Marktplatzangebote
6 Angebote ab € 5,00 €
  • Gebundenes Buch

Eine bemerkenswerte Biografie wie aus einem Hollywood-Drehbuch Helene Jarmer hat einen Sitz im österreichischen Nationalrat und ist die erste gehörlose Abgeordnete im deutschsprachigen Raum. Die nicht nur positiven Reaktionen auf ihre Nominierung zeigen, dass noch viel für die Gleichberechtigung behinderter Menschen und gegen Diskriminierung getan werden muss. Helene Jarmers verlor zweijährig bei einem Autounfall das Gehör. Ihre Eltern förderten sie umfassend und ermöglichten ihre Ausbildung an der Höheren Technischen Lehranstalt wie auch ihr Pädagogikstudium an der Universität Wien - für…mehr

Produktbeschreibung
Eine bemerkenswerte Biografie wie aus einem Hollywood-Drehbuch
Helene Jarmer hat einen Sitz im österreichischen Nationalrat und ist die erste gehörlose Abgeordnete im deutschsprachigen Raum. Die nicht nur positiven Reaktionen auf ihre Nominierung zeigen, dass noch viel für die Gleichberechtigung behinderter Menschen und gegen Diskriminierung getan werden muss. Helene Jarmers verlor zweijährig bei einem Autounfall das Gehör. Ihre Eltern förderten sie umfassend und ermöglichten ihre Ausbildung an der Höheren Technischen Lehranstalt wie auch ihr Pädagogikstudium an der Universität Wien - für behinderte Menschen ein hürdenreicher Weg. Als Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und als Behindertensprecherin der Grünen im Parlament setzt sie sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Und sie wird gehört ihre politischen Erfolge beweisen es!
Autorenporträt
Helene Jarmer wird 1971 als Tochter gehörloser Eltern in Wien geboren. Im Alter von zwei Jahren verliert sie bei einem Autounfall selbst das Gehör. Mit Konsequenz und Disziplin überwindet sie Barriere um Barriere, maturiert in einer Höheren Technischen Lehranstalt (HTL) und studiert mit ausgezeichnetem Erfolg Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Wien. Sie unterrichtet an der Universität Wien und der Pädagogischen Akademie. Als Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und als Nationalratsabgeordnete der Grünen kämpft sie für die Rechte von behinderten Menschen vor allem auch für den barrierefreien Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2011

Auf einer Insel ohne Lärm

Die Österreicherin Helene Jarmer ist die erste gehörlose Abgeordnete im deutschsprachigen Raum. So hart sie sich ihr eigenes Leben erkämpfen musste, so hartnäckig setzt sie sich jetzt für Menschen ein, die ihr Schicksal teilen.

Von Martin Wittmann

Die sinnlosen Fragen. Nun, da sie in der Öffentlichkeit steht, werden sie Helene Jarmer wieder häufiger gestellt. Welche wirklich sinnvollen Fragen sie denn gerne einmal hören möchte, fragt man. "Ich kann nicht hören", entgegnet sie mit ernstem Gesicht und flinken Gebärden, die ihre Dolmetscherin übersetzt. Nach ein paar Sekunden erlöst sie ihren verunsicherten Gesprächspartner mit einem Wiener-Schmäh-Lächeln.

Humor, das zeigt die Lektüre ihres autobiographischen Werkes, das kommende Woche erscheint, war auf Jarmers langem Weg in das österreichische Parlament nicht weniger wichtig als Disziplin, Selbstbewusstsein und Talent. Heute ist die Behindertensprecherin der Grünen die einzige gehörlose Abgeordnete im deutschsprachigen Raum. Der oft lähmenden, weil lärmenden Politikwelt steht nun der Titel ihres Buches gegenüber: "Schreien nützt nichts".

Helene Jarmer kommt 1971 als Kind gehörloser Eltern in Wien zur Welt. Ihr Vater arbeitet nach seinem Kunststudium im Atelier, ihre Mutter macht sich als Mode-Designerin selbständig. Dolmetscher brauchen sie nur selten, etwa bei Gerichtsterminen oder auf Hochzeiten. Wenn sie mit Kunden kommunizieren, machen sie das schriftlich. Als Helene noch klein ist, laden die Eltern Nachbarn und Freunde ein, damit die tun, was sie selbst nicht vermögen - sich mit dem Kind zu unterhalten. Helene ist die Einzige in der Kleinfamilie, die hören kann.

Sie erinnert sich heute noch an eine Spieluhr und an ein Glöckchen. Sie weiß noch, wie wohl sie sich damals in der Kirche fühlt, wie warm die Orgelmusik klingt.

Der Unfall passiert, als sie zwei Jahre alt ist. Ihre Mutter schiebt sie im Buggy über den Gehsteig, als ein Auto den Kinderwagen erfasst. Der Kopf des Mädchens wird gegen das Gestänge des Buggys geschleudert, aus den Ohren des Mädchens läuft Blut. Später stellt der Arzt die Diagnose: "An Taubheit grenzende Gehörlosigkeit". Helene Jarmer ist gehörlos geworden - wie ihre Eltern.

Manch einer mag in dieser Geschichte die bittere Ironie des Schicksals erkennen. Helene Jarmer nennt es eine Chance. "Wer weiß, wo ich heute sonst stehen würde", schreibt sie. Die Frage ist nicht, wo sie heute wäre, wenn der Unfall nie passiert wäre. Die Frage ist, wo sie wäre, hätten ihre Eltern das gehörlose Kind damals nicht mit einer Selbstverständlichkeit gefördert, die sie sich heute von der ganzen Gesellschaft erhofft.

Jarmer sitzt hinter einem Schreibtisch, auf dem mehrere kleine Pflänzchen wie Farbtupfer in einem ansonsten weißen Zimmer sitzen. Mit der hochgewachsenen Politikerin und ihrer Dolmetscherin ist das Büro in Wien, gegenüber dem Burgtheater, fast raumfüllend besetzt. Jarmer führt ihre linke Hand an die Schulter und bewegt sie hin und her. Es ist die Gebärde ihres Namens, den sie bekommen hat, als sie noch schulterlange Haare hatte. Unter Gehörlosen werden Namen nicht aufwendig mit dem Fingeralphabet buchstabiert, sondern mit Gebärden neue Namen bestimmt, die eine Eigenschaft der Person benennen. Als Beispiel nimmt sie Wolfgang Schüssel. Mit den Fingern formt sie unter ihrem Kinn eine Fliege, das Markenzeichen des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers. Und seine deutsche Kollegin Angela Merkel? Deren Gebärdenname sei nicht sehr nett, schickt sie entschuldigend voraus, bevor sie mit Daumen und Zeigefinger die Mundwinkel nach unten zieht. Gebärdensprache, sagt sie, sei nun mal sehr direkt.

Die Entstehung von Gebärdennamen hat Jarmer auch in ihrer Antrittsrede im österreichischen Parlament im Juli 2009 erklärt. Es ist nur eine winzige Lektion über den Alltag Gehörloser, aber Jarmer weiß, dass sie im deutschsprachigen Raum bei null anfangen muss.

"Wie lebt man, wenn man noch nie Musik gehört hat? Macht es traurig, wenn man noch nie das Lachen eines Kindes gehört hat? Oder die Schritte im Schnee?" Dass die Stille selbstverständlicher Teil ihres Lebens ist; dass sie die Schwingungen der Musik spürt; dass sie die Freude der Kinder sehen kann - diese Antworten gibt sie gerne. "Ja, wir brauchen viel mehr neugierige Menschen, die wissen wollen, wie es sich anfühlt, behindert zu sein", schreibt sie. Aber ob sie etwas vermisse, ob sie sich wünschte, hören zu können, oder wie sie sich Lärm vorstelle - sich darüber Gedanken zu machen hat keinen Sinn.

Auf ihren Reisen hat Helene Jarmer die Fortschrittlichkeit der Skandinavier, die Offenheit der Amerikaner und die Freundlichkeit der Asiaten ihr gegenüber zu schätzen gelernt. Ihr (ebenfalls gehörloser) Mann kommt aus Spanien, und auch dort seien die Menschen weniger verkrampft in der Kommunikation mit gehörlosen Menschen, sagt sie. Verglichen damit erfahre sie in Ländern wie Österreich, wo 10 000 gehörlose Menschen leben, oder Deutschland, wo es achtmal so viele sind, einen distanzierteren, oft diskriminierenderen Umgang. Das beginnt bei veralteten Begriffen wie "taubstumm". Sie selbst spricht lieber von einer "Insel ohne Lärm".

Von klein auf spürt Helene Jarmer den Zusammenhang von "behindert sein" und "behindert werden". Sie wächst zweisprachig auf, mit der Gebärdensprache als Muttersprache und Deutsch als Lautsprache, ohne die sie nicht lesen könnte. Dank des unermüdlichen Einsatzes ihrer Eltern, Dolmetscher und Nachhilfelehrer kann sie die Schulen besuchen, die ihrem Intellekt und nicht ihrem per Diagnose zugewiesenen Status entsprechen. Sie macht ihre Matura, das österreichische Abitur, und will Lehrerin für gehörlose Schüler werden.

Da an der Pädagogischen Akademie jedoch nur "körperlich geeignete" Personen zum Studium zugelassen werden, muss sie ein Jahr lang um eine Ausnahmegenehmigung kämpfen. Noch heute, sagt sie, gebe es kaum gehörlose Lehrer für die gehörlosen Schüler in Österreich, "während hörende Pädagogen für diese Aufgabe noch nicht einmal die Gebärdensprache beherrschen müssen".

Sie versteht es, zu kämpfen, das hört man ihr an, wenn sie von Barrieren und Missständen spricht. Zuweilen wirkt ihre Hartnäckigkeit tatsächlich hart, das sollte ihr in der Politik nicht schaden.

Mit dem ihr eigenen Ehrgeiz versucht die Abgeordnete, im Parlament unbedingte Chancengleichheit herzustellen. Zwei Dolmetscherinnen hat sie an ihrer Seite. Eine übersetzt die Zwischenrufe, die andere übersetzt den Text des jeweiligen Redners - inklusive Betonung und Dialekt. Wenn der Sozialminister "Ich bin doch nicht auf der Nudelsuppen daherg'schwommen" rufe, mit der Betonung auf dem "o", dann wolle sie das wissen, um sich auf ihr Gegenüber einstellen zu können, sagt sie.

Was Jarmer für sich in den Sitzungen so konsequent wie erfolgreich einfordert - Gleichberechtigung und Integration -, ist für die gehörlosen Österreicher freilich noch Utopie, trotz der Bemühungen. Manchmal, schreibt sie, möchte sie schreien, "weil nichts vorangeht. Oder zu langsam". Aber Schreien nützt ja nichts. Es ist sinnlos.

Helene Jarmer: "Schreien nützt nichts. Mittendrin statt still dabei", Südwest Verlag, München 2011, 19,99 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr