Produktdetails
Trackliste
CD
1Mein Ruin00:05:45
2Kapitulation00:04:15
3Aus meiner Festung00:05:18
4Verschwör dich gegen dich00:04:11
5Wir sind viele00:06:54
6Harmonie ist eine Strategie00:04:35
7Imitationen00:04:17
8Wehrlos00:03:49
9Dein geheimer Name00:04:00
10Sag alles ab00:02:02
11Luft00:05:13
12Explosion00:03:46
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2007

Studienabbruch, Kündigung, Erlösung
"Tocotronic" verwandeln sich auf ihrer neuen Platte "Kapitulation" in Streikposten der Wiedehopf-Gewerkschaft

Gretchen ist einundzwanzig Jahre alt, Studentin und aus Geschmacksgründen nur minimal tätowiert. Sie lebt lustig, mal abgesehen von den Studiengebühren, der lästigen Wohnerei und dem gelegentlichen Zahnarztbesuch, die leider alle Geld kosten. Weil ihre Eltern winzig kleine Angestellte sind und außerdem noch andere Kinder haben, muss Gretchen, um sich Studium, Bude und Zähne leisten zu können, mit drei Jobs jonglieren. Am Samstag darf sie in der Videothek an der Kasse jungen Männern erklären, dass zu spät zurückgebrachte Pornos Nachgebühren kosten. Am Montag beschweren sich aufgebrezelte Broker-Tanten im Bistro an der Börse bei ihr, dass der Toast nach nassen Socken schmeckt. Am Mittwoch muss sie sich im Call-Center einer großen Versicherung konzentrieren, damit sie Herrn Doktor Maurer mit Herrn Oberländer beziehungsweise Herrn Oberländer mit Direktor Hollenbach richtig verbindet.

Komplett kaputt kommt sie nach einer dieser Schichten heim in die schlecht gelüftete WG und brennt sich widerrechtlich "Kapitulation", die neue Platte von "Tocotronic". Da gibt es viel zu hören, was man so überzeugend selten zu hören bekommt: Beim Liedeinstieg von "Luft" zum Beispiel sorgen harmonieverweigernde Akkordbrechungen schon vor der ersten Textzeile für einen schönen Drehschwindel im Innenohr (alte Schrägrockschule, man erinnert sich gerührt an "Pavement"). Gitarren in feuchten Tüchern werden von behender Bass-Arbeit durch eine gedrungene Geräuschlandschaft geknufft (was die kalkuliert obertonarme Grundstumpfheit des tragenden Teils dieser Musik, sozusagen ihr verlässlicher Tortenboden, den Griffen des Bassisten Jan Müller verdankt, kann man eigentlich weder sagen noch schreiben, sondern nur brummen).

Auch Arne Zanks Schlagzeugtricks sind heuer gut beieinander, ziehen mit Kajalstift den Trommelfellrand nach, überführen Hacken in Hämmern und kauzige Kreuzschläge. Das Keyboard wiederum, ein Instrument, das jede Rockmusik sowohl beschädigen wie erweitern kann, führt hier erlöste Glöckchen ebenso locker mit sich wie kecke Pfeifspitzen; einige Mikro-Tupfen, die Rick McPhail setzt, machen auf der Platte so viel Platz frei wie sonst nur zehnstündige Jazzrockimprovisationen auf Zeltmusikfestivalbühnen. Aus allem und in alles aber, was da zwischen Koboldsgrimasse und Sozialständchen geboten wird, führt Dirk von Lowtzows sommerabendlau zersäuselter Gesang, bei dem man förmlich vor sich sieht, wie ihm die Stimme hinten aus der Hose hängt, am Saum des T-Shirts: "Mein Ruin ist weiterhin / eine Arbeit ohne Sinn / Etwas, das man nie bereut / eine Abgeschiedenheit".

Nicht nur quengeln kann der Streuner, auch deklamieren, in köstlich labbriger Entschlossenheit, mit diesem süßen Lispel-Laut, der, obwohl es sich dabei um ein "s" handelt, immer an das End-"ff" in englischen Wörtern wie "tough" und "enough" erinnert: "Lasst uns an alle appellieren / Wir müssen kapitulieren". Ein bisschen später geht es sogar ganz enthemmt zur Sache, fistulierend, phonasthenisch, auf dem allerletzten Loch: "Spreng deine Ketten in die Luft / Und lass das Scheusal doch zu Hause / Die Prüfung findet heut nicht statt / die Karriere macht mal Pause."

Gretchen nimmt all das aufmerksam zur Kenntnis, besonders die Texte; deshalb stellt sie, sobald sie mit dem ersten konzentrierten Durchhören fertig ist, sofort die berühmte, nach ihr benannte Frage; in einer allerdings ganz neuen Variante: "Hat der sie eigentlich noch alle, dieser Herr von und zu Rockmusik? Welche Karriere denn? Wieso bin ich ein Scheusal, wenn ich auf dem deregulierten Tagelöhnermarkt die letzten Cents aus dem Service-Gulli fische, damit ich mir CD-Rohlinge kaufen kann? Weshalb sollte ich ,den Ruin' als superschlau dunkel metaphorische Arbeit betreiben wollen, wenn doch der ganz handfeste, konkrete Realruin, sobald ich mich nicht mehr wie bekloppt nach der Decke strecke, von ganz allein eintritt, und zwar mit Pauken, Trompeten, und wieder bei den Eltern einziehen? Ich kann von Glück sagen, wenn ich in diesem Stinkloch wohnen bleiben darf, von wegen Kapitulation, was träumt der eigentlich nachts, dieser Tocotronic?"

Halt. Auszeit. So unverwickelt liegen die Dinge ja nun auch wieder nicht. Wenn's erlaubt ist, stellvertretend für "Tocotronic", die dazu im Moment keine Zeit haben (Platte, Interview, Tournee, Karriere, Ihr wisst schon . . .), mal eben eine Antwort zu riskieren: Gerade das ist doch der Witz, Gretchen, dass nur Leute, die deine Sorgen momentan nicht haben, überhaupt die Zeit finden, jene absurden und menschenunwürdigen gesellschaftlichen Ansprüche ans gegängelte Individuum im fetzigen Lied zurückzuweisen, deren absolut eiserne Geltung bis in die letzten postpubertären Dämmernischen hinein dein Leben so garstig macht. Natürlich ist der dümmste Neo-Yuppie nicht halb so ein großer Gangster wie die politischen Funktionsträger der späten Arbeitsgesellschaft, die einerseits dafür gesorgt haben, dass dein Studium wegen der Jobberei länger geht als vor zwanzig Jahren je ein vergleichbares, andererseits aber Verordnungen erlassen, die festlegen, dass dieses Studium gefälligst schnell runtergerissen werden muss. Selbstverständlich wären Lieder gegen asoziale Streber, so, wie die Dinge liegen, völlig anachronistischer Hippiekäse.

Aber "Tocotronic" wollen gar nicht, dass du dich kiffend auf den Rücken legst, die Beine in die Luft streckst wie ein ausgetrockneter Käfer und dich weise lächelnd in dein Schicksal fügst. Sie tun nur so, als wäre "aufgeben" immer noch besser als "nach den bestehenden Regeln siegen", weil sie Moralisten sind, wie alle inspirierten Kleinbürger. Wenn "Tocotronic" dem Zusammenbruch die Stange halten, ihren eigenen Subjektstatus anzweifeln, nicht ein noch aus wissen wollen und dabei in jedem künstlerisch belangvollen Sinne erfolgreicher als je zuvor swingen und röhren, dass die Schwarte zittert, dann wird aus dem gewollten Aufeinanderprallen von einerseits hörbarer Souveränität der Verfügung übers künstlerische Material und andererseits textlicher Absage an jede Souveränität, jeden herrschaftlichen Zugriff auf die Welt, ein sogenannter performativer Widerspruch, und zwar ein extrem zeitgemäßer.

Das sind Posen, keine Befehle. Und es sind die richtigen Posen: Die Jungs verhalten sich in etwa so wie eine Attentäterin, die einen Mordanschlag auf den Sensenmann unternimmt, weil sie es mit Recht nicht mehr mit ansehen mag, dass so viel gestorben wird. "Kapitulation" ist nicht einfach Musik, sondern Musiktheater, dessen Zweck lautet: Mit der eingenommenen Rolle gegen das alte Erfolgsmenschenmissverständnis der Vitalität von Rockmusik überhaupt ansingen; etwa so, wie die Rheintöchter am Ende von Wagners "Rheingold" in den tosenden Jubel über das Richtfest der Götter die Beschwerde mischen: "Falsch und feig ist, was dort oben sich freut."

Da will man lieber auf der Seite derer stehen, die sich nicht mitfreuen - der Tiere zum Beispiel: "Die Vögel im Baum / Sie kapitulieren / Die Füchse im Bau / sie kapitulieren." Ja, da ist es wieder, das liebe Viechzeug, das mit seinem Sinn für die vorsprachliche, "unausgebildete Wirklichkeit" (Hegel) und seiner kompletten Arbeitsverweigerung zur Zeit von "Kante" bis "Blumfeld" überall mitlärmen darf (der Wiedehopf, der Wiedehopf . . .). Dass "Tocotronic" sich lieber der Gefahr aussetzen, in schlammigem Weltverzicht zu versumpfen, als jenen furchtbaren Leuten etwas zu Beißen zu geben, die immer glauben, Popmusik sei etwas grundsätzlich Putziges, Drolliges und Flippiges, das graue Tage bunter macht, führt sie in die Nähe von Künstlern, welche das Spaßpublikum anders als "Tocotronic" nie gekannt hat. Manchmal legt sich auf die neuen Songs urplötzlich der wunderschöne Schatten etwa der ersten Platte von "Brüllen", "Schatzitude", mit ihren hochbeweglichen Machtabsagen ("Ich bin jetzt dicht am Krach dran / schwächer werden / man kann noch schwächer werden"), die jetzt auch schon wieder genau zehn Jahre alt ist (die beste Definition von "als deutsch singende Rockband ästhetisch vorne sein" lautet wohl: "da sein, wo Kristof Schreuf vor zehn Jahren war").

Sieht Gretchen das ein? Nichts da: Kapitulation, sagt sie, sei was für Wehrmachtsgeneräle; die Kommunisten dagegen, von denen einzig die Rettung aus der Lohnarbeitsfalle kommen könne, hätten noch keinen Krieg verloren, weder gegen Hitler noch in Vietnam, nur den Frieden hielten sie manchmal nicht durch. Na schön, Gretchen, aber reg dich ab, lass doch mal Fünfe gerade sein, der Artikel ist eh voll - enjoy the summer, Freiheit für Jochen Distelmeyer, kauft keine Drogen bei Nazis, man sieht sich im Himmel!

DIETMAR DATH

Tocotronic, Kapitulation. Vertigo/Universal 1735086

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr