Produktdetails
  • Verlag: Princeton University Press
  • Seitenzahl: 272
  • Erscheinungstermin: 21. Februar 2011
  • Englisch
  • Abmessung: 216mm x 140mm x 20mm
  • Gewicht: 320g
  • ISBN-13: 9780691143286
  • ISBN-10: 0691143285
  • Artikelnr.: 26405036
Autorenporträt
Cass R. Sunstein is the Administrator of the Office of Information and Regulatory Affairs in the Obama Administration and the Felix Frankfurter Professor of Law at Harvard University. He is the author of many books, including the New York Times best-seller Nudge (with Richard Thaler), Infotopia, Republic 2.0, Worst-Case Scenarios, Radicals in Robes, Why Societies Need Dissent, and Democracy and the Problem of Free Speech.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2017

Meinungen sind eben nichts Natürliches
Der Verfassungsrechtler Cass Sunstein überlegt, wie sich demokratische Öffentlichkeit gegen die Effekte sozialer Netzwerke immunisieren lässt

Von James Madison, einem der Gründerväter der amerikanischen Verfassung, stammt die Vorstellung, dass die vielfältigen Interessen und Meinungen innerhalb einer Gesellschaft über den Prozess der demokratischen Repräsentation ausgeglichen und integriert werden können. Nicht klein müsse eine Republik sein, argumentierte Madison, sondern groß. Dann nämlich werden die heterogenen Auffassungen schon im Vorfeld der Wahl in den Stimmbezirken miteinander konfrontiert, und durchsetzen können sich nur Kandidaten, denen es gelingt, zwischen den Parteimeinungen einen Ausgleich herzustellen. Demokratische Repräsentation ist nach diesem Verständnis ein Verfahren der Veredelung bloßer Milieu- und Parteiinteressen.

In Deutschland hat sich diese Vorstellung nie etabliert. Auf das Verhältniswahlrecht und den Typus der Schichten- und Milieuparteien ist sie auch schwer übertragbar. Hier gilt Repräsentation als möglichst authentische Vertretung und Beteiligung der großen sozialen Gruppen an der Herrschaft. Rein von ihrem normativen Demokratiebegriff her betrachtet, ist deswegen die vergleichsweise homogene deutsche Gesellschaft weniger auf den kommunikativen Austausch der unterschiedlichen Interessengruppen angewiesen als die sozial weitaus desintegriertere Gesellschaft der Vereinigten Staaten.

Das Buch, das Cass Sunstein über die Veränderung demokratischer Politik durch die sozialen Medien geschrieben hat, ist deswegen ein sehr amerikanisches Buch. Sunstein lehrt Verfassungsrecht an der Harvard University und war in der ersten Amtszeit Barack Obamas im Weißen Haus in leitender Funktion unter anderem für die Evaluation und Kosten-Nutzen-Analyse von Gesetzgebungsvorhaben verantwortlich. So hat er auch ganz persönlich Anlass, sich nach dem Wahlsieg Donald Trumps, bei dem die sozialen Medien definitiv ihre Unschuld verloren haben, über Auswirkungen der Netzwerke auf die Meinungsbildung und Möglichkeiten des politischen Gegensteuerns Gedanken zu machen. Wir dürfen, schärft er seinen Lesern ein, die Augen nicht davor verschließen, dass mit den sozialen Medien und der Fragmentierung der medialen Öffentlichkeit der demokratische Begriff des Bürgers zerfällt.

Die Probleme, die Sunstein unter Verweis auf zahlreiche verhaltensökonomische Studien beschreibt, sind inzwischen im Groben allgemein geläufig: Wer die "New York Review of Books" liest, begegnet darin mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Darstellungen, die zur Überprüfung eigener Ansichten Anlass bieten. Liest man hingegen nur das, was einem die Algorithmen von Facebook, Twitter und Instagram anbieten, weil man es aufgrund der im eigenen Profil gespeicherten Präferenzen vermutlich "liken" wird, ist diese Wahrscheinlichkeit signifikant geringer. Die sozialen Medien wirken so wie Echokammern, die ihren Benutzern vorwiegend bieten, was sie in ihren Meinungen bestärkt. Anders als urbane Öffentlichkeiten erlauben sie es, sich diskursiv ausschließlich in meinungshomogenen Gruppen zu bewegen. Mitglieder solcher Gruppen aber radikalisieren sich tendenziell, weil die Äußerung immer noch extremerer Ansichten eine Chance ist, sich interessant und wichtig zu machen.

Was lässt sich dagegen tun? Appelle an die Bürgertugend, sich doch, bitte schön, mit anderen Meinungen verstärkt zu befassen, und zwar am besten auch in zivilerem Ton, werden jedenfalls nicht weiterhelfen. Sunsteins Strategien gegen Meinungsblasen bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen. Eher naiv wirkt der Vorschlag, "deliberative domains" einzurichten, auf denen sich "Menschen mit unterschiedlichen Ansichten" austauschen können. Gerade die Problemgruppen würden auf solche Angebote wohl nur dann zurückgreifen, wenn man vorher alle anderen abschaltet. Schon eine andere Qualität hat die Empfehlung, Medienanbieter generell zur Offenlegung von Interessenkonflikten zu zwingen. Auch diskutiert Sunstein verschiedene Möglichkeiten, durch die Gestaltung der Facebook-Software reale Meinungsvielfalt besser sichtbar zu machen, und erinnert zaghaft daran, dass das Fernsehen nicht unbedingt allein privaten Veranstaltern überlassen werden muss. So lässt sich Sunsteins Argumentation implizit nicht zuletzt als große Apologie des deutschen Modells des öffentlich-rechtlichen Rundfunks lesen.

In den europäischen Debatten über diese Themen helfen seine Überlegungen allerdings nur begrenzt weiter. Dass Öffentlichkeit nicht einfach aus der Konfrontation beliebiger Meinungen entsteht, ist in Westeuropa weitgehend akzeptiert. Eine funktionierende Öffentlichkeit setzt neben der Meinungsfreiheit vielmehr zahlreiche Regeln voraus, die vom Rundfunkrecht über die Strafbarkeit der Beleidigung und das Recht auf Gegendarstellung bei unzutreffenden Behauptungen bis zur Öffentlichkeit von Parlamentsdebatten reichen. Meinungen sind eben, woran auch Sunstein leitmotivisch erinnert, nichts Natürliches, sondern immer schon mitgeformt durch Regeln, Institutionen und Sozialstruktur. Es ist dieser europäische, tendenziell regelungsfreundliche Begriff von Öffentlichkeit, von dem Sunstein seine amerikanischen Leser überzeugen möchte.

Den Anspruch des Titels löst das Buch aber allenfalls zur Hälfte ein. Was nämlich in Sunsteins Analyse der "#republik" bemerkenswerterweise überhaupt nicht vorkommt, ist die professionelle, verfasste Politik: die staatlichen Ämter und Organe. Gerade in der Konzeption der amerikanischen Gründerväter sollten es ja die repräsentativen Verfassungsinstitutionen sein, vor allem die Legislative, in der die heterogene Gesellschaft ihre inneren Antagonismen austragen kann.

Doch auch diese Institutionen verändern sich fundamental, wenn die Repräsentanten einerseits unter Dauerbeobachtung der sozialen Netzwerke stehen und mit deren Hilfe andererseits auf die Bühne der Institutionen kommunikativ gar nicht mehr angewiesen sind. Die Tea-Party-Bewegung und die ideologische Fragmentierung der Parteien im amerikanischen Kongress sind, so gesehen, zumindest auch Social-Media-Phänomene. Hier aber, in der Arbeitsweise und Legitimation der verfassten Institutionen, liegt das vordringliche Problem. Wäre es gelöst, wären die politischen Konsequenzen der sozialen Medien deutlich entschärft.

FLORIAN MEINEL

Cass Sunstein: "#republic". Divided Democracy in the Age of Social Media.

Princeton University Press, Princeton und Oxford 2017. 310 S., geb., 24,99 [Euro].

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