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Produktdetails
  • Fischer Taschenbücher 15661
  • Verlag: FISCHER Taschenbuch
  • Originaltitel: Sheti'i li ha-sakin
  • Artikelnr. des Verlages: 1007287
  • 4. Aufl.
  • Seitenzahl: 416
  • Deutsch
  • Abmessung: 190.00mm
  • Gewicht: 302g
  • ISBN-13: 9783596156610
  • ISBN-10: 3596156610
  • Artikelnr.: 10644408
Autorenporträt
Grossman, DavidDavid Grossman, geboren 1954 in Jerusalem, studierte Philosophie und Theater an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er gehört zu den bedeutendsten Erzählern der israelischen Gegenwartsliteratur. Seine Romane, Sach- und Kinderbücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. 2010 erhielt Grossman den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels; 2017 den Man Booker International Prize für »Kommt ein Pferd in die Bar«. Zuletzt erschien der Roman »Was Nina wusste« im Carl Hanser Verlag, München.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Sei mir das Messer, mit dem ich in mir wühle
David Grossmann spielt Kafka Von Hermann Kurzke

Die ersten dreihundert Seiten von David Grossmans neuem Roman sind quälend. Einer stülpt sein Innerstes nach außen, in endlosen Brieferuptionen an eine Frau, die er nur ein einziges Mal flüchtig gesehen hat, wie sie mit gebrochenem Lächeln die Arme um sich schlug. Es soll kein Treffen zwischen ihnen geben, die Wirklichkeit soll ihre Wurstfinger nicht an sie legen dürfen. Beide sind ja auch verheiratet, und zwar verhältnismäßig glücklich.

Aber dem Traum von den Möglichkeiten ist auch die beste Wirklichkeit nicht gewachsen. Nur um so größer scheint die Sehnsucht nach der Freiheit, ja, der Schamlosigkeit der verbalen Entblößung zu sein. Die Frau dient ihm als Erdloch, in das er seine schmutzigen Geheimnisse hineinschreit. In furiosen Kaskaden stürzt eimerweise Banales und Brutales, Kindisches und Perverses, Ekliges und, ganz selten, Edles auf den Leser herab, zwischen Brocken von Bildung und Bibel, Alltag und Geschichte Israels. Der Orchesterton dieses Mannes schwillt von kaum verständlichem Murmeln bis zu ekstatischem Geschrei und pubertärer Großmannssucht an, zieht die Register der schweinischen Lüsternheit und des bodenlosen Nihilismus, bläst zynisch auf Schmerz-Schalmeien, kennt aber auch die Hirtenflöte poetischen Zartsinns.

Jair, so sein Name, spielt mit Mirjam das Spiel Kafka und Milena. Sei mir das Messer, mit dem ich in mir wühle. Mirjam aber, das stellt sich später heraus, haßt den aufgeregten Existentialfimmel. Es sei dem Menschen verboten, ja, verboten, einem anderen solcherart als Messer zu dienen. Sie versteht Milena nicht, sie versteht Jair nicht - und wir verstehen nicht, warum sie sich dann einläßt auf Jairs finsteres Spiel.

Denn sie will etwas ganz anderes. Sie will das Leben und die Liebe, nicht die kalte Abstraktion der verbalen Exzesse. Sie ist warm, bescheiden und diskret, ganz im Gegensatz zu ihm. Die echten Gefühle bedürfen der Verbalonanie nicht. Wer wirklich liebt, muß nicht täglich die Blumenzwiebeln ausgraben, um nachzusehen, wie lang die Wurzeln heute sind. Die nächsten hundert Seiten, sehr viel angenehmer zu lesen, bestehen aus dem Tagebuch, das Mirjam beginnt, nachdem er sich restlos ergossen und sie abserviert hat. Was ausgesprochen ist, ist erledigt, das wußte schon Thomas Manns Tonio Kröger, und erledigt ist Jair, als er im letzten seiner Briefe, nach allen Exaltationen, sein Inkognito lüftet und voller Selbstverachtung seine gewöhnliche bürgerliche Existenz - Name, Beruf, Adresse - preisgibt. Daß sie das sorgsam Verschwiegene längst wußte, ist eine hübsche Pointe. Sie stört sich nicht an seinem bürgerlichen Teil.

Im dritten und letzten, sehr kurzen Stück kommt es zur Begegnung, und zwar nicht auf dem existentialistischen Hochseil, sondern in den Niederungen seines Kleinbürgertums. Mirjam braust mit dem Mini herbei, als sie erfährt, daß Jair sein Kind mit absurder Prinzipienreiterei quält. Der Fünfjährige sitzt seit Stunden im Hemd draußen im Regen und soll erst wieder ins Haus dürfen, wenn er sich entschuldigt! (Dafür, daß er getrödelt hat.) Vatertrotz steht gegen Sohnestrotz. Als Mirjam hinzutritt, endet das Buch abrupt.

Normalerweise hätten an dieser Stelle Trotzerweichung und Ehebruch zu folgen. Es könnte aber auch sein, daß Mirjam/Milena von Jair/Kafka wieder weggeschickt wird, um die Wirklichkeitsreinheit seiner Wortewelt nicht zu gefährden. Daß der Autor uns die Lösung vorenthält, gehört wohl zur künstlerischen Absicht des Buches. Aber es ist eine allzu absichtliche Absicht, und obgleich das Buch aufwühlend ist hier und da, hinterläßt es doch Überdruß, weil es so konstruiert ist. Solche Bücher schreibt nicht das Leben, sondern ein Literat, der etwas ausprobieren will. Eine starke Etüde ist dabei herausgekommen, ein abgezirkeltes Training in begrenzten Fertigkeiten, aber kein Werk. Das Kokettieren mit Kafka setzt einen Maßstab, der ist eben auch wie ein Messer.

David Grossman: "Sei du mir das Messer". Roman. Aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling. Carl Hanser Verlag, München 1999. 408 S., geb., 45,- DM.

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