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Am 7. November 1938 schoss Herschel Feibel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris auf den Diplomaten Ernst vom Rath, der seinen Verletzungen kurz darauf erlag. Das Attentat wurde zum Vorwand für eine beispiellose Welle der Gewalt gegen Hunderttausende deutscher Jüdinnen und Juden sowie gegen ihre Wohnungen, Geschäfte und Synagogen in sämtlichen Teilen des Deutschen Reichs und vor aller Augen. Im Zuge der Novemberpogrome wurden u. a. über 30000 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Mit dieser Zäsur fand die mit der Aufklärung einsetzende deutsch-jüdische…mehr

Produktbeschreibung
Am 7. November 1938 schoss Herschel Feibel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris auf den Diplomaten Ernst vom Rath, der seinen Verletzungen kurz darauf erlag. Das Attentat wurde zum Vorwand für eine beispiellose Welle der Gewalt gegen Hunderttausende deutscher Jüdinnen und Juden sowie gegen ihre Wohnungen, Geschäfte und Synagogen in sämtlichen Teilen des Deutschen Reichs und vor aller Augen. Im Zuge der Novemberpogrome wurden u. a. über 30000 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Mit dieser Zäsur fand die mit der Aufklärung einsetzende deutsch-jüdische Epoche ihr katastrophisches Ende. Raphael Gross gelingt es in dieser knappen Darstellung sogar, den Fall Grynszpan in einen neuen Kontext zu stellen.
Autorenporträt
Professor Dr. Raphael Gross, Historiker, leitet das Leo Baeck Institute in London, ist Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main und Direktor des Fritz Bauer Instituts. Er ist u. a. Mitherausgeber von Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugenberichte der Wiener Library (Frankfurt 2008).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2013

Gewaltorgie und administrative Routine
Die Pogrome vom November 1938 waren das Resultat eines fast schon spontanen Einfalls der deutschen Führung

Es war ein sonniger Tag gewesen, ungewöhnlich mild für den Spätherbst. Nur der Sonnenuntergang - am 9. November 1938 um 16.44 Uhr - erinnerte daran, wie weit das Jahr bereits fortgeschritten war. Als es dunkel wurde, kamen sie: "Nachts, pünktlich um 1.30 Uhr, ging es los. SA und SS von Nordhausen und von außerhalb kamen in Autos von einer Versammlung. Sie waren alle betrunken. Man hörte Gejohle in den Straßen, das Einschlagen von Fensterscheiben und Rufe: ,Zur Synagoge!' Aus der Synagoge wurde alles herausgeschleppt und verbrannt, dann wurde die Synagoge selbst angezündet." Alle Juden wurden verschleppt und verprügelt. Noch schlimmer traf es die Männer, die tags darauf ins KZ Buchenwald mussten. Die SS habe sie "mit neunschwänzigen Peitschen buchstäblich ins Lager reingeprügelt", berichtete ein Überlebender.

So war es nicht nur im thüringischen Nordhausen, so war es im gesamten Großdeutschen Reich. Seit dem Mittelalter hatte es eine Nacht wie die vom 9. auf den 10. November 1938 in Deutschland nicht mehr gegeben. Alles ging so schnell, schien so chaotisch und unvorstellbar, dass man sich lange schwer damit tat, hierfür das richtige Wort zu finden: von einer "Reichskristallnacht" war zunächst die Rede. Doch dürfte der Begriff Novemberpogrom diesem Ausbruch an Gewalt eher gerecht werden. Dabei waren Pogrome bislang gerade nicht Kennzeichen des deutschen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts gewesen. Sosehr die NS-Führung den Antisemitismus propagierte, so sehr war sie doch darauf bedacht, die Öffentlichkeit über die Konsequenzen ihrer Politik im Unklaren zu lassen. Hitler und seine Entourage wussten sehr wohl: Ein traditioneller Antisemitismus schien vielen Zeitgenossen diskutabel, auch noch eine systematische bürokratische Ausgrenzung, nicht aber eine eliminatorische. Davon hatte das NS-Regime nun im November 1938 eine erste Ahnung vermittelt.

Obwohl das alles öffentlich geschah, ist vieles an diesem Ereignis nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheint: Warum schoss Herschel Grynszpan am 7. November in Paris auf den Diplomaten Ernst vom Rath? Ging es dem jungen Juden allein um ein politisches Signal? Wie verlief die Entscheidungsfindung der deutschen Führung? Welchen Stellenwert hat dieses Ereignis in der Geschichte der Shoah? Welche Dimension besaß dieser Gewaltausbruch? Wie reagierte die deutsche Gesellschaft? Und schließlich: Wie ist diese Gesellschaft nach 1945 mit dieser Schande umgegangen? Antworten auf diese Fragen bieten nun zwei konzentrierte, kompetente und kluge Überblicksdarstellungen, die zum 75. Jahrestag der Novemberpogrome erschienen sind. Raphael Gross und Alan Steinweis erzählen diese Geschichte genau so, wie sie erzählt werden muss: auf dem neuesten Stand der Forschung, faktenreich und doch spannend, bewegend, zuweilen auch wortgewaltig.

In beiden Büchern wird klar, wie sehr die Pogrome das Resultat eines kurzfristigen, fast schon spontanen Einfalls der deutschen Führung waren. Das soll nicht heißen, dass dieser Ausbruch an Gewalt nicht Teil einer längerfristigen Strategie gewesen wäre. Seit 1933 hatte sich die Situation der deutschen Juden Jahr für Jahr verschlechtert. Aber erst der Pariser Anschlag lieferte Hitlers nervöser Aktionsentschlossenheit das Stichwort und auch einen Vorwand, um seine antisemitische Politik zu forcieren. Schon deshalb durfte in den offiziellen deutschen Verlautbarungen von den wahren Motiven des unglücklichen Grynszpans keine Rede sein. Stattdessen machte die NS-Propaganda aus der Verzweiflungstat eines Einzelnen eine sinistre Verschwörung des "internationalen Judentums". Diese ebenso billige wie wirksame Propagandalüge sollte die Pogrome rechtfertigen, die wiederum die jüdische Auswanderung vorantreiben und damit die deutsche Gesellschaft "kriegsbereit" machen sollten. Das war das eigentliche Motiv derer, die damals das Stichwort für diesen Gewaltausbruch gaben. In ihrem Geschichtsverständnis waren es "die" Juden, welche die Verantwortung für die Revolution der Jahre 1918/19 und damit für die deutsche Niederlage im Weltkrieg trugen. Im Falle eines neuen Krieges sollte dem vorgebaut werden - so die krude "Logik" der deutschen Führung.

Nicht nur die tiefer liegende Zielsetzung dieser Politik wurde mit dem Präzedenzfall des 9./10. November wie mit einem Schlag erkennbar; dieses Ereignis zeigt auch, wie diese Politik zustande kam - auf eine Weise, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheint: Auch hier lag die definitive Entscheidung am Ende allein bei Hitler; von seiner Zustimmung hing alles weitere ab. Andererseits kam die Initiative zunächst von der Basis, die auch in diesem Fall der Führung "entgegengearbeitet" hatte. Es waren erste, spontane Pogrome im Gau Kurhessen in der Nacht vom 7. auf den 8. November, die Goebbels erst auf die Idee für eine solche "Aktion" brachten. Am Beispiel dieses dialektischen Prozesses wird klar, dass ein Geschichtsverständnis, das vor allem das Handeln der zentralen Figuren in den Mittelpunkt stellt, nicht unbedingt in einem Widerspruch zu jenen Deutungen stehen muss, welche wiederum die Eigendynamik des NS-Systems betonen.

Schwieriger zu klären ist hingegen eine andere Frage, die Frage nach der Reaktion "der" Deutschen auf die Pogrome. Dass die Gewalt am Ende das Werk vieler war, wird in beiden Darstellungen klar. Und: Viele Täter - Männer, Frauen, Jugendliche, mitunter auch geschlossene Schulklassen - waren nicht uniformiert. Natürlich gab es auch entgegengesetzte Reaktionen. Doch blieben Widerstand oder zumindest doch Verweigerung gegenüber dieser Orgie an Gewalt und Gemeinheit dünn gesät. Nicht beantwortet ist damit freilich die Frage, was eigentlich die meisten Deutschen in dieser Schicksalsnacht taten. Laut Gross haben sich in Berlin über 10 000 Angehörige von SS, SA und HJ aktiv am Pogrom beteiligt und etwa noch einmal so viel "plündernde Bürger". Wie viele sind das in einer Stadt von 4,3 Millionen Einwohnern? Und was taten die anderen? "Die Mehrheit der Deutschen", so Steinweis, "missbilligte den Pogrom vielleicht, doch die Minderheit derer, die mit seinen Zielen und Methoden sympathisierten, sollte nicht unterschätzt werden." Der Kreis der Täter sei größer als bisher angenommen. Selbst jene, die diese Barbarei abgelehnt hätten, hätten die antijüdische Politik oft dann gebilligt, wenn sich diese gewissermaßen "legal" getarnt hätte.

Solche Einschätzungen haben naturgemäß immer etwas Spekulatives. Genauer Bescheid wissen wir über die Zahl der Opfer. Sie lag deutlich höher als in den internen deutschen Angaben, in denen zunächst von 36, im Februar 1939 dann von 91 jüdischen Toten die Rede ist. Zusammen mit den Juden, die in den Selbstmord getrieben oder nach dem Pogrom in den Konzentrationslagern zu Tode gequält wurden, dürften 1300 bis 1500 Menschen umgekommen sein. Zerstört wurden: 177 Wohnhäuser, 1406 Synagogen und 7500 jüdische Geschäfte. Knapp 31 000 jüdische Männer kamen in Konzentrationslager, die Zahl der Vergewaltigungen kennt niemand.

Damit war diese neue Etappe im Leidensweg der deutschen Juden noch nicht zu Ende. Auf die Gewaltorgie folgte die administrative Routine. Sie war nicht weniger brutal, doch ging es hier weniger um ideologische wie um wirtschaftliche Motive; kurz: Es ging um Ausplünderung. Wie diese am besten zu bewerkstelligen sei, besprachen über hundert NS-Granden, unter ihnen Göring, Goebbels, Frick und Heydrich, am 12. November im Reichsluftfahrtministerium. Für das nationalsozialistische Zerstörungswerk sollten die Juden auch noch, so lautete das perfide Ergebnis, die Kosten übernehmen. Die wollten sich die Täter durch eine Zwangsabgabe von einer Milliarde RM sichern. Das war noch nicht alles, was den deutschen Juden aufgebürdet wurde. Die antijüdischen Gesetze wurden weiter verschärft, alle jüdischen Versicherungsansprüche kurzerhand vom Reich beschlagnahmt und die Arisierung weiter vorangetrieben, so dass 50 bis 70 Prozent der jüdischen Geschäfte und Firmen bis Jahresende verkauft waren. "Ich möchte kein Jude in Deutschland sein", lautete Görings zynische Botschaft - mit der Folge, dass die Auswanderungswelle noch einmal sprunghaft stieg. Allein 1938/39 verließen bis zu 180 000 Jüdinnen und Juden ihre deutsche Heimat.

Für Gross sind die Novemberpogrome "die Katastrophe vor der Katastrophe". "Das Jahr 1938 steht für eine Dimension der Gewalt gegen Juden, für den Übergang von der Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung, Beraubung und Vertreibung." Etwas anders hingegen die Akzentsetzung bei Steinweis; er versteht "die Kristallnacht eher als die Kulmination einer brutalen Entwicklung und nicht als der dramatische Bruch". Schon vorher seien "körperliche Übergriffe und Einschüchterungen" im nationalsozialistischen Deutschland an der Tagesordnung gewesen. Das sind Thesen, wie sie Historiker lieben. Im Grunde aber vermittelt seine Darstellung einen völlig anderen Eindruck - den einer denkbar tiefen Zäsur. Wiederum einig sind sich beide Autoren bei der Bewertung der Folgen dieser Zäsur über das Jahr 1945 hinaus. "Die Kristallnacht ist inzwischen zu einem wichtigen Element der deutschen Erinnerungskultur geworden", so Steinweis, doch sei das ein langer, mühseliger Prozess gewesen. Ähnlich Gross: Die Erinnerung an den Holocaust war in West- und Ostdeutschland zunächst "marginal". Dann aber habe man - mehr in der Bundesrepublik als in der DDR - "mit zunehmender öffentlicher Resonanz an das jüdische Leid" erinnert.

Bücher wie diese sind Teil der Erinnerung. Deren Herausforderung ist eine zeitliche Distanz, die beständig wächst. In diesem Fall ist die Distanz mittlerweile so lang wie ein ganzes Menschenleben, oft länger. Fast alle Zeitzeugen haben uns verlassen. Doch lässt sich auch eine ganz andere Rechnung aufmachen: Seit dem Mittelalter hatte es größere Judenpogrome in Deutschland nicht mehr gegeben. In dieser Perspektive ist der November 1938 noch nicht sehr lange her. Und die Erinnerung daran hat nichts an Aktualität verloren.

CHRISTIAN HARTMANN

Raphael Gross: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe. C. H. Beck Verlag, München 2013. 128 S., 8,95 [Euro].

Alan E. Steinweis: Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 2013. 206 S., 9,95 [Euro].

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