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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.06.2010

Heidi für Jungs
Albert von Schirnding s Roman
„Vorläufige Ankunft“
Der Junge wächst in den fünfziger Jahren im Dunstkreis eines Fürstenhauses auf, mit Griechisch und Latein, Raskolnikoff und Dorian Gray; er vergöttert seinen Lehrmeister und einen Sopran singenden Knaben, träumt am Ende doch noch von Mädchenbrüsten und kann gar nicht genug kriegen von nächtlichen Samenergüssen. Albert von Schirnding , selbst Altphilologe und Gymnasiallehrer, hat mit „Vorläufige Ankunft“ einen klassischen Bildungsroman mit autobiographischen Anleihen geschrieben, wie ihn seit Wieland kaum einer mehr so beflissen wohlmeinend, manchmal fast betulich, dann wieder mutig tabulos sich zu schreiben getraut hat.
Hauptfigur ist der Spross einer ehemaligen Adelsfamilie, der sich aber nicht nur Selbstverliebtheit und Standesdünkel hingibt, sondern Größeres vorhat. Seine ohnehin überdurchschnittliche Bildung und die Begeisterung, sich ganz den Geistesdingen zu widmen, macht diese höchst idealistische Erzählung zu einem Bildungsroman auch im wörtlichen Sinn. Insbesondere die Musik hat es dem Autor angetan, auch wenn der begnadete Sopranist auf den ordinären Namen Toni getauft wurde. An solchen Kleinigkeiten zeigt sich manchmal der starke Wille zur stets sinntragenden Konstruktion und schwärmerischen Metapher. So sehr man die Begeisterung des Helden für die Musik im Allgemeinen und den authentischen und wohlklingenden Knabengesang für die Werke von Schütz, Bach und den frühen Mozart im Besonderen teilen mag: Die Euphorie des Autors gebiert stellenweise auch Ideen-Ungeheuer und böse Mythen.
Zum Beispiel jene vom allzu temperamentvollen Chorleiter, dem man hemmungslose Grobheiten gegen die Knaben nachsehen muss. In der Praxis, die Schirnding besser kannte, nachdem er selbst einen Solisten des Tölzer Knabenchores unterrichtete, werden die Kinder durch permanenten Psychoterror traumatisiert, was allerdings oft erst spät und manchmal gar nicht zutage tritt. Kritiker dieser Methoden werden von solchen Chorleitern gerne als Weicheier und Päderasten diffamiert. Und dass man sich als Zehnjähriger von der inzwischen zur Geschäftsführerin aufgestiegenen Frau des ehemaligen Chorleiters ins Gesicht schlagen lassen muss, ist mit Schirndings leider nicht bis zu Ende gedachter Verteidigung eines autoritären Erziehungswillens kaum vereinbar, vor allem, wenn man solcherlei mit der an anderer Stelle enthusiastisch vorgetragenen traditionellen humanistischen Position vergleicht.
Andererseits gibt es im Roman auch die ganz große Autorität, den Übervater. Keine goetheanische Turmgesellschaft, sondern den großen Meister, der mit westlichen und fernöstlichen Weisheiten gesegnet ist und, George gleich, Jünglinge um sich schart – natürlich sind es genau zwölf –, um sie der dummdreisten kapitalistischen Lehre vom Glück des Egoismus zu entziehen und einer neuplatonistisch-christlichen, auf jeden Fall aber humanen und vernünftigen Welt zuzuführen. Solcherlei Ideale so hoch zu hängen, wie Schirnding dies wagt, schafft nicht nur Probleme in der Erzählstruktur, sondern auch stilistische. Jedes Adjektiv zu viel kann hier ganze Kathedralen der Erkenntnis einstürzen lassen.
Schirndings Kirche hält, auch wenn sie manchmal bedrohlich wackelt. Der Meister stirbt schließlich, mit schlaffem Verstand und blau gefärbtem Penis – da kennt der Autor kein Erbarmen. Man trauert, besucht die Eltern, trifft sich bei Furtwänglers in der Küche und feiert sich, das ehemals adlige, nun aber moralisch erhabene feingeistige Bürgertum, als neue Elite. Und Toni kommt endlich in den Stimmbruch. Ist diese Toni-Story am Ende doch eine Art Heidi-Roman für gebildete Jungs? HELMUT MAURÓ
ALBERT VON SCHIRNDING : Vorläufige Ankunft. Roman. Verlag Langewiesche-Brandt, Ebenhausen bei München 2010. 222 Seiten, 24 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2010

Der Engel stürzt

Auch in Albert von Schirndings neuem Roman bleiben die Motivkonstanten seines Werks erkennbar: vornehme Herkunft - der Vater stand in Diensten des Fürsten von Thurn und Taxis in Regensburg -, die Faszination der Antike und die Leidenschaft zur Musik. Darüber aber entfaltet sich ein erfindungsreiches Spiel der Varianten. Vor allem am Anfang bewegt sich der Autor in neuer Bahn: mit der sehr direkten Darstellung der Pubertätskonflikte. Als ein lineares Band zieht sich durch den Roman die Geschichte des Freundschaftsbunds zwischen dem Erzähler und einem Regensburger Sängerknaben, den seine unvergleichliche Stimme sogar in die Theater und Opernhäuser Europas bis in die Privatkapelle des Papstes führt, über den aber das Damoklesschwert des Stimmbruchs hängt und dessen "Absturz aus Engelssphären" zur traurigen Sensation in Rom wird. Beide Freunde sind in einen Kreis von Auserwählten aufgenommen worden, und der umfangreiche Mittelteil, "Die Anstalt", zeigt sie unter dem Einfluss eines "charismatischen Lehrers", des "Meisters". Durch die Konzeption dieses männlichen Elitekreises hindurch schimmern Vorbilder wie die vom Bund der "Hochgeistigen" in Hesses "Glasperlenspiel" oder vom Bund "eines der Meister des Meisters": Stefan George. Nach dem Tod des Lehrers zerfällt die elitäre "Anstalt". So ganz wollen in der Erzählerfigur der gelehrige Schüler und der Skeptiker, der uns im Schlussteil, "Rom", begegnet, nicht zusammenpassen. Gegenstand dieser Skepsis ist allerdings auch der römische Katholizismus, der einen Giordano Bruno im Jahr 1600 auf den Scheiterhaufen brachte. Und dagegen hat der "Meister" einen Weg gewiesen, der dem Erzähler "scharf konturiert im griechischen Morgenlicht" erscheint. Hellas statt Rom! (Albert von Schirnding: "Vorläufige Ankunft". Roman. Verlag Langewiesche-Brandt, Ebenhausen 2010. 222 S., geb., 24,- [Euro]) WHi

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