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Wie kann Massenmord zur Alltagsroutine werden? Im Sommer 1942 wurde ein Bataillon der Hamburger Polizeireserve, etwa 500 Männer, die zu alt zum Dienst in der Wehrmacht waren, nach Polen zu einem Sonderauftrag gebracht. Dort wurde ihnen eröffnet, dass sie die jüdische Bevölkerung in polnischen Dörfern aufspüren, die noch arbeitsfähigen Männer für den Lagereinsatz aussondern, die übrigen - Alte, Kranke, Frauen und Kinder - auf der Stelle zu erschießen hätten. Vor dem Einsatz machte der Kommandant den Leuten das Angebot, wer sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle, könne sein Gewehr abgeben und…mehr

Produktbeschreibung
Wie kann Massenmord zur Alltagsroutine werden? Im Sommer 1942 wurde ein Bataillon der Hamburger Polizeireserve, etwa 500 Männer, die zu alt zum Dienst in der Wehrmacht waren, nach Polen zu einem Sonderauftrag gebracht. Dort wurde ihnen eröffnet, dass sie die jüdische Bevölkerung in polnischen Dörfern aufspüren, die noch arbeitsfähigen Männer für den Lagereinsatz aussondern, die übrigen - Alte, Kranke, Frauen und Kinder - auf der Stelle zu erschießen hätten. Vor dem Einsatz machte der Kommandant den Leuten das Angebot, wer sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle, könne sein Gewehr abgeben und würde dann zu einer anderen Aufgabe eingesetzt. Nur etwa 12 Männer von fast 500 traten vor. In ganz Polen und Russland wüteten in der Folgezeit diese Polizeibataillone, erschossen Zigtausende von Menschen und brachten weitere Zigtausende in Konzentrationslager.
Autorenporträt
Christopher R. Browning, geb. 1944, ist Professor für Geschichte an der Pacific Lutheran Unversity, Tacoma, Wahington.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.1999

"Eine furchtbar unangenehme Aufgabe"
Eine Neuauflage von Brownings Studie zum Reserve-Polizeibataillon 101 mit einem Nachwort zur Goldhagen-Debatte

Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen. Deutsch von Jürgen Peter Krause. rororo Sachbuch 60800. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996. Neuausgabe 1999 mit einem Nachwort, übersetzt von Thomas Bertram. 331 Seiten, Abbildungen, 16,90 Mark.

Wieder einmal wird evident, dass Bücher Schicksale haben. Vollständig zitiert, sagt die berühmte lateinische Sentenz: "Je nach Fassungskraft des Lesers haben die Bücher ihre Schicksale." Brownings Buch erlebt nun sogar ein Doppelschicksal. Zum einen begegnet dem Leser das, was geschehen und hier dokumentiert ist, als unfassbar Entsetzliches. Zum anderen entdeckt er - sofern er nicht direkt der Zunft der Zeithistoriker angehört - ein neues Buch, das aber eigentlich ein älteres ist; älter jedenfalls als Daniel Jonah Goldhagens Untersuchung über "Hitlers willige Vollstrecker", worin eines von sechs Hauptstücken ebenfalls die Polizeibataillone zum Thema hat. Brownings Originalausgabe erschien 1992, Goldhagens 1996. Die deutschen Übersetzungen entsprechend 1993 und 1996. Beide Autoren sind Professoren für Geschichte an amerikanischen Universitäten - Browning in Tacoma, Washington, Goldhagen in Harvard. Beide haben vor Ort die Quellen studiert, unter anderem in den Archiven von Yad Vashem, Ludwigsburg, Koblenz und vor allem die Hamburger Gerichtsakten. Beide rekonstruieren die Geschehnisse weithin übereinstimmend. Beider Schuldspruch ist umfassend. Allerdings interpretieren sie das Verbrechen sehr unterschiedlich, beziehen sich daher in ihren Büchern aufeinander und polemisieren gegeneinander. Goldhagen in den Anmerkungen, Browning in einem vierzigseitigen Nachwort, das der Neuausgabe seiner Studie neue Brisanz gibt.

Zunächst jedoch zu den Vorgängen selbst. Die "Endlösung" war beschlossen. Mit der Maßgabe, zur Entlastung der kämpfenden Truppe im besetzten Polen und in der Ukraine Ruhe und Ordnung zu sichern, wurden große Polizeikontingente nach Osten verlegt. Sie hatten, wie sich bald herausstellte, daran mitzuwirken, dass diese Gebiete "judenfrei" wurden. Seit 1936 unterstand die so genannte Ordnungspolizei (inklusive Schupo, Kripo und Gestapo) Heinrich Himmler. Um 1940 umfasste sie bereits 100 Bataillone, eingesetzt im In- und Ausland. Sowohl sehr junge Wehrpflichtige als auch mehr und mehr ältere Reservisten wurden rekrutiert. Die 500 Mann des Reserve-Polizeibataillons 101 waren im Durchschnitt 40 Jahre alt, die Unteroffiziere etwas jünger, die Leutnants etwas älter, die beiden der SS angehörenden Kompanieführer Ende 20 und der Bataillonskommandeur, Polizei-Major Trapp, 53 Jahre alt. Allein auf das Schuldkonto dieses Bataillons, stationiert im Distrikt Lublin, gehen vom Juni 1942 bis Oktober 1943 rund zwei Dutzend "Aktionen" mit 38 000 erschossenen und 45 000 nach Majdanek, Poniatowa und Treblinka deportierten Männern, Frauen und Kindern. Dies ist lückenlos dokumentiert, weil durch Zufall die Dienstpläne erhalten geblieben sind.

Von 1962 bis 1972 dauerte in Hamburg das Verfahren mit 210 Vernehmungen und 125 Täteraussagen. Vierzehn Anklagen, elf Verurteilungen und fünf Haftstrafen kamen schließlich zustande. Browning, der die Bedingtheiten eines rechtsstaatlichen Prozesses durchaus in Betracht zieht, bilanziert: "Es bleibt zu hoffen, dass die Vernehmungsprotokolle für die Geschichtsforschung von größerem Nutzen sein werden, als sie es für die Rechtsprechung gewesen sind."

Die Polizisten waren kaum drei Wochen in Polen, als sie ihren ersten Mordauftrag erhielten. Major Trapp sagte vor dem fast vollständig angetretenen Bataillon, "man stehe vor einer furchtbar unangenehmen Aufgabe, die Sache sei höchst bedauerlich, aber der Befehl komme von ganz oben". Um Fassung bemüht, mit den Tränen kämpfend, erklärte er, dass die jüdischen Bewohner von Józefów zusammenzutreiben, arbeitsfähige Männer auszusondern, Kranke, Alte, Frauen und Kinder aber zu erschießen seien. Wer sich diesem Auftrag nicht gewachsen fühle, könne sich melden. Zwölf von mehr als vierhundert traten zögernd vor. Sie wurden ebenso wie ein Reserveleutnant, der sich als einziger prinzipiell weigerte, jemals an Erschießungen Wehrloser beteiligt zu werden, anderweitig eingesetzt. Als die Häuser geräumt, die "Arbeitsjuden" abtransportiert und "vom Wald her die ersten Salven zu hören waren, erscholl auf dem Marktplatz ein vielstimmiger, fürchterlicher Schrei . . ." 1500 starben an diesem 13. Juli durch Genickschuss und wurden liegen gelassen, bis Einheimische sie bestatteten. "Bedrückt, verbittert und erschüttert" kamen die Polizisten in ihren Unterkünften und beim bereitgestellten Alkohol an. Fortan gab es bei ähnlich organisierten Massakern immer etliche Polizisten mit Ausweichverhalten. Wer sich vom Schießkommando absetzte, versteckte, "verkrümelte", auch einmal befreien ließ oder danebenschoss, wurde kaum bestraft. Insgesamt aber stellen die Chronisten abstumpfende Verrohung fest. "Massenmord und Alltagsroutine wurden eins."

Schon Hannah Arendt hat ihrem Befund der "Banalität des Bösen" den Faktor Arbeitsteilung zugerechnet. Wenn die so genannten "Hiwis" (Hilfswillige) oder "Trawnikis" (Angeworbene aus den Kriegsgefangenenlagern der besetzten sowjetischen Gebiete) das Schießkommando, die Reservepolizisten indessen das Wach-, Räum- und Begleitkommando bildeten, mochte der Einzelne sich entlastet fühlen. Die Effizienz des Ganzen nahm zu. Umgekehrt wirkte sich auch unter den Opfern die Infamie des Prinzips "Teile und herrsche" aus. Wer hoffen konnte, durch Arbeit zu überleben, blieb duldsam und nach Kräften kooperativ. Erst als die Hoffnung schwand, flammten Rebellionen auf.

Zu den erschütterndsten Fluchtversuchen gehören jene, die durch die Lüftungslöcher eines dahinkriechenden Deportationszuges gewagt wurden. An jeder Station nagelten die Schergen neuen Stacheldraht davor. Bei brüllender Hitze, zusammengepfercht in 50 Güterwagen, waren die Gefangenen vom galizischen Kolomea bis zum Lager Belzec 72 Stunden lang unterwegs. Als den Bewachern die Munition ausging, wurden die Fliehenden mit Steinen beworfen. 2000 von 8000 kamen tot am Lagerbahnhof an. Dem grausigen Amtsdeutsch des hierzu gegebenen Transportberichts sind Auskünfte über den Holocaust zu entnehmen, die jenseits aller Fakten liegen - Euphemismen noch und noch! Die Deportierten steigen nicht in den Zug, sie werden "einwaggoniert", sind nicht krank, sondern "verseucht", werden nicht getötet, sondern "beseitigt". Von Personen oder gar Menschen ist nie die Rede. Es sind "Juden" - und falls sie den Sprung aus dem Zug überlebten und bei der Ankunft als Fehlbetrag registriert wurden, nicht geflohene, sondern "entwichene Juden". Wesen also, die erst systematisch ausgegrenzt und dann verelendet wurden, um jene von der SS-Führung erwünschte Entfremdung herzustellen, die bei den Mördern die Hemmschwelle zu senken vermochte.

Handelte es sich nun insgesamt um blanken Antisemitismus? Präzise legt Browning alle für sein Forschungsfeld relevanten Motivketten frei. Immer wenn Anonymität nicht gegeben war, wenn zum Beispiel jüdische Küchenmädchen aus der Polizeikaserne abgeführt oder unter den Deportierten deutsche, gar Juden aus der eigenen Stadt erkannt wurden, kam es zu Befehlskonflikten. Abgesehen von solchen Fällen der Anteilnahme konstatiert er auf Grund von Täter-Aussagen "eine gewisse Abneigung", quasi die nazistisch beeinflusste Variante von Xenophobie - zumindest angesichts der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa. Einerseits, sagt Browning, können Hass, Wut und Schmerz, wie sie der Frontkämpfer erlebt, den in der Etappe unbedroht agierenden Ordnungspolizisten die Antriebe nicht gegeben haben. Andererseits widerspricht er Goldhagens kategorischer Behauptung, die Sorge der Polizisten um ihre Familien im bombardierten Hamburg sei "fadenscheinig", und es entspreche der "Logik eines Wahnsinnigen", wolle man damit "die totale Vernichtung der notleidenden jüdischen Gemeinden . . . Hunderte von Kilometern entfernt in einem besiegten Land begründen". Im Krieg, meint dagegen Browning, fühlt man polarisiert: wir gegen die anderen - einer Welt von Feinden.

Als ausschlaggebende Faktoren für die Mitwirkung des Polizeibataillons am Völkermord nennt er Gruppendruck und Untertanengeist und gibt Goldhagen zu bedenken, "dass Deutschland eine starke autoritäre Tradition besaß, die den Deutschen das Gehorchen zur Gewohnheit werden ließ und antidemokratische Einstellungen verankerte". Dabei stutzt er des anderen zentrale Antisemitismus-Theorie auch fürs 19. und frühe 20. Jahrhundert auf ein historisch vertretbares Maß zurück. Vor allem jedoch attackiert er den Kollegen hinsichtlich seiner Entscheidung, alle apologetischen Aussagen (aus den Vernehmungsprotokollen) zu ignorieren, sofern sie nicht durch andere Quellen bestätigt werden. "Folglich bleibt Goldhagen nur ein Rest von Aussagen übrig." Fazit: "Eine Methode, die kaum etwas anderes kann als die Hypothese bestätigen, die sie eigentlich überprüfen sollte, sollte indessen nicht mit dem Anspruch strenger Sozialwissenschaft auftreten." Goldhagen wiederum kritisiert: "Browning setzt immer wieder die Zeugenaussagen . . . der Täter mit dem, was wirklich geschah, gleich . . . Die Belege, dass die Bataillonsangehörigen an den Handlungen im Dienste des Völkermords teilnehmen wollten und ihnen zustimmten, fehlen dagegen oder werden fehlinterpretiert."

Die parallele Lektüre drängt auch den Leser zur Stellungnahme. Meine lautet: Christopher Browning, der, was nicht zu verzeihen ist, doch mit großer Umsicht zu klären versucht, kommt der historischen Wirklichkeit am nächsten. Man erkennt im Vergleich zu seiner differenziert deutenden Recherche, um wie viel "akademischer" Goldhagen argumentiert - um wie viel lebens- und todesferner. Für ihn blieb auf Grund seiner starren These vom "eliminatorischen Antisemitismus" Monokausalität wohl unausweichlich.

Es dient aber eben keineswegs der Ummantelung, sondern im Gegenteil der Bloßlegung des Grauens, wenn Browning (wie übrigens vor Jahren schon Sebastian Haffner) zu dem Ergebnis kommt: "Nichts half den Nationalsozialisten so sehr, einen Rassenkrieg zu führen, wie der Krieg selbst."

CORONA HEPP

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