Auch Politiker haben Visionen und Träume. Hildegard Hamm-Brücher hatte Zeit ihres Lebens viele Visionen und Träume - und hat sie umgesetzt, soviel und so oft als möglich. Ob beim Thema Demokratie, beim Umgang mit der NS-Vergangenheit, ob bei Bildung oder Gleichberechtigung - nie hat sie sich von ihren Vorstellungen getrennt, nie hat sie sie verleugnet. Immer ging und geht es ihr um die Vision einer demokratischen Identität der Deutschen. Das neue Buch der bekannten Politikerin legt noch einmal Zeugnis ab von dieser Haltung. Es versammelt Beiträge der vergangenen Jahre, die aus Anlaß ihres 85. Geburtstages am 11. Mai 2006 vorgelegt werden. Wer sie liest, spürt nicht nur, daß hier jemand überzeugt ist von dem, was sie schreibt und sagt - er erfährt auch viel über Geschichte und Gegenwart unserer Republik. Hildegard Hamm-Brücher setzt sich kritisch mit dem unbekümmerten Umgang mit dem Grundgesetz auseinander, der gerade in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Sie befaßt sich mit der demokratiepolitischen Bedeutung des Bundespräsidenten, den Demokratiedefiziten in Deutschland und der Macht der Parteien. Nicht zuletzt schöpft die Gedankenwelt der Politikerin aus den eigenen Erfahrungen - mit der NS-Zeit und ihren Folgen, der Politik als Frauenberuf und auch mit der FDP. Ihr Schreiben an Guido Westerwelle vom 22. September 2002 legt dar, welche Gründe sie nach 54 Jahren Mitgliedschaft zum Austritt aus der FDP bewogen haben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.05.2006Gegen den Mantel der Gleichgültigkeit
Vollblutpolitiker können nicht loslassen. Aber es ist nicht immer die Sucht nach Aufmerksamkeit, die sie in die Öffentlichkeit treibt. Es gibt Politiker, die nichts anderes sind als engagierte Bürger - citoyens, die das Gefühl der Verantwortung nicht loswerden. Hildegard Hamm-Brücher ist so eine Politikerin. Am Donnerstag wird die frühere Münchner Stadträtin, Bundestagsabgeordnete, Staatsministerin und Kandidatin für das Bundespräsidentenamt 85 Jahre alt. Und auch wenn sich die Grande Dame der FDP, die ihrer Partei nach 54 Jahren aus Anlass der Möllemann-Affäre den Rücken kehrte, aus hohen Ämtern zurückgezogen hat - ihre politische Stimme hat sie nicht verloren. Einige ihrer anregenden Beiträge aus den vergangenen fünf Jahren versammelt ein Buch, dessen Titel eine Mahnung Richard von Weizsäckers aufgreift. Seit ihrer Jugend im Umkreis der Weißen Rose will Hamm-Brücher „den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen”. So stand es auf einem der Flugblätter, mit denen die Studenten für ihren Widerstand gegen die Nazis warben. Heute wendet sich Hamm-Brücher mit Verve gegen das Vergessen.
Auch wenn Deutschland längst ein Rechtsstaat ist, ist das Land nicht unbedingt in guter Verfassung. Politikverdrossenheit, Spendenaffären, Ämterpatronage, der Machtverlust der Parlamente - Hamm-Brücher hadert mit der Republik. Sie fordert eine unabhängige Instanz, die die Verfassungswirklichkeit kritisch beleuchtet. Gern zitiert sie ihren politischen Ziehvater Theodor Heuss, der sagte, die Verfassung müsse „im Bewusstsein und in der Freude des Volkes lebendig” sein, sonst bleibe sie nur eine „Machtgeschichte von Parteienkämpfen”. Hamm-Brücher hat immer wieder gegen die Machtversessenheit angeschrieben. Ein Land, das Politikerinnen wie sie hervorbringt, ist in einer wachen intellektuellen Verfassung.
TANJEV SCHULTZ
HILDEGARD HAMM-BRÜCHER: In guter Verfassung? Nachdenken über die Demokratie in Deutschland. C. H. Beck, München 2006. 205 Seiten, 19,90 Euro.
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Vollblutpolitiker können nicht loslassen. Aber es ist nicht immer die Sucht nach Aufmerksamkeit, die sie in die Öffentlichkeit treibt. Es gibt Politiker, die nichts anderes sind als engagierte Bürger - citoyens, die das Gefühl der Verantwortung nicht loswerden. Hildegard Hamm-Brücher ist so eine Politikerin. Am Donnerstag wird die frühere Münchner Stadträtin, Bundestagsabgeordnete, Staatsministerin und Kandidatin für das Bundespräsidentenamt 85 Jahre alt. Und auch wenn sich die Grande Dame der FDP, die ihrer Partei nach 54 Jahren aus Anlass der Möllemann-Affäre den Rücken kehrte, aus hohen Ämtern zurückgezogen hat - ihre politische Stimme hat sie nicht verloren. Einige ihrer anregenden Beiträge aus den vergangenen fünf Jahren versammelt ein Buch, dessen Titel eine Mahnung Richard von Weizsäckers aufgreift. Seit ihrer Jugend im Umkreis der Weißen Rose will Hamm-Brücher „den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen”. So stand es auf einem der Flugblätter, mit denen die Studenten für ihren Widerstand gegen die Nazis warben. Heute wendet sich Hamm-Brücher mit Verve gegen das Vergessen.
Auch wenn Deutschland längst ein Rechtsstaat ist, ist das Land nicht unbedingt in guter Verfassung. Politikverdrossenheit, Spendenaffären, Ämterpatronage, der Machtverlust der Parlamente - Hamm-Brücher hadert mit der Republik. Sie fordert eine unabhängige Instanz, die die Verfassungswirklichkeit kritisch beleuchtet. Gern zitiert sie ihren politischen Ziehvater Theodor Heuss, der sagte, die Verfassung müsse „im Bewusstsein und in der Freude des Volkes lebendig” sein, sonst bleibe sie nur eine „Machtgeschichte von Parteienkämpfen”. Hamm-Brücher hat immer wieder gegen die Machtversessenheit angeschrieben. Ein Land, das Politikerinnen wie sie hervorbringt, ist in einer wachen intellektuellen Verfassung.
TANJEV SCHULTZ
HILDEGARD HAMM-BRÜCHER: In guter Verfassung? Nachdenken über die Demokratie in Deutschland. C. H. Beck, München 2006. 205 Seiten, 19,90 Euro.
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