Produktdetails
  • Verlag: Hanser
  • ISBN-13: 9783446235656
  • ISBN-10: 3446235655
  • Artikelnr.: 29504705
Autorenporträt
Antonio Tabucchi (1943-2012), eine der bedeutendsten Stimmen der europäischen Literatur, war Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Essays und Bühnenstücken und Herausgeber der italienischen Ausgabe der Werke Fernando Pessoas. Er lehrte Portugiesische Sprache und Literatur und schrieb für zahlreiche italienische und ausländische Zeitungen. Sein Werk wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt und mit vielen wichtigen Preisen ausgezeichnet, darunter der Premio Campiello, der Prix Médicis Etranger, der Prix Européen de Littérature und der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur. Bei Hanser erschienen u.a. Lissabonner Requiem (2002), Es wird immer später (Roman in Briefform, 2002), Tristano stirbt (Roman, 2005), Die Zeit altert schnell (Erzählungen, 2010), Die Autobiographien der anderen (Über die Bücher und das Leben, Edition Akzente 2013), Für Isabel (Ein Mandala, 2014), Reisen und andere Reisen (2016) und Geschichten zu Bildern (2019).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.02.2011

Verliebt in die Luft
Blau des Himmels, Blau des Meeres: Antonio Tabucchis große und strenge Meistererzählungen „Die Zeit altert schnell“
Die Hand des Mädchens zeichnet unablässig Kringel in den dalmatinischen Sand, währenddessen es mit seinem Strandnachbarn plaudert, einem älteren Herrn, der im Schatten liegt. Beide sind Italiener, auch wenn sie ihre generationsbedingt verschiedenen Idiome und Semantiken einander dolmetschen müssen. Die etwa zehnjährige Isabella wurde in Peru geboren, doch bald nach der Geburt von italienischen Eltern adoptiert; der Mann indessen stammt aus Istrien, von wo er als Angehöriger der italienischen Minderheit vertrieben worden war. In das zerfallene einstige Jugoslawien kehrte er Jahrzehnte später wieder zurück, als Heeresoffizier und Teilnehmer einer Friedensmission. Jetzt, ein Jahrzehnt später, liegt der Mann an demselben Strand, an dem er während des Bürgerkriegs seinen Beobachtungsposten eingenommen hatte. „Der Krieger“, bemerkt er, „muss dort ruhen, wo früher Krieg war.“ Gesundheitlich angeschlagen, schluckt er Pillen, und aus dem Liegestuhl heraus pflegt er die hohe Kunst des Wolkenlesens.
Unversehens dehnt sich das Gespräch der beiden auf das ganze zurückliegende Jahrhundert aus, seine Ideale und seine Wahngebilde, seine Abgründe und Verwerfungen – bis in die Gegenwart und zu dem, was schon dem Mädchen Isabella unangenehm aufstößt. Da ist zum Beispiel ein nicht namentlich genannter „Mann aus der Politik“, bekannt für seine beschämenden Entgleisungen: „und ich frage mich, warum man mich rügt, wenn ich solche Worte verwende, und ihn nicht . . . “   Und sie erzählt von ihrem Hass auf Kriege, von ihrer seltsamen „Wachstumskrise“, ausgelöst von dem Gerede der Erwachsenen über „gerechte Kriege“. Aus einem Land, in dem ein solcher geführt werde, seien ihr zwei Kinder begegnet, der Junge ohne Arme, das Mädchen ohne Gesicht, die Eltern bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Auch Bemerkungen ihres Gegenübers scheinen Isabella zu verstören: „. . . manchmal ist es schwierig, euch Erwachsene zu verstehen.“
Die mit „Wolken“ betitelte Episode ist eine von neun Erzählungen über die Zeit aus der Feder des 1943 geborenen italienischen Schriftstellers Antonio Tabucchi. Und soweit die Zeit hier als historische aufgefasst ist, sind sämtliche Erzählungen zwar jenseits der Wasserscheide von 1989 angesiedelt, doch lastet der lange Schatten des vorigen Jahrhunderts noch immer auf dem Bewusstsein ihrer Protagonisten: „Auf der Spur des Schattens altert die Zeit schnell“, heißt das titelgebende, einem vorsokratischen Fragment entlehnte Leitmotto dieser Erzählungen, zusammengefasst in einer konzentrierten, auch alle Konzentration des Lesers herausfordernden Sammlung, was auch die Neunerzahl unterstreicht, die zweifellos auf Jerome D. Salingers legendäre „Nine stories“ aus dem Jahr 1953 anspielt, womit Tabucchi die Messlatte sehr hoch hängt.
Genf, Berlin, Warschau, Moskau, Budapest, Bukarest, Athen, Tel Aviv, Lissabon sind die Schauplätze von Tabucchis Erzählungen, die eigentlich Versuchsanordnungen sind: auf die Möglichkeiten, die Zeit zu erzählen, ihre Bewegungen, Verkapselungen und Wirkungen zu schildern und ihre Spuren in den Gedächtnissen der Menschen zu erspüren.
Die Zeit aber, sie altert schnell, vielleicht schneller, als wir sie erkennen. Gemeint ist hier aber nicht die kontinuierlich fließende und verfließende, die lineare und leere Zeit, sondern die sich mit der historischen Zeit verschränkende innere Zeit – was der Philosoph Henri Bergson die „durée“ nannte –, die von Menschen gelebte und erlebte, die erinnerte und erzählte und im Erinnern und Erzählen auch erst erfüllte Zeit. Und während die eine, die chronologische Zeit gleichmäßig fließt, verfließt, für immer vergeht, passiert mit jener anderen, inneren Zeit etwas ganz anderes: Analog zum physischen Altern, schrumpft sie, zieht sich zusammen, verkapselt, verpuppt sich bis zur Mumifizierung, bleibt aber jederzeit abrufbar: als Erinnerung oder als Erinnerung an die Erinnerungen anderer, wie sie von Erzählungen, von Bildern und Fotos, von Liedern und Melodien transportiert werden.
So prosaisch die hier erzählten Verhältnisse, die Schauplätze und die Schicksale sind – zumeist aus der Perspektive oder mit der Stimme älterer und versehrter Menschen –, so wunderbar poetisch verfährt Tabucchi doch mit diesen Stoffen, so dass bei allem Schmerz, bei aller Sehnsucht und Melancholie auch immer jene andere erfüllte Zeit ihre Zeichen setzt und in der Erinnerung und Erzählung gegenwärtig ist, als Kringel im Sand, als kreisförmiger Tanz oder als kreisförmiger Horizont; als Träume, die nicht rosten, genauso wenig wie die Emotionen, die sie begleiten; als Blau des Himmels und als Blau des Meeres; als zarter Lufthauch, mit dem hier „das Gefühl der Leichtigkeit“ und dort „eine Art leichte Trunkenheit, fast eine kleine Glückseligkeit“ zurückkehrt oder aufklingt, so wie jenes alte sephardische Lied von der Luft und der Liebe zu ihr, das der Lissabonner Erzählung aus dieser Sammlung, die wenigstens neun sogenannte Zeitromane aufwiegen kann, den Titel gibt: „Yo me enamoré del aire, / del aire de una mujer, / como lo mujer era aire, / con el aire me quedé. (Ich habe mich in die Luft verliebt, in die Luft einer Frau, und da die Frau Luft, ist mir nichts als Luft geblieben.)“ Immerhin. Dann ließ er sich „langsam auf den Boden sinken, mit dem Rücken über das Mäuerchen rutschend, und blickte nach oben. Das Blau des Himmels war eine Farbe, die einen weiten Raum öffnete. Er machte den Mund auf, um jenes Blau einzuatmen, um es zu schlucken, und dann umarmte er es, drückte es an die Brust.“ So schön, wir erinnern uns, war auch einmal Italien.
VOLKER BREIDECKER
ANTONIO TABUCCHI: Die Zeit altert schnell. Erzählungen. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Hanser Verlag, München 2010, 173 Seiten, 16,90 Euro.
Antonio Tabucchi, Jahrgang 1943. Foto: Laurent Giraudou / Bilderberg
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2011

Im Zeitrausch
Antonio Tabucchi wagt sich an den Kern der Dinge

Eine der großen Fragen, welche die Literatur umtreibt, ist die Frage nach der Zeit. Im Roman lassen sich lange Jahre zuweilen in einen Satz fassen: "Er reiste" heißt es etwa bei Flaubert lakonisch, und darin steckt bereits ein hartes Urteil darüber, ob das Leben der Figur den Bericht überhaupt lohnt. Antonio Tabucchi ist, so scheint es, ebenfalls nicht zimperlich: "Als er freikam, war er bereits ein alter Mann, seine Wohnung war beschlagnahmt worden, er hatte nichts, wovon er leben konnte, seine Frau war gestorben, er litt an Arthritis." So wird in der Erzählung "Unter Generälen" das Schicksal Lászlós, eines ungarischen Offiziers, der sich 1956 der sowjetischen Armee entgegengestellt hat, resümiert. Dass die Frage der Zeit hier entscheidend ist, weiß der Leser vom Titel: "Die Zeit altert schnell", so nennt Tabucchi seine Sammlung von neun Erzählungen.

Tatsächlich ist Lászlós Leben vorbei, ehe es recht begonnen hat. Ähnlich bitter empfindet in "Der Kreis" eine kinderlose Frau die verrinnende Zeit und die daraus resultierenden Enttäuschungen: "War es also so, war die Zeit wie Luft, und hatte sie sie aus einem winzigen Loch, das sie gar nicht bemerkt hatte, ausgehen lassen?" Tabucchi bleibt freilich nicht bei der Demonstration erzählerischer Allmacht über das Leben seiner Figuren stehen. In "Unter Generälen" reist der alte László nach Moskau und trifft jenen pensionierten russischen General, dessen Gutachten einst Grundlage seiner Verurteilung war. Die alten Herren spielen Schach, gehen in die Oper und ins Bordell - László kommentiert anschließend in einem New Yorker McDonald's, dass dies die schönsten Tage seines Lebens waren. Nicht die Quantität, sondern die Qualität: auf Zeit trifft diese Binsenweisheit wirklich zu. Der feinen, flüchtigen Substanz, die den Kern eines Lebens ausmacht - ihr spürt Tabucchi nach.

Dabei erweist er sich als wahrhaft europäischer Erzähler: Berlin, Bukarest, Lissabon, Tel Aviv, die Schweiz und der Balkan, Polen und Griechenland sind ebenfalls Schauplätze. Die Helden der gewohnt schnörkellos erzählten Geschichten tragen häufig Spuren der diversen totalitären Regimes des zwanzigsten Jahrhunderts. Ob Täter oder Opfer, die politischen Ideen und Systeme haben das Leben der Menschen gezeichnet: Tabucchi ist insofern "engagierter Schriftsteller", als er davon Zeugnis ablegt, jedoch auf oft überraschende Weise. In "Die Toten bei Tisch" etwa, einer spröden und doch anrührenden Erzählung, wird ein Tag im Leben von Karl erzählt, einem ehemaligen Stasi-Agenten, der im Kapitalismus einen üppigen Ruhestand genießt. Das schicke Haus "Unter den Linden" täuscht nicht über die existentielle Leere hinweg: Karl fährt fort, Passanten zu observieren, um der verfließenden Zeit eine Richtung zu geben.

Die Grundierung ist melancholisch, die Freude jedoch nicht nur oberflächlich: Im Grunde ist Tabucchi Optimist. Die Mischung von Optimismus und Engagement kann scheitern, besonders, wenn sie pädagogisch wird; das belegt die rührselige Geschichte "Wolken", in der ein ehemaliger Soldat sich mit einem kleinen Mädchen über Sinn und Unsinn des Krieges unterhält. Der Ausrutscher zeigt aber nur, dass dem Autor ansonsten die Balance gelingt: Die Erzählungen, von Karin Fleischanderl verlässlich übertragen, sind ein Beleg von Tabucchis gelassener Herrschaft über die literarische Zeit.

NIKLAS BENDER

Antonio Tabucchi: "Die Zeit altert schnell".

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Hanser Verlag, München 2010. 176 S., geb., 16,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Als neun Variationen des Versuchs, den Begriffen "Wirklichkeit, Erinnerung und Kunst erzählerisch auf die Spur zu kommen", charakterisiert Rezensent Andreas Isenschmidt die Texte dieses Erzählbands, die er bereits kompositorisch höchst gelungen findet. Denn die Schlüsselbegriffe der Texte stünden stets im Zentrum von Antonio Tabucchis Erzählungen, deren Protagonisten Isenschmidt sich an entscheidenden Punkten in ihr Inneres zurückziehen sieht. In diesen Momenten entsteht seiner Beschreibung zufolge ein "seelischer Nebel", in dem die Vergangenheit so lebendig hervortritt wie die Gegenwart. Einige Geschichten sind etwas oberflächlich, so Isenschmidt, dem auch die Interpretationslust Tabucchis nicht besonders schmeckt. Aber andere Geschichten findet er "wirklich verblüffend", wozu sicher auch Tabucchis raffinierte Erzählkunst beigetragen hat.

© Perlentaucher Medien GmbH