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Produktdetails
  • Reclams Universal-Bibliothek 9346
  • Verlag: Reclam, Ditzingen
  • 1995.
  • Seitenzahl: 423
  • Erscheinungstermin: 2. Februar 2001
  • Deutsch
  • Abmessung: 151mm x 96mm x 15mm
  • Gewicht: 204g
  • ISBN-13: 9783150093467
  • ISBN-10: 3150093465
  • Artikelnr.: 05710281
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995

Geschmack der Zersetzung des Herzens
Zweimal D'Annunzios "Lust" / Von Alban Nikolai Herbst

L' anno moriva, assai dolcemente", überaus süß stirbt das Jahr, und die

Räume, in denen Andrea Sperelli seine ehemalige Geliebte Elena, nun Lady Heathfield, erwartet, füllen sich langsam mit Rosenduft. Dazu brennt im Kamin Wacholderholz und in Sperelli eine vergeistigte Ungeduld. Sperelli erinnert sich an den Tag, da Elena ihn verließ. Da tritt sie ein, die beiden gestehen einander neuerlich ihre Leidenschaft. Die Frau läßt den sinnenden Mann zurück; der denkt dem Anfang und dem Ende ihrer beider Liebe nach, erinnert sich auch an seine späteren Affären und denkt an seine zweite Liebe, Maria, die er mit Elena zugleich liebt. Er liebt sie unglücklich erst, dann momentlang glücklich, dann bis in den Schmerz, beide Frauen verschmelzen ihm zu einer: raffinierteste Tollheit, so delikat wie aufreizend. Ein Genuß, den Liebhabern und Liebhaberinnen nur die Unmoral schenkt. Bald aber ist "diese Verkörperung einer Frau in einer anderen ( . . . ) nicht mehr ein Akt verzweifelter Leidenschaft, sondern eine Gewohnheit des Lasters". Da spricht Andrea in einem unvorsichtigen Moment den falschen Namen aus, und ins Tiefste getroffen verläßt Maria ihn. Elena hingegen, mittlerweile die Geliebte eines Freundes geworden, hat Andrea bereits kurz zuvor mit den Worten weggeschickt: "Ich lasse Ihnen von meinem Mann zwanzig Franken geben. So werden Sie, wenn Sie fortgehen, Ihr Verlangen befriedigen können."

Nun ist Andrea Sperelli also endgültig allein. Maria folgt ihrem sozial bankrotten Gemahl in die Provinz, der Haushalt wird aufgelöst. Andrea besitzt die Geschmacklosigkeit, daraus einen Schrank zu ersteigern, "im Mund ( . . . ) einen unsäglich bitteren, widerlichen Geschmack, der von der Zersetzung seines Herzens zu kommen schien". Der Schrank wird gerade geliefert, als Andrea heimkommt. "Seguì", er folgte ihm, "piano piano, di gradino in gradino", ganz langsam, Stufe für Stufe, bis zu seiner Wohnung, "fin dentro la casa". "Langsam schritt er hinterher, von Stufe zu Stufe, bis vor die Tür seiner Wohnung", heißt es in anderer Übersetzung. Das "fin dentro la casa", der Schluß im Innersten, geht verloren. Maria, wie die andere, die schrecklich reine, für die sie steht, schwindet im Verzicht, und Elena, letzter Grund jedes Krieges, hat sich schon einem neuen Troja zugewandt. Dies also die alte, überaus süße Geschichte.

Wenn ein übelbeleumdeter Klassiker der modernen Poesie in neuer Übersetzung erscheint, mag das literarische Gründe haben oder in einer verlegerischen Vorliebe begründet sein. Erscheinen jedoch parallel zwei Übersetzungen, so merkt das politische Bewußtsein auf. Der Markt kann ja kaum eine Arbeit schlucken, es könnten also literaturferne Interessen und Bedürfnisse die Verlage Manesse einer- und Reclam andererseits zu ihrer Parallelaktion verführt haben.

Die Rede geht von einer letzten Blüte symbolistischer Ästhetik, geht von dem Roman "Il piacere" - ins Deutsche seit je sehr ungenügend mit "Lust" übersetzt, was "Vergnügen", ja "Lustbarkeit" heißen könnte und eng an dekadente Kategorien von ästhetischem Geschmack gebunden ist - des so spektakulären Dichters, Frauenhelden und Militaristen Gabriele D'Annunzio. Darauf, den überkommenen Titel in Frage zu stellen, hat sich keine der beiden Übersetzerinnen eingelassen, wohl aber sind die Tendenzen des italienischen Originals in jeweils denkbar verschiedene Richtungen kristallisiert. Das macht es reizvoll, die Fassungen parallel zu lesen.

Bei Manesse bemüht man sich um Glätte, schmirgelt Manierismen weg, setzt auf Lesbarkeit und Kompromiß. Reclam härtet aus, ist unbeugsamer, oft schroffer, oft kitschiger. Sehr deutlich wird das bei ganz offenbarer Sexualmetaphorik. "Während sie in die blaue Flamme blickte, streifte sie die Ringe von den Fingern und steckte sie wieder auf, scheinbar in tiefes Träumen versunken" (Manesse). "Während sie die bläuliche Flamme betrachtete, zog sie immerfort ihre Ringe von den Fingern und steckte sie wieder auf, wie in ein tiefes Träumen versunken" (Reclam). Und "rief sich ihre Gewohnheiten während der Lust ins Gedächtnis zurück" (Reclam) ist zwar häßlicher als "er versucht angestrengt, sich zu erinnern, wie sie sich geliebt hatten" (Manesse), trifft allerdings eher, was hier gemeint ist. Der deutsche Sprachschliff bei Manesse fälscht obendrein die einsame Perspektive in Zweisamkeit um - "una qualche attitudine di lei nel piacere" heißt es im Original. Einiges spricht also für die manieristische, gewagtere Auffassung Claudia Denzlers bei Reclam, mehr als für die geschmackvollere "bürgerliche" von Pia Todorovic-Strähl bei Manesse. Vor allem deshalb, weil von Frau Denzler die Orchestrierung der Psychologie durch Requisiten sehr viel schärfer akzentuiert wird. Und ebendiese gibt D'Annunzios Arbeiten den hohen poetischen Wert.

Lange Zeit galt die Beschäftigung mit D'Annunzio nicht nur als unzeitgemäß, sondern sogar als verantwortungslos. Im hysterisch-moralischen Deutschland sind die Dichter von den Sprüchen des gerade waltenden politischen Zeitgeistes gebannt oder zugelassen. Das liegt freilich daran, daß man in humanistischer Tradition sehr gern das Schöne als gut wissen und das Gute auch noch für wahr halten will und also umgedreht genau das betreibt, was Autoren wie D'Annunzio vorgehalten wird: Ästhetisierung von Wirklichkeit.

Soll nun das Interesse an Ästhetisierung von Wirklichkeit wieder geweckt werden? Und soll dabei der soldatische D'Annunzio als nichtbürokratisches, vitalistisches, Ufa-gemäßeres Pendant zu Ernst Jünger der erneut vor kriegerischen Herausforderungen stehenden politischen Gegenwart angedient werden? Es läßt sich argwöhnen, das Interesse an D'Annunzios Buch sei eher politischer Regression zu verdanken als einem ästhetischen Aufmerken, dem es um Ausdruck und Gestaltung zu tun ist. Dabei erklärte noch 1988 Eduardo Sanguineti: "Jetzt, da wir von unserem Fin de siècle auf D'Annunzio schauen können, erweist er sich als die Prähistorie der Postmoderne."

In einer Zeit nämlich, da die Kommunikations- und Informationsindustrie die Welt in Sprachlichkeiten auflösen und Materie wegerklären möchte, soll wieder so getan werden, als sei das Wort schon die Tat. Nur gibt es einen Unterschied zwischen Lustmordphantasie und Lustmord. Möglicherweise kann die Phantasie den Mord sogar verhindern, weil sie sich an sich selbst befriedigt hat. D'Annunzio hat sich immer an sich selbst befriedigt. Aber solche taumelselig-geniale Kunstonanie, die politische Kräfte nutzen zu können glaubte, hat dann ihn benutzbar gemacht. Schon der Roman "Il piacere" zeigt, woran das liegt. Hellsichtig schrieb Hofmannsthal von einer D'Annunzianischen "Konzeption des Menschen als einer Pflanze, die vegetiert, sich langweilt und abstirbt". Ein Dichter, der sich von den sinnlichen Motiven nicht mehr derart überschwemmen lassen und darin ertrinken wollte, mußte den Akt des Willens - den "atto puro" - beschwören, wie D'Annunzio es später tat; und die Faschisten taten's ihm nach. Zweifelsfrei hat D'Annunzio mit seinen Inszenierungen von Truppenaufmärschen und seinem ruhmsüchtigen Heldentum den Faschismus vorzubereiten geholfen.

Hierauf hinzuweisen ist nötig, gerade wenn man auf Errungenschaften des Ästhetizismus nicht verzichten will. Denn D'Annunzios Manier ist ja nicht nur Schwelgerei in Wohlklang und Wortfarben. Sondern einerseits ist zwar Ekstase gemeint, eine entindividualisierende Befreiung im Dionysischen (das weiblich ist), andererseits bedarf es, um ein solches Fiebern zu gestalten, geradezu ritualisierter Stilformen. Dabei entsteht nicht einfach Kitsch, sondern eine große Genauigkeit. "Die Milchstraße dehnte sich wie ein königlicher Himmelsfluß, wie eine Vereinigung von Paradiesufern, wie ein mächtiger schweigender Strom, der in einem kristallenen Flußbett zwischen Blumenufern dahinfließt und einen Staub von Sternengestein mit sich zu führen scheint." Darum ist es dem Manierismus zu tun, Sprache im Wortsinn auszudrücken, auszupressen. Da erscheinen "Augen, die wie von einem überaus reinen und feinen Öl übergossen schienen", und die "Diener schlummern unter dem Summen der Fliegen". Selten gibt es innigere Liebesspiele zu lesen als hier. "Tu ti prendi la mia vita!", du nimmst dir mein Leben.

Ganz außer Zweifel steht, daß D'Annunzio ein Virtuose des Arrangements ist - und dadurch virtuoser Psychologe. Wie Wagner die Seele seiner Personen in den Orchestergraben verlegte, sind bei D'Annunzio all die Möbel, die Pflanzen, Gobelins, die Blumenvasen eben nicht Dekor als gesammelter Plunder einer aufgeedelten Gründerzeit, sondern die Gegenstände versinnbildlichen seelische Vorgänge; die Menschen sind sozusagen die Blüten schöner Gegenstände, "verdinglicht", so hätte man zu kritischen Zeiten gesagt. In den Dingen finden die eigentlichen Bewegungen statt, die den Menschen eingeflößt werden. Einmal spricht D'Annunzio von einer großen weißen Rose auf einem Kaminaufsatz, deren Blätter herabfallen (le foglie d'una grande rosa biancha che si disfaceva a poco a poco, languida, molle, con qualche cosa di feminino, direi quasi di carnale). Während Reclam sich hier genau anschmiegt, auch den Satzrhythmus kopiert, übersetzt Manesse über alle Synkopen hinweg, glättet, und aus "che si disfaceva a poco a poco" wird "die langsam dahinwelkte", während dankenswerterweise Reclam den Rilke-Ton nicht scheut: "die sacht zerfiel"; es ist aber nicht zu begreifen, weshalb beide Auffassungen das "carnale" partout nicht "fleischlich" haben wollen, sondern Manesse "sinnlich" und Reclam "körperlich".

Denn es geht ums Fleischliche, das auf die Ich-Schwäche des Helden Sperelli so verlockend wie bedrohlich wirkt. Beiden Frauen unterlegen, muß er ihnen einen Verlust aufzwingen, den er sich selbst nicht abringen kann. Den Verlockungen ausgeliefert zu sein ist D'Annunzios Thema von "Lust" an bis zu den späteren Romanen; aber "Il piacere" versucht noch, sich aus "Lust" ein "Vergnügen" zurechtzulügen, die Wollust zu möblieren wie einen Salon und sie dadurch zu entschärfen.

Gabriele D'Annunzio: "Lust". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Claudia Denzler. Verlag Philipp Reclam, Stuttgart 1995. 422 S., br., 17,- DM.

Gabriele D'Annunzio: "Lust". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Pia Todorovic-Strähl. Manesse Verlag, Zürich 1994. 506 S., geb., 35,50 DM.

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