten. Das gilt für Christopher Ricks, für Scott M. Marshall, dessen Monographie „Restless Pilgrim. The Spiritual Journey of Bob Dylan” vor zwei Jahren erschien, und für viele andere. Dem ländlichen Amerika, aus dem Bob Dylan ja stammt, scheint eher das Alte als das Neue Testament zu entsprechen - mit seinen großen geographischen Räumen, die von einer wenigstens zur Hälfte nomadischen Bevölkerung bewohnt zu werden scheinen, von Sippen und wandernden Gemeinden. Und auch zwischen dem Unsteten in Bob Dylans Leben und seinen Liedern mag es eine Verbindung geben: Wie, wenn auch sie eine Art von Testament wären - eine lange, in lauter Anekdoten, Gleichnisse und Spruchweisheiten zerfallende Erzählung, die zwar auch schriftlich vorliegen kann, deren wichtigste Form aber der immer wieder neue zu variierende, mündliche, auswendige Vortrag ist. „I tell you from deep in my heart”, sagt der amerikanische Wanderprediger. Seinen Zweck hat er erreicht, wenn das Publikum diese Texte genauso auswendig beherrscht. Do you, Mister Jones?
THOMAS STEINFELD
BOB DYLAN: Lyrics 1962-2001. Deutsch von Gisbert Haefs. Hofmann und Campe Verlag, Hamburg 2004. 1152 Seiten, 39,95 Euro.
Wanderer, innehaltend: Bob Dylan 1987
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