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Aus dem Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main
"Warum sollte man nicht von einer genetischen Inquisition träumen?", schrieb Georges Canguilhem schon 1966. Thomas Lemke zeigt anschaulich, dass dieser Traum inzwischen teilweise Realität geworden ist. Er erläutert, wie die aus genetischen Untersuchungen gewonnenen Informationen zu Ausgrenzung und Stigmatisierung führen. Das Spektrum reicht von Benachteiligungen im Arbeitsleben über Probleme mit Versicherungen bis zu verweigerten Adoptionen. Aber auch die wissenschaftliche Kritik an genetischer Diskriminierung beruht, wie Lemke…mehr

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Produktbeschreibung
Aus dem Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main
"Warum sollte man nicht von einer genetischen Inquisition träumen?", schrieb Georges Canguilhem schon 1966. Thomas Lemke zeigt anschaulich, dass dieser Traum inzwischen teilweise Realität geworden ist. Er erläutert, wie die aus genetischen Untersuchungen gewonnenen Informationen zu Ausgrenzung und Stigmatisierung führen. Das Spektrum reicht von Benachteiligungen im Arbeitsleben über Probleme mit Versicherungen bis zu verweigerten Adoptionen. Aber auch die wissenschaftliche Kritik an genetischer Diskriminierung beruht, wie Lemke verdeutlicht, häufig auf der Vorstellung, dass Gene die menschliche Existenz fundamental prägen und den Kern der Persönlichkeit ausmachen.
Autorenporträt
Thomas Lemke, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Bergischen UniversitätWuppertal und Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2006

Wer zu dick ist, fliegt raus
Thomas Lemke beleuchtet die genetische Diskriminierung

Vermehrte Kenntnisse über die genetische Konstitution eines Menschen können zu widersprüchlich erscheinenden, aber äußerst problematischen Situationen führen: Während das so erworbene Wissen dem einzelnen, um dessen biologische Identität es geht, wenig nützt, weil er auf Ergebnisse von Gentests oftmals nicht angemessen reagieren kann, wird der Handlungsspielraum von Institutionen durch das neue genetische Wissen erweitert. Arbeitgeber, Versicherungen oder auch der Staat können zwar auch die Individuen nicht verändern, dafür sich aber die für ihre jeweiligen Zwecke geeignetsten Träger genetischer Merkmale aussuchen.

Wie schwierig es ist, der sich abzeichnenden genetischen Diskriminierung entgegenzuarbeiten, ist das Thema von Thomas Lemkes knapper, aber überaus anregender Studie "Die Polizei der Gene". Den Autor interessiert, wie wissenschaftliche Modelle genetisch bedingter Krankheiten in der Gesellschaft Mechanismen der (Selbst-)Kontrolle auslösen und welche Probleme die gleichzeitig in Gang gebrachten Debatten über "genetische Verantwortung" mit sich bringen.

Die wirklich Beeinträchtigten

Am Anfang von Lemkes Studie steht aber die noch weitaus grundlegendere Frage, was genetische Diskriminierung überhaupt ist und ob es einen Unterschied gibt zwischen genetischer Benachteiligung und anderen Benachteiligungen, insbesondere wegen einer Behinderung. Daran schließt sich die wichtige Frage an, ob die Verhinderung oder Beseitigung genetischer Diskriminierung eigener gesetzlicher Regelungen bedarf oder ob die allgemeinen Antidiskriminierungsregelungen, die es bereits gibt, ausreichen.

Lemke zeichnet insbesondere anhand der Diskussionen und Entwicklungen in den Vereinigten Staaten nach, daß die Besonderheit der genetischen Diskriminierung ihre Stoßrichtung gegen asymptomatisch potentielle Kranke sein soll, während sich Diskriminierung gegen Behinderte dadurch auszeichnet, daß sie sich gegen Menschen richtet, die tatsächlich zumeist Beeinträchtigungen aufweisen.

Der Autor arbeitet aber heraus, daß auch innerhalb der Gruppe asymptomatisch Kranker unterschieden wird zwischen Menschen, deren potentielle Erkrankung eine bekannte genetische Ursache hat, und Menschen, bei denen das nicht erkennbar ist. Im Kapitel über die "rechtlich-moralische Privilegierung genetischer Informationen" stellt er den medial vielbeachteten Fall einer Lehrerin dar, die in Hessen nicht verbeamtet werden sollte, weil in ihrer Familie Fälle der genetisch bedingten Huntington-Krankheit vorgekommen waren, also die Gefahr bestand, daß auch sie in zehn bis zwanzig Jahren erkranken könnte. Das Verwaltungsgericht Darmstadt hielt diese Entscheidung für rechtswidrig und gab einer Klage der Lehrerin statt (F.A.Z. vom 28. Juni 2004).

Dagegen wies das Verwaltungsgericht Frankfurt die Klage eines stark übergewichtigen Beamten ab, der in seiner Probezeit entlassen wurde, weil er sein Gewicht nicht, wie zugesagt, reduziert hatte. Der Dienstherr, hieß es in der Begründung, dürfe dem Risiko vorbeugen, für spätere Gesundheitsschäden aufzukommen. Nach Auffassung Lemkes zeigen diese Beispiele, daß die Unterscheidung von genetischen und nichtgenetischen Informationen nicht als Grundlage einer rechtlichen Differenzierung taugen.

Nur die Annahme einer besonderen Wirkmächtigkeit und Autonomie genetischer Faktoren könne deren privilegierten rechtlichen Status begründen. Es gebe aber viele nichtgenetische Faktoren, die sich auch einer Kontrolle der Individuen entzögen, ohne daß hier eine entsprechende Schutzwürdigkeit angenommen werde.

Lemke hält es daher für nicht nachvollziehbar, warum es Arbeitgebern oder Versicherungen untersagt sein soll, Informationen über ein Risiko späterer Erkrankungen mit Hilfe von Gentests zu gewinnen, während Risiken, die sich anders ermitteln ließen, berücksichtigt werden dürften. Dadurch entstehe eine weitere Form von Diskriminierung, die nun wiederum Menschen mit positiven genetischen Diagnosen mehr Schutz vor Diskriminierung und Datenmißbrauch zubilligten als anderen.

Tatsächlich haben empirische Studien in den Vereinigten Staaten ergeben, daß Diskriminierung aufgrund genetischer Besonderheiten gegenüber der Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, ethnischer Herkunft oder Übergewicht eine deutlich geringere Akzeptanz aufweist. Als Ursache dieser Haltung macht Lemke einen genetischen Essentialismus aus, der die Rolle, die genetische Faktoren für die Situation und Lebensperspektiven eines Menschen spielen, überbetont. Nach Auffassung Lemkes drohen Bestrebungen einer spezifischen Antidiskriminierungsgesetzgebung, wie sie sich weltweit in Gendiagnostikgesetzen niederschlägt, das Problem zu verschärfen, dessen Regulierung sie anstreben.

Auch Lemke, der in sein Buch mehrere von ihm selbst erarbeitete, detaillierte Fallstudien genetischer Diskriminierung durch Arbeitgeber, Versicherungen und Kliniken eingearbeitet hat, sieht andererseits dringenden Bedarf, Menschen mit genetischen Eigenheiten vor Ausgrenzung und Benachteiligung zu schützen. Er versteht genetische Diskriminierung zunächst als Folge einer Ausdehnung des Krankheits- und Behinderungsbegriffes, die den Unterschied von Risiken und verwirklichter Gefahr nivelliert. Deshalb hält Lemke die Einbettung einer Strategie zur Kontrolle gendiagnostischer Verfahren und der dabei erhobenen Daten in ein umfassenderes Konzept zur Verhinderung von Entsolidarisierung aufgrund individueller Gesundheitsrisiken für unverzichtbar.

Wie die Gerichte urteilen

Gegen Lemkes Ansatz können Einwände erhoben werden. Seine Absage an den genetischen Essentialismus erscheint so, wie er sie hier vornimmt, zu weitgehend. Man merkt der Studie auch an, daß sie auf mehreren Aufsätzen beruht, bisweilen wirkt die Argumentation dadurch weniger stringent, als es wünschenswert gewesen wäre. Dort, wo sich der Sozialwissenschaftler mit medizinischen Fragestellungen befaßt oder wo er Rechtsprechung auswertet, fallen Ungenauigkeiten in der Analyse auf, die die Überzeugungskraft der daraus gezogenen Schlußfolgerungen verringern.

Beispielsweise ist es in rechtlicher Hinsicht ein wichtiger Unterschied, ob, wie vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt geschehen, ein Beamtenverhältnis auf Probe beendet wird oder ob, wie in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt, eine Berufung ins Beamtenverhältnis gar nicht erst erfolgen soll. Zudem ist das Beamtenrecht aufgrund der besonderen Stellung des Beamten zum Dienstherrn überhaupt eine besondere Materie, deren Aussagekraft für die Beurteilung allgemeiner Diskriminierungstendenzen und deren juristischer Aufarbeitung begrenzt ist. Am Wert der Arbeit für die Diskussion, die frühzeitig zu erstarren droht, ändert das nichts.

OLIVER TOLMEIN

Thomas Lemke: "Die Polizei der Gene". Formen und Felder genetischer Diskriminierung. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006. 174 S., br., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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04.10.2006, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Potentielle Kranke im Visier: "Lemke will Forschungslücken aufzeigen und wohlfeile Lösungen für die gesellschaftspolitische und ethische Herausforderung, die die Ausbreitung der Gendiagnostik mit sich bringt, in Frage stellen. Das ist ihm hervorragend gelungen."

28.12.2006, Frankfurter Rundschau, Biopolitik: "Thomas Lemkes überaus kluges Buch ... ist der beste Kommentar zur geistigen Situation unserer Gegenwart."

21.03.2010, Soziologische Revue,: "Wer eine ausführliche Auseinandersetzung mit den aktuell einflussreichen Biopolitik-Theoretikern sucht, sollte zu diesem Band greifen."

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "anregende Studie" würdigt Rezensent Oliver Tolmein diese Arbeit über genetische Diskriminierung, die der Sozialwissenschaftler Thomas Lemke vorgelegt hat. Die Ausführungen über die Unterschiede zwischen genetischer Diskriminierung und anderen Formen der Benachteiligung haben ihn ebenso überzeugt wie Lemkes Plädoyer, Menschen mit genetischen Eigenheiten vor Ausgrenzung und Benachteiligungen zu schützen. Kritisch betrachtet Tolmein die Absage des Autors an den genetischen Essenzialismus, die ihm zu weit geht. Zudem scheint ihm die Argumentation nicht immer so stichhaltig, wie er sich das wünschen würde, was seines Erachtens auch damit zu tun hat, dass die Studie auf mehreren Aufsätzen beruht. Außerdem fallen ihm, wenn es um rechtliche und medizinische Fragen geht, einige Ungenauigkeiten ins Auge. Dennoch unterstreicht er die Bedeutung der Arbeit für die Debatte um die genetische Diskriminierung und bescheinigt ihr, Lücken in der Forschung aufzuzeigen und allzu wohlfeile Lösungen in Frage zu stellen.

© Perlentaucher Medien GmbH
Potentielle Kranke im Visier
"Lemke will Forschungslücken aufzeigen und wohlfeile Lösungen für die gesellschaftspolitische und ethische Herausforderung, die die Ausbreitung der Gendiagnostik mit sich bringt, in Frage stellen. Das ist ihm hervorragend gelungen." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.2006)

Biopolitik
"Thomas Lemkes überaus kluges Buch ... ist der beste Kommentar zur geistigen Situation unserer Gegenwart." (Frankfurter Rundschau, 28.12.2006)

"Wer eine ausführliche Auseinandersetzung mit den aktuell einflussreichen Biopolitik-Theoretikern sucht, sollte zu diesem Band greifen." (Soziologische Revue, 21.03.2010)