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Michel Foucaults Begriff der "Literatur" ist schillernd und hat zu den vielfältigsten Fortsetzungen angeregt: In den sechziger Jahren verfaßte Foucault eine Reihe von literaturtheoretischen und -kritischen Arbeiten, die sich einer spezifischen Poetik der Moderne widmen, in der sich "Literatur" im emphatischen Wortsinn durch die sich verdoppelnde Selbstbezüglichkeit der Sprache auszeichnet: ihre Autoreferentialität. Ihnen steht in den siebziger Jahren eine nüchterne Diskursanalyse der institutionellen Sakralisierungsmechanismen gegenüber, "durch den ein nicht-literarischer Diskurs, ein…mehr

Produktbeschreibung
Michel Foucaults Begriff der "Literatur" ist schillernd und hat zu den vielfältigsten Fortsetzungen angeregt: In den sechziger Jahren verfaßte Foucault eine Reihe von literaturtheoretischen und -kritischen Arbeiten, die sich einer spezifischen Poetik der Moderne widmen, in der sich "Literatur" im emphatischen Wortsinn durch die sich verdoppelnde Selbstbezüglichkeit der Sprache auszeichnet: ihre Autoreferentialität. Ihnen steht in den siebziger Jahren eine nüchterne Diskursanalyse der institutionellen Sakralisierungsmechanismen gegenüber, "durch den ein nicht-literarischer Diskurs, ein vernachlässigter, so rasch vergessen wie ausgesprochen, in das literarische Feld eintritt", während in den achtziger Jahren das Schreiben zu einem wichtigen Moment in Foucaults Genealogie von Selbstverhältnissen wird. Die bislang vollständigste deutschsprachige Auswahl von Martin Stingelin stellt in neuen übersetzungen das ganze Spektrum von Michel Foucaults höchst wirkmächtigen Artikeln vor, die einen entscheidenden Einfluß auf die Literaturtheorie der Gegenwart hatten.
Autorenporträt
Paul-Michel Foucault wurde am 15. Oktober 1926 in Poitiers als Sohn einer angesehenen Arztfamilie geboren und starb am 25. Juni 1984 an den Folgen einer HIV-Infektion. Nach seiner Schulzeit in Poitiers studierte er Philosophie und Psychologie in Paris. 1952 begann seine berufliche Laufbahn als Assistent für Psychologie an der geisteswissenschaftlichen Fakultät in Lille. 1955 war er als Lektor an der Universität Uppsala (Schweden) tätig. Nach Direktorenstellen an Instituten in Warschau und Hamburg (1958/1959) kehrte er 1960 nach Frankreich zurück, wo er bis 1966 als Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Clermont-Ferrand arbeitete. In diesem Zeitraum erschien 1961 seine Dissertationsschrift Folie et déraison. Histoire de la folie à l'âge classique (dt.: Wahnsinn und Gesellschaft). Er thematisierte darin die Geschichte des Wahnsinns und das Zustandekommen einer Abgrenzung von geistiger Gesundheit und Krankheit und die damit einhergehenden sozialen Mechanismen. 1965 und 1966 war er Mitglied der Fouchet-Kommission, die von der Regierung für die Reform des (Hoch-)Schulwesens eingesetzt wurde. 1966 wurde Les mots et les choses – Une archéologie des sciences humaines (dt.: Die Ordnung der Dinge) veröffentlicht, worin er mit seiner diskursanalytischen Methode die Wissenschaftsgeschichte von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert untersuchte. Nach einem Auslandsaufenthalt als Gastprofessor in Tunis (1965-1968) war er an der Reform-Universität von Vincennes tätig (1968-1970). 1970 wurde er als Professor für Geschichte der Denksysteme an das renommierte Collège de France berufen. Gleichzeitig machte er durch sein vielfältiges politisches Engagement auf sich aufmerksam. In diesem Kontext entstand die Studie Surveiller et punir (dt.: Überwachen und Strafen). 1975-1982 unternahm er Reisen nach Berkeley und Japan sowie in den Iran und nach Polen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.12.2001

Der auszog, das Fürchten zu lernen
Nichts für Historiker in kurzen Hosen: Foucaults gesammelte Schriften und Sätze
Wie nähert man sich einem Klassiker? Und wie vermißt man die Seitenwege eines Denkabenteuer, wie verbindet man Fäden, die sich lose um das zentrale Textgewebe winden? Zwei Wege der Auseinandersetzung mit dem „Frühwerk” bieten sich auf den ersten Blick an. Andächtig und zart die Denkbewegungen nachzuzeichnen, wie es einem Klassiker gebührt, ist der eine. Wenn nun aber das fragliche Unternehmen den Namen Foucault trägt, dann führt sich dieser Vorschlag selbst ad absurdum, sofern nicht völlig verkannt wird, mit welchen Explosivstoffen der Leser hantiert.
Als nächstes kommt das Ahnen, Aufspüren, Antizipieren des Späteren. Verführen die gesammelten zahlreichen kleineren Texte aus den Jahren 1954 bis 1969 nicht gerade dazu? Hier scheint die „Archäologie des Wissens” durchzublitzen, dort „Überwachen und Strafen”. Der Kenner braucht die Teile nur noch zusammenzusetzen, und vor ihm entfaltet sich ein lineares philosophisch-historisches Denken. Spätestens dann setzt das Unwohlsein ein. Haben wir es nicht mit den Schriften und Aussprüchen eines zu tun, dem es die Diskontinuität, der Krieg, das Zerbrechen des Wissens angetan hatten?
Vom Augenblick her muss man ihm folgen, die Zeit arretieren, den Horizont der Vergangenheit öffnen, kontingent, antiteleologisch, eben historisch lesen. Hat er nicht selbst alles andere verspottet? „In der großen Anhäufung des bereits Gesagten den Text herauszusuchen, der ‘im vorhinein‘ einem späteren Text ähnelt, herumzustöbern, um in der Geschichte das Spiel der Vorwegnahmen oder der Echos wiederzufinden , das alles sind liebenswerte, aber verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen”. Lange oder keine Hosen, also Struktur oder Kontingenz, das ist die Frage. Warum nicht ohne? Stürzen wir uns also versuchsweise nackt in die Fluten des Denkstromes, ohne zu wissen, worin dieser münden wird.
Nackt in den Fluß des Denkens
Die Übersetzung des 1994 auf französisch erschienenen ersten Bandes der „Dits et Écrits” liefert auf beinahe hundert Seiten zahlreiche biographische Details, darunter eine Menge sentimentalen Klatsches („es war eine unglückliche Zeit für ihn, weil er Schwierigkeiten mit seiner äußeren Erscheinung und seiner sexuellen Neigung hatte”). Wir können in Zukunft auf die Redseligkeit des Biographen Eribon und auf die lüsternen Blicke des anderen Biographen Miller mit heimlichem Bedauern verzichten.
Die Übersetzungen der deutschen Edition sind gelungen. Einige ihrer Eigenarten jedoch rufen Unverständnis hervor. Von einer deutschsprachigen Ausgabe sollte man erwarten, dass sie die Publikationsorte früherer deutscher Übersetzungen aufführt, unabdingbar für den Nachvollzug der deutschen Rezeptionsgeschichte Foucaults. Vielleicht kann die Lücke in den späteren Bänden geschlossen oder die Angabe in einem hoffentlich den vierten Band abschließenden Register nachgeliefert werden.
Zu den faszinierendsten Texten gehören zwei Aufsätze, die Foucault 1962 und 1963 in Critique veröffentlichte. Er trat damals dem Redaktionsbeirat der Zeitschrift bei, deren Geschichte mit dem Namen Georges Bataille verbunden ist. „Ein so grausames Wissen” von 1962 erkundet – angewidert und angezogen zugleich – ein Feld, über das auch jener hätte schreiben können: Geheimgesellschaften, Verführung, Mord, Sadismus, Perversität im Europa der Revolutionskriege. Der Foucault, dem man hier begegnet, ist der Foucault des Schauerromans.
Die Erotik eines Käfigs, in dem ein weiblicher Geheimbund gefangene Männer zwischenlagert, fesselt ihn: „Man ist darin nackt, weil die Durchsichtigkeit darin ohne eine Zuflucht oder ein mögliches Versteck ist; durch das Ungleichgewicht, das diesem Ort der Einsperrung zu Eigen ist, ist das Objekt für den Henker stets in Reichweite, während sie selbst unerreichbar sind; gefangen im Innern eines Spielraums von Gesten, von denen keine physisch unmöglich ist, aber von denen auch keine sich zum Schutz oder zur Befreiung eignet, kommt man nur soweit, wie die Ketten es erlauben; der Käfig ist der Raum, in dem die Freiheit nachgeahmt wird, aber in dem ihr Trugbild an all den vom Blick durchlaufenen Stellen durch das Vorhandensein der Gitterstäbe vernichtet wird.”
Der Käfig kommuniziert noch unterirdisch nach beiden Seiten hin. Das Verlies aber, als „Negativbild des Gesellschaftsvertrags”, macht alle zu Gefangenen, Henker wie Opfer. Das erstickende Wissen, das beide teilen, wirkt subversiv. Aristokraten und Volk begehren auf dieselbe bestialische Weise. Das ist reinster Bataille. Alle Unterscheidungen verwischen im Rausch des Exzesses. Und doch entwickelt sich hier auch etwas anderes, eine subtile Analyse und Kategorisierung von Wissensformationen. Hinter den Menschenleibern und -hirnen steckt die Ökonomie des Wissens.
Ähnliches fördert die parallele Lektüre der „Vorrede zur Überschreitung” zutage, Foucaults Hommage an Bataille von 1963. Ohne diesen Text wären weder die Bataille-Renaissance noch der Diskurs der Überschreitung, für den Namen wie Judith Butler stehen, denkbar. Der Tod Gottes fällt darin mit dem Sprechen über die Sexualität zusammen. Foucaults Stil nähert sich dem Batailles an: „Vielleicht ist Überschreitung so etwas wie der Blitz in der Nacht, der vom Grunde der Zeit dem, was sie verneint, ein dichtes und schwarzes Sein verleiht, es von innen heraus und von unten bis oben erleuchtet und dem er dennoch seine lebhafte Helligkeit, seine herzzerreißende und emporragende Einzigartigkeit verleiht.”
Um Überschreitung und Grenze, die zusammengehören, darzustellen, bedarf es einer nicht-diskursiven, nicht-dialektischen, nicht-philosophischen Sprache - einer Sprache, die durch ihre Extremerfahrung ohnmächtig wird, die auf sich selbst verweist und sich „auf eine Infragestellung ihrer Grenze zurückzieht”. Sie entfaltet sich in der Überschreitung des Seins dessen, der spricht: als Sprache des Wahnsinns und des Todes. Oder des Traumes, wie man mit Blick auf Foucaults frühe Deutung der Fundamentalanalyse Binswangers hinzufügen könnte.
Sprechen, um nicht zu sterben
Bataille führt ihn in die Trümmerlandschaft der Sprache. Foucault nennt das „Sprachnot” – „Sprechen, um nicht zu sterben”. Er wird hier später weiter graben. Wo die Expedition allerdings hinführen sollte, stand nie fest. Die beiden verwandten Texte sind von verschiedensten Prägungen und Perspektiven durchzogen. Dieser Foucault ist ein radikaler, exzessiver Denker. Man kann ihn nicht selektiv wahrnehmen und einem wissenschaftlichen Diskurs anverwandeln. Das geschieht immer wieder, besonders unter Historikern, besonders in den USA. Er hielt sich selbst für einen Historiker, arbeitete in Archiven, veröffentlichte einen Text in den Annales und erfuhr von dort auch Anerkennung. Aber ein Historiker im konventionellen Sinn war Foucault nicht. Seine Sprache brannte.
Mit dem vorliegenden Band wird eine Fundgrube, ein historisches Zeugnis zugänglich, das den Leser zum Historiker der Lektüre- und Denkgeschichte Foucaults macht: Heidegger und Binswanger stehen am Anfang. Dann folgt das strukturale Denken, Lacan, Lévi-Strauss und Dumézil, mit denen Foucault „das eigentliche Tiefenphänomen”, das System, entdeckt. Nietzsche macht sich erst Mitte der sechziger Jahre bemerkbar. Politik spielt kaum eine Rolle. Dagegen gilt Foucaults Leidenschaft immer den literarischen Texten: Bataille und vor allem Maurice Blanchot, zeitweise Raymond Roussel und René Char. Der Foucault der kleinen Texte ist Literat, er bevorzugt Techniken des modernen Romans, rhetorische Fragen und erlebte Rede, und er hat eine Vorliebe für Strandmetaphern. Das Ringen um die Sprache nimmt existentielle, mitunter traumatische Dimensionen an. Und immer kehrt eine Textgattung wieder: Foucault liebt Schauerromane. Vielleicht spricht der große Archäologe der Denksysteme von sich selbst, wenn er in einer Rezension schreibt: „Dieses Buch ist der paradoxe Akt eines kritischen Schreckens.”
TIM B. MÜLLER
MICHEL FOUCAULT: Schriften. Dits et Ecrits. Bd. 1: 1954-1969. Hrsg. von Daniel Defert, Francois Ewald u.a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001. 1075 Seiten, br. 98 Mark, Ln. 168 Mark.
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