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"Angela Merkel ist die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland", "Das Stück Papier in der Hand des Kassierers ist ein Fünfzig-Euro-Schein", "John Searle ist verheiratet" mit Sätzen wie diesen sagen wir etwas über die Welt: daß es in ihr Dinge wie Bundeskanzler, Geld und Ehen tatsächlich gibt. Jedoch existieren diese sozialen Tatsachen nur, weil wir glauben, daß sie existieren. Das gilt für natürliche Tatsachen, die Schwerkraft etwa, nicht. Zerfällt die Welt somit in unterschiedliche Sphären des Seins? Gibt es womöglich zwei oder gar drei Wirklichkeiten? Nein, sagt John Searle, es gibt…mehr

Produktbeschreibung
"Angela Merkel ist die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland", "Das Stück Papier in der Hand des Kassierers ist ein Fünfzig-Euro-Schein", "John Searle ist verheiratet" mit Sätzen wie diesen sagen wir etwas über die Welt: daß es in ihr Dinge wie Bundeskanzler, Geld und Ehen tatsächlich gibt. Jedoch existieren diese sozialen Tatsachen nur, weil wir glauben, daß sie existieren. Das gilt für natürliche Tatsachen, die Schwerkraft etwa, nicht. Zerfällt die Welt somit in unterschiedliche Sphären des Seins? Gibt es womöglich zwei oder gar drei Wirklichkeiten?
Nein, sagt John Searle, es gibt schlicht nur eine einzige Realität, deren Grundlage die Welt der Natur ist, wie sie Physik, Biologie und Chemie beschreiben. Wie sich die Bestandteile der sozialen Welt dennoch nahtlos in diese Realität einfügen lassen, warum sie ebenso wirklich und objektiv sind wie die Dinge, die unabhängig von menschlichem Zutun existieren, zeigt er in seinem neuen Buch und schlägt dabei einen großen argumentativen Bogen. Sprache und Denken, Geist und Natur, Freiheit und Determinismus werden ebenso behandelt wie das Wesen von Institutionen, das Phänomen der Macht oder der Status der Menschenrechte.
In "Wie wir die soziale Welt machen" führt Searle sämtliche seiner Lebensthemen auf überaus anschauliche und gewohnt pointierte Weise zu einer einheitlichen Theorie der menschlichen Zivilisation zusammen. Es kann als Fortsetzung seines Klassikers "Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit" gelesen werden und zugleich als Einführung in das Denken dieses bedeutenden Philosophen. Vor allem aber ist es ein Buch für jeden, der wissen möchte, was unsere Welt zusammenhält.
Autorenporträt
John Searle, Slusser Professor of Philosophy at the University of California, Berkeley, is one of the most eminent contemporary philosophers. Educated at Oxford as a Rhodes scholar, he taught at Christ Church Oxford before moving to Berkeley, where he has been teaching since 1959. His eighteen published books include Speech Acts (1969), Expression and Meaning (1979), Intentionality (1983), The Rediscovery of the Mind (1992), The Construction of Social Reality (1995), and Rationality in Action (2002). Among his many prizes and awards he received the Jean Nicod prize in 2000 and the National Humanities Medal in 2004.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.06.2011

Das Schwindelgefühl bei der Nahsicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit
„Macht kommt nicht aus Gewehrläufen, sondern aus Organisationen“: John Searles Ontologie unserer Zivilisation eröffnet neue sozialphilosophische Perspektiven
Vor über hundert Jahren stellte Georg Simmel die Frage, wie Gesellschaft möglich ist. Siebzig Jahre später griff John Rawls unter der Fiktion eines Gesellschaftsvertrags und der Idee der Gerechtigkeit das Thema auf. Während der letzten zwei Dekaden hat John R. Searle mit der schärferen Klinge analytischer Philosophie intensive Überlegungen zur Ontologie, zur Seinsart unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit angestellt und die Ergebnisse in zwei Büchern publiziert. Die ältere Arbeit liegt jetzt in einer deutschen Neuauflage vor; im unlängst erschienenen englischen Buch erhärtet und generalisiert Searle seine Thesen.
Wir machen objektive Aussagen über soziale Tatsachen, – etwa dass Obama Präsident der USA ist, dass dies Stück Papier ein Zehn-Euro-Schein ist, – die zugleich durch menschliche subjektive Einstellungen geschaffen werden. Wie geht das zu, fragt sich Searle verwundert, und welcher Art ist die Realität sozialer Tatsachen wie Regierung, Eigentum, Geld, Hochschulen, Gerichtshöfe, Clubs, Ehen, im Unterschied zu rohen physischen Tatsachen wie Bergen, Flüssen, Sternen, Erdbeben und dergleichen?
Nur wir vermögen Personen oder Dingen Funktionen zuzuweisen. Die Natur weiß nichts von Funktionen, das Herz pumpt einfach, erst wir schreiben ihm das als Funktion zu. Einige Dinge werden direkt für spezifische Funktionen hergestellt, wie Badewannen, Schraubenzieher oder Computer. Andere natürliche Dinge können sozusagen zweckentfremdet verwendet werden, ein Baumstamm als Bank, ein Stein als Briefbeschwerer, ein Ast als Hebel; doch auch der Schraubenzieher kann zum Briefbeschwerer, der Computer zur Unterlage umfunktioniert werden.
Um eine Funktion auszuführen, muss einem Objekt und namentlich einer Person ein Status zugeschrieben werden. Statusfunktionen (Präsident, Ehepartner, Bürger). Alle institutionellen Tatsachen verdanken ihre Existenz gewissen performativen Sprechakten, nämlich Deklarationen: „Wir ernennen X zum Vorsitzenden“; „Hiermit ist der Krieg erklärt“, „Wir verurteilen Sie zu . . . “
Derartige Deklarationen verändern, so Searle, die Welt, indem sie soziale Tatsachen schaffen: Staatsverfassungen etwa, deren Regeln als andauernde Deklarationen wirken. Die konstitutive Regel für die Zuweisung von Statusfunktionen bringt Searle auf die schlichte Formel „X zählt als Y in K“. Wörtlich: Dieses bedruckte Stück Papier (X) zählt, gilt als, wird betrachtet als, hat die Funktion und den Status eines Zwanzig-Dollar-Scheins (Y) in den Vereinigten Staaten (K). „Geld ist Geld, weil die Teilnehmer an der Institution es als Geld ansehen“. Wenn diese Papierstücke nicht mehr für Geld gehalten werden, hören sie auf, Geld zu sein. Nicht anders verhält es sich mit Eigentum, Regierungen, Ehen oder Universitäten.
Anders aber als beim Baumstamm, der als Sitzplatz fungiert, oder dem Stein, der als Briefbeschwerer dient, bedürfen Gebilde, denen keine Funktion aufgrund ihrer Physis zugewiesen werden kann, wie etwa Papiergeld, der kollektiven Zustimmung. Es muss allerdings immer ein rohes physisches X geben, um als Y zu gelten, „es gibt keine institutionellen Tatsachen ohne rohe Tatsachen“. Zum Beispiel galten vor der Währungsreform bei uns (K) Zigaretten (X) als Zahlungsmittel (Y). Bei der Schaffung sozialer Tatsachen sind der Phantasie oder der Imagination, denen Searle einen kurzen Abschnitt widmet, kaum Grenzen gesetzt.
Kollektive Akzeptanz, oder genauer, „kollektive Intentionalität“ ist zur Schaffung gesellschaftlicher Tatsachen fraglos unerlässlich. Intentionalität – Searle hat 1983 eine maßgebliche Abhandlung darüber geschrieben – ist unsere geistige Fähigkeit, sich auf Dinge oder Geschehnisse in der Welt zu beziehen, etwa durch Überzeugungen und Absichten oder Wünsche und Hoffnungen. Kollektives menschliches Verhalten ist eine Manifestation kollektiver Intentionalität, heißt es, und die sei ein biologisch ursprüngliches, vorsprachliches Phänomen sui generis, das keinesfalls auf individuelle Intentionalität zu reduzieren sei. Diese Ansicht von einer gleichsam eingeborenen kollektiven Intentionalität wird von Searle mit großem begrifflichem Aufwand gegen naheliegende Einwände abgedichtet und gegen so etwas wie Hegels Weltgeist oder Freges Drittes Reich der Gedanken oder, darf man ergänzen, von Herders Volksgeist entschieden abgesetzt. Ohne diesen Aspekt der Kollektivität bliebe Searles Konstrukt jedenfalls ein Luftgebäu.
Die durch deklarative Sprechakte geschaffenen institutionellen Tatsachen, sind mit Rechten und Pflichten, mit Verbindlichkeiten und Verantwortung verbunden, es ist ihnen „deontische Macht“ eigen (vom Griechischen déon, Pflicht, Schuldigkeit), und die sei „der Klebstoff, der menschliche Gesellschaften zusammenhält“. Die Basis solch deontischer Macht wiederum sei die Sprache, heißt es in Searles neuer Version betonter, denn ohne Sprache gebe es keine Verpflichtungen. Sprache aber ist nicht ihrerseits durch Deklaration geschaffen wie die übrigen sozialen Institutionen. Dieser „Asymmetrie“ geht Searle mit subtilen Differenzierungen nach, aber auch mit erhellenden Beispielen. Emphatisch lautet sein Schluss: „Für Sprache benutzende menschliche Wesen kann es nicht so etwas wie einen Naturzustand geben“.
Auf der Grundlage seiner Ontologie sozialer Tatsachen werden in der Oxford-Ausgabe kursorisch Fragen politischer Macht angesprochen: „Macht kommt nicht aus Gewehrläufen, sondern aus Organisationen“, meint Searle etwas überpointiert. Er lotet auch den Begriff universeller Menschenrechte aus: warum sollte man nicht das Menschenrecht als Statusfunktion so direkt auf Menschen übertragen, wie man einem Stück Papier die Statusfunktion Geld zuweist? Er erörtert das Problem der Willensfreiheit, die wir, so Searle, für unsere Entscheidungen voraussetzen müssen, selbst wenn sie eine Illusion ist, denn „wir können die Illusion nicht abschütteln“.
Im Suhrkamp-Band findet man stattdessen eine energische Verteidigung des externen Realismus, wonach es eine von unseren Repräsentationen unabhängige Wirklichkeit gibt; eine Ansicht, die seit einiger Zeit – wieder einmal – in Frage gestellt wird. Doch ohne die Realität einer Außenwelt, macht Searle klar, müsste auch die Realität unserer sozialen Welt zusammenbrechen, die ja auf rohen physischen Tatsachen beruht. Eine ebenso entschiedene wie scharfsinnige Rehabilitation der in Verruf gebrachten Korrespondenztheorie der Wahrheit schließt sich an, der Idee, dass wahre Aussagen über das, was man Tatsachen nennt, möglich sind. Searle beansprucht indes nicht, den externe Realismus bewiesen zu haben, sondern lediglich, dass man im normalen Leben auf ihn festgelegt ist. Sobald wir nämlich mit jemandem reden, „haben wir schon die Existenz der wirklichen Welt vorausgesetzt“.
Searle spricht einmal von einem Schwindelgefühl, das einen befällt, so als sei bei der Schaffung und Aufrechterhaltung institutioneller Tatsachen Magie im Spiel. „In unseren schwersten metaphysischen Stimmungen“, fügt er ein wenig ironisch hinzu, möchte man sich fragen, ob dies Stück Papier tatsächlich Geld, dies Grundstück wirklich jemandes Privateigentum, dieser Spruch de facto den Eheschluss bedeutet. Normalerweise möchten wir sagen „na, so isses nu mal“, wir halten die soziale Welt für so gegeben wie die von uns gemachten Badewannen, Schraubenzieher oder Autos. Doch unsere Institutionen sind höchst ätherisch, rein deklarativ und spirituell, sie sind „Produkte mächtiger Phantasie“. Und nur solange jeder diese Phantasie teilt und ihr vertraut, funktionieren diese Produkte; wird die Phantasie unglaubwürdig, wie Searle mit Hinweis auf die jüngste US-Hypothekenkrise klar macht, dann beginnt das gesamte System sich aufzudröseln.
Beide mit bewundernswerter Transparenz geschriebenen Bücher Searles haben eine neue Perspektive sozialphilosophischer Grundlagenforschung aufgetan und die Diskussion weltweit belebt, in die sich unlängst auch der renommierte britisch-amerikanische Philosoph Colin McGinn eingemischt hat. Die Kritiken und die Repliken Searles kann man verfolgen auf der Website: socrates.berkeley.edu/˜jsearle/articles.html. WILLY HOCHKEPPEL
JOHN R. SEARLE: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Aus dem Englischen von Martin Suhr. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 250 Seiten, 10 Euro.
JOHN R. SEARLE: Making the social world. The Structure of Human Civilization. Oxford University Press, Oxford/ New York 2010. 208 Seiten, ca. 19 Euro.
Wenn diese Papierstücke nicht
mehr für Geld gehalten werden,
hören sie auf, Geld zu sein.
Unsere Institutionen sind
höchst ätherisch, sie sind
„Produkte mächtiger Phantasie“.
John R. Searle, 1932 in Denver/Colorado geboren, ist Professor für Philosophie an der University of California, Berkeley. In seinem Buch „Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit“, das längst ein Klassiker ist, entwickelt er die Formel „X gilt als Y in C“. Foto: Anne Selders/ Sipa Press
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2012

Sagen Sie das ruhig noch einmal, Professor Searle

Nachhaltiges Recycling: Der amerikanische Philosoph John R. Searle, der morgen achtzig Jahre alt wird, hält Alltagsintuitionen hoch und erweitert seine Beschreibung sozialer Wirklichkeiten.

Manches muss man einfach noch einmal sagen. Und noch einmal. Weil die Botschaft so wichtig scheint, die These sich noch nicht durchgesetzt hat oder schlicht, weil die Kinder nicht hören wollen. Redundanz ist eine nützliche Sache, sogar in der Philosophie - und das nicht nur, weil es eine Redundanztheorie der Wahrheit gibt, sondern auch, weil sich philosophische Sprösslinge gerne renitent geben.

Insofern muss es nicht überraschen, dass John Searle, nachdem er 1995 bereits in seiner Abhandlung "Die Konstruktion der sozialen Realität" das Wesen gesellschaftlicher Institutionen wie Ehe, Eigentum, Geburtstagspartys, Geld oder Präsidenten erkundet hat, sich erneut der Ontologie des Sozialen widmet. Erstens ist die Botschaft wichtig, weil sie verspricht, das wissenschaftstheoretische Fundament der Sozialwissenschaften freizulegen. Zweitens - das beweisen etliche kritische Sammelbände zu Searles Sozialontologie - wollten die Kinder wirklich nicht hören.

Also setzt Searle erneut an, verschiebt Gewichtungen, setzt neue Akzente. Das Ziel aber bleibt dasselbe, nämlich die Realität sozialer Institutionen so zu fassen, dass soziale Tatsachen einerseits mit Naturtatsachen einen Zusammenhang bilden und insofern keine zweite, geistige oder kulturelle Welt neben der physischen darstellen. Andererseits aber soll diese Wirklichkeit vollständig vom Menschen durch Sprache hervorgebracht werden.

Wieder stehen bei diesem ausgreifenden Fundierungsunternehmen die sogenannten Statusfunktionen im Mittelpunkt. Die menschliche Fähigkeit also, Gegenständen oder Personen dauerhaft Funktionen zuzuweisen, einem Stück Plastik etwa die Funktion, ein Personalausweis zu sein. Wieder bedarf es dazu kollektiver Intentionalität, denn Statusfunktionen können nur objektiv existieren, wenn sie gemeinsam anerkannt werden. Sind diese Funktionen etabliert, tragen sie - wie Searle es nun nennt - "deontische Macht", sind also mit bestimmten Rechten und Pflichten verbunden. Volljähriger Bürger der Bundesrepublik Deutschland zu sein berechtigt dazu, an Wahlen teilzunehmen. Sobald diese Macht etabliert ist, entstehen Gründe für Handlungen, die unabhängig von subjektiven Neigungen sind: Die eingegangene Rechnung liefert einen Grund, auf Annehmlichkeiten zu verzichten und sie zu bezahlen.

Selbst dort, wo Searle seine älteren Überlegungen neu akzentuiert, greift er auf schon Gesagtes zurück, auf seine sprechakttheoretischen Überlegungen der siebziger Jahre. Zum "Machen" der sozialen Welt gehöre notwendig der Sprechakt der Deklaration, wie beispielsweise bei der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte, deren Realität Searle ausführlich untersucht, weil es - anders als bei Statusfunktionen wie Ehemann, Bundeskanzlerin oder Eigentum - nicht so einfach begründet werden kann, wie oder warum Menschsein eine Statusfunktion ist.

Je länger man Searles sprachlicher Erschaffung der institutionellen Welt folgt, von der Sprach- und Intentionalitätstheorie bis hin zu Fragen der Macht und einer Analyse der Menschenrechte, desto mehr glaubt man, auf dem Schiff des Theseus unterwegs zu sein, bei dem auf hoher See ständig morsche Planken ausgewechselt werden, das Schiff aber immer dasselbe zu bleiben scheint. Bei Searle allerdings sind es Planken, die bereits in anderen Teilen seines Erkenntnis- und Sprachphilosophie, Handlungs- und Geisttheorie verzahnenden Werks verbaut worden waren. Und es ist doch erstaunlich, wie seetauglich dieses Produkt nachhaltigen philosophischen Recyclings ausgefallen ist.

Gewiss gibt es in der Gegenwartsphilosophie viel komfortablere Boote, etwa im Kontext der Sprach- und Intentionalitätstheorie das Hightechschiff der inferentiellen Semantik von Robert Brandom. Und gewiss merkt man zuweilen, wie notdürftig bei Searle manche Planken zusammengenagelt sind. Wenn er beispielsweise versucht zu beschreiben, wie Willensfreiheit möglich ist. Das Bewusstsein, zwischen zwei Handlungsalternativen zu wählen, führe - so Searle - zum Gefühl einer "kausalen Lücke" zwischen den Gründen für die Handlung und den wirklichen Handlungsabsichten, das Gefühl auch anders handeln zu können. Dass es üblicherweise gerade darum geht, diese "Lücke" theoretisch zu schließen oder sie neurophysiologisch wegzuerklären, stört Searle nicht im Geringsten: "Wenn wir Entscheidungen treffen, müssen wir die Lücke voraussetzen. Sollte die Lücke eine Illusion sein, können wir sie also trotzdem nicht loswerden." Damit ist natürlich theoretisch nichts gewonnen, aber eben lebensweltlich auch nichts verlorengegangen. Willensfreiheit gehört zu jenen plausiblen Alltagsintuitionen, die man nach Searle gar nicht aufgeben kann und die deshalb in immer neuen Anläufen gestützt werden müssen. Sie gehört zum Mantra eines Common Sense, den es gegen Philosophen zu behaupten gilt, die für eine geschmeidige oder ausgefeilte Theorie bereit sind, den Primat der Lebenswelt über Bord zu werfen.

Searles Philosophie dagegen ist im besten Sinne durchdrungen vom Respekt vor der alltäglichen Urteilskraft, die von der Realität der Außenwelt genauso ausgeht wie davon, Wahrheit als Übereinstimmung von Sprache und Welt zu fassen (und nicht als irgendeinen Konsens). Im neuen Buch zeigt sich das vor allem dann, wenn Searle die Schlüsse aus seiner Ontologie der sozialen Institutionen zieht und, für den Leser bei aller Redundanz überraschend, eine Theorie politischer Macht entwirft, die nicht bei Diktatoren, Souveränen oder Leviathanen ansetzt - nicht beim Ausnahmezustand also, sondern beim Regelfall. "Jede befriedigende Erörterung des Machtbegriffs unterliegt der Bedingung, dass man immer dann, wenn von Macht die Rede ist, imstande sein sollte anzugeben, wer genau Macht über wen hat, um diese Person dazu zu bringen, das oder das zu tun."

Diese "Bedingung der Genauigkeit" bringt Searle etwa gegen Theorien in Stellung, die - wie Michel Foucault in seinem Begriff der Biomacht - von einer unspezifischen Macht ausgehen, die sich als anonyme Normierungspraktik im Rücken der Akteure "ereignet". Es mag zwar - so Searle - in Gesellschaften so etwas wie eine "Hintergrundmacht" geben, Formen nicht expliziten gesellschaftlichen Zwangs: der Oktroy dessen, was als tolerierte politische Meinung gelten kann und was nicht.

Aber diese Macht ist für Searle nicht unspezifisch oder anonym, denn es gibt in einer Gesellschaft solche nichtkodifizierten Normen. Buchstäblich jeder, der sie teilt, kann per Sanktion Macht über jene ausüben, die sie nicht befolgen. Zur Machtausübung kommt es also erst, wenn Angehörige einer Gesellschaft anderen Konformität aufzwingen. Dass jegliche Macht - von der Hintergrundmacht bis zu der von Regierungen ausgeübten politischen Macht - in den deontischen Berechtigungen und Verpflichtungen gründet, die mit der sprachlichen Etablierung und Aufrechterhaltung von Statusfunktionen in die Welt kommen, versteht sich fast von selbst. Aber es musste doch noch einmal gesagt werden.

THORSTEN JANTSCHEK

John R. Searle: "Wie wir die soziale Welt machen".

Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 351 S., geb., 28,95 [Euro].

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