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In Burkhard Spinnens Jugendroman „MÜLLER hoch Drei” erlebt ein Junge eine Menge skurriler Überraschungen auf der Suche nach seiner Familie
Zwei Wochen sollen für Paula, Pauline und Paul herausspringen, damit drei „zusammengewürfelte Kinder” versuchen können, sich eine Familie zu basteln, oder irgendetwas, das halbwegs so aussieht.” Das ist nicht viel Zeit für ein großes Unterfangen. Denn die drei sind gerade mal vierzehn und haben als Drillinge, die unmittelbar nach der Geburt getrennt worden sind, schon die unterschiedlichsten Familienkonstellationen miterlebt. Es wäre den dreien recht, wenn das, was sie aufbauen könnten, schon mal „nur so funktionieren” würde wie eine Familie; sie sind also ziemlich abgeklärt und auf der Höhe einer Zeit, die den Begriff „Patchwork-Familie” geprägt hat; sie sind so süchtig nach Freiheiten, wie Jugendliche nur sein können, und so einsichtig in die Notwendigkeit von Anleitungen und Regelwerken, dass sie manchmal fast schon weise wirken.
MÜLLER hoch Drei ist nach Belgische Riesen das zweite Kinder- und Jugendbuch des Schriftstellers Burkhard Spinnen, der seit zwei Jahrzehnten die bundesdeutsche Gesellschaft nicht nur als Erzähler, sondern auch als Essayist und pointierter Kommentator begleitet. Und so, wie er in Belgische Riesen die Freundschaft zweier Kinder mit der ironischen Analyse der spezifischen Lebensformen in einem Neubauviertel verbunden hat, so rückt er die Drillinge in seinem neuen Buch in den Mittelpunkt einer tour de force zum Thema Familiensoziologie des frühen 21. Jahrhunderts. Er bietet abenteuerliche und phantastische Seiten, setzt nicht selten auf Screwball-Elemente und spannt einen Bogen zwischen einer gesichtslosen mittelgroßen Stadt und Berlin, zwischen einem Touristenort an der Ostsee und einer Hütte in den Alpen.
Was Paul, Paula und Pauline widerfährt, ist passagenweise Roadmovie quer durch die Republik, mal in der Eisenbahn, mal im Hotel Adlon und mal hilflos auf der Straße –und manchmal ganz bewusst auch nur höherer Klamauk. Es geht drunter und drüber wie in vielen Fernsehserien, und das ist Absicht. Es gibt einen zaubermächtigen und sehr verständigen Hund und einen Tierbändiger, der mit seinem Computer alles über jeden in Erfahrung bringen kann. So wird die detailrealistische Alltagsfassade immer wieder mit fröhlichem Zynismus durchlöchert.
Am Anfang steht nämlich eine grausame Botschaft für Paul, der von seinen Eltern erfährt, dass sie sich trennen wollen – und zwar von ihm, dem egoistischen Kind. Sie möchten sich wieder mehr um sich selber kümmern, er könne selbstverständlich das Haus behalten, der Kühlschrank sei voll und ansonsten seien überall gelbe Zettel mit Überlebensanleitungen verteilt. Das Vokabular, das üblicherweise auf Scheidungen angewandt wird, trifft einen Halbwüchsigen – und damit ist von der ersten Seite an klar, dass Leser, egal welchen Alters, fast alles wiedererkennen können und trotzdem keinen festen Boden unter den Füssen haben werden. Denn natürlich haben die Eltern ganz andere Pläne mit ihrem Sohn und mit sich selbst – aber man kann verstehen, dass sie mal Distanz von einem Bengel brauchen, der nur eines zuhause erwartet: dass im Kühlschrank reichlich Milchreis, Götterspeise und Multivitaminsaft stehen.
Verschiebungen der gewohnten Blickwinkel und Überbietung von Szene zu Szene sind das Erzählprinzip von MÜLLER hoch Drei – und trotzdem ist der Kern des Romans eine klassische Entwicklungsgeschichte, in der sich ein sehr unerfahrener Held die Hörner abstößt und lernt, an sich selbst und an seine Umgebung berechtigte Forderungen zu stellen. Er wird ein bisschen mündiger dabei und am Ende geradezu agil. Er wird nicht zum Rebellen – ebenso wenig wie seine Schwestern – , aber er klagt von da an, vielleicht ohne es schon ganz zu verstehen, vor allem ein, dass „Verantwortlichkeit” zwischen Generationen und unter den gegebenen Verhältnissen neu ausgehandelt werden muss. Die mögliche und befristete Lösung ist die denkbar größte Ausreizung des Patchwork-Prinzips und trotzdem ein Bekenntnis zu alten Tugenden. Dass der Roman offen lässt, ob das funktionieren kann, ist daher nur konsequent, denn MÜLLER hoch Drei ist kein Traktat, sondern Kunst und Lesevergnügen. (ab 12 Jahre)
MICHAEL SCHMITT
Burkhard Spinnen
MÜLLER hoch Drei
Schöffling 2009. 296 Seiten, 17,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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