England in den 1890er Jahren. Die junge Nancy arbeitet als Austernöffnerin im Restaurant ihrer Eltern. Ihr Leben ist einfach, aber glücklich. Bis sie bei einem Besuch in der Music Hall von Canterbury zum ersten Mal die Herrendarstellerin Kitty Butler sieht. Das hübsche Mädchen, das fortan Abend für
Abend in der Vorstellung sitzt, bleibt auch der angebeteten Kitty nicht verborgen und zwischen den…mehrEngland in den 1890er Jahren. Die junge Nancy arbeitet als Austernöffnerin im Restaurant ihrer Eltern. Ihr Leben ist einfach, aber glücklich. Bis sie bei einem Besuch in der Music Hall von Canterbury zum ersten Mal die Herrendarstellerin Kitty Butler sieht. Das hübsche Mädchen, das fortan Abend für Abend in der Vorstellung sitzt, bleibt auch der angebeteten Kitty nicht verborgen und zwischen den beiden jungen Frauen entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Als Nancy mit Kitty nach London geht, wähnt sie sich am Ziel ihrer Träume. Aber Kitty hat Angst vor den gesellschaftlichen Folgen, die eine sapphistische Beziehung nach sich ziehen könnte.
Sarah Waters hat es geschafft mit “Die Muschelöffnerin” [Tipping the Velvet*] einen Roman zu veröffentlichen, der knapp 14 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung bereits zu den absoluten Klassikern der lesbischen Literatur zählt. Und das vollkommen zu Recht.
Mit unglaublicher Authentizität und viel Feingefühl fängt sie die Situation lesbischer Frauen im viktorianischen England ein und schenkt ihnen ein Gesicht. Die besonderen Schwierigkeiten, mit denen sie in einer Zeit zu kämpfen haben in der Frauen generell schon einen schweren Stand hatten und Sexualität als primitiv und zu kontrollieren galt, spiegeln perfekt die prüde Bigotterie des ausklingenden 19. Jahrhunderts wieder. Arbeiteraufstände, erste Gewerkschaften und Suffragettenbewegung haben ebenso ihren Platz wie Varietès, Theater und die High Society, für die es keine Grenzen und Regeln zu geben scheint.
Nancy ist eine so überzeugende Protagonistin, dass man sich ihr binnen kürzester Zeit verbunden fühlt wie einer Freundin und auch die Nebencharaktere sind so vielschichtig, dass man zu keinem Zeitpunkt Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Story hat. Der mitreißende Schreibstil in Verbindung mit absolut stimmigen Schauplätzen und einem hervorragend ausgearbeiteten Plot machen aus Nancys Geschichte einen faszinierenden, außergewöhnlichen Roman mit einer unvergleichlich dichten Atmosphäre. Einmal angefangen, ist man gleich gefangen in dieser Welt der Reifröcke, Korsetts und steifen Kragen und kann sich herrlich fallen lassen, mitleiden und mitfiebern.
Ein bisschen erinnert mich die Geschichte an Floortje Zwigtmans Trilogie “Adrian Mayfield”, die ich über alles liebe, was “Die Muschelöffnerin” für mich auch ein bisschen zu einem “Nachhause kommen” macht. Ich jedenfalls bin sehr dankbar, dass der wunderbare Verlag Krug & Schadenberg aus Berlin diesen Klassiker neu verlegt hat und ich so die Chance hatte den besten lesbischen Roman für mich zu entdecken, den ich je gelesen habe.
[*viktorianischer Euphemismus für Cunnilingus, wörtlich übersetzt etwa: “den Samt berühren”]
Zitate:
“Wenn ich sie sehe”, sage ich, “ist es wie – ich weiß nicht wie. Es ist so, als hätte ich vorher überhaupt noch nie etwas gesehen. Es ist, als ob ich mich fülle wie ein Glas, das man mit Wein füllt. […] Sie macht, dass ich zugleich lächeln und weinen möchte. Sie tut mir weh – hier.” Ich lege eine Hand auf meine Rippen. “Ich habe noch nie ein Mädchen wie sie gesehen. Ich wusste gar nicht, dass es Mädchen wie sie gibt…” (Seite 27)
Ich erhaschte einen Blick auf Leitern und Gasschläuche und Jungen in Schürzen und Kappen, die Körbe herumschoben und Scheinwerfer in Position brachten. Damals hatte ich das Gefühl – und es ist in den darauffolgenden Jahren immer wiedergekehrt, wenn ich hinter eine Bühne ging –, dass ich in das Räderwerk einer riesigen Uhr eintrat, durch das elegante Uhrgehäuse hinein in die staubige, geschmierte rastlose Maschinerie, die dahinter lag, dem gewöhnlichen Auge verborgen. (Seite 37)
Es war Kitty, die ich als Erste und am leidenschaftlichsten geküsst hatte; und es war, als hätte ich seitdem immer und immer die Form, die Farbe, den Geschmack ihrer Küsse auf meinen Lippen gehabt. (Seite 513)
[Gekürzt wegen Begrenzung auf 4000 Zeichen. Der ganze Text auf meinem Blog.]