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Gefühle sind so alt wie die Menschheit. Aber was wissen wir über sie und welche Bedeutung messen wir ihnen bei? In diesem Band werden wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten analysiert, die Europäer seit dem 18. Jahrhundert über Affekte, Leidenschaften, Empfindungen und Emotionen führten. Dabei zeigt sich, wie eng dieses Gefühlswissen mit den sozialen, kulturellen und politischen Strukturen moderner Gesellschaften verknüpft ist und wie es sich mit ihnen wandelt.

Produktbeschreibung
Gefühle sind so alt wie die Menschheit. Aber was wissen wir über sie und welche Bedeutung messen wir ihnen bei? In diesem Band werden wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten analysiert, die Europäer seit dem 18. Jahrhundert über Affekte, Leidenschaften, Empfindungen und Emotionen führten. Dabei zeigt sich, wie eng dieses Gefühlswissen mit den sozialen, kulturellen und politischen Strukturen moderner Gesellschaften verknüpft ist und wie es sich mit ihnen wandelt.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2011

Was drängst du denn so wunderlich, mein Herz?
Zuletzt ist alles Emotion: Ein Band spürt unserem Reden über Gefühle von der Aufklärung bis zur Gegenwart nach

Anfang des achtzehnten Jahrhunderts musste man unter "Begierde" nachschlagen, wollte man etwas über Gemütsbewegungen oder Leidenschaften erfahren. 1775 tauchte erstmals das Stichwort "Gefühl" in einem Lexikon auf. Das neunzehnte Jahrhundert kannte eine nie wieder erreichte Fülle an Gefühlsbegriffen, doch ab den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts verdrängte die "Emotion" deren verbliebene Reste.

Heute reden alle von Emotionen, überall dürfen sie eine Rolle spielen: in der Wissenschaft, im Management, in der Politik, in der Medizin. Das Interesse an den Emotionen jedoch für ein Novum zu halten ist einfach geschichtsvergessen, meint die Historikerin Ute Frevert, die mit ihren Mitautorinnen das Gefühlswissen der letzten zweihundertfünfzig Jahre aus deutsch-, englisch- und französischsprachigen Lexika rekonstruiert hat.

Anders als ein modernes Lexikon versuchten die älteren Enzyklopädien Orientierungswissen zu liefern: wie man Gefühle zu verstehen, wie man ihre Echtheit erkennen und wie man mit ihnen umzugehen habe. Gefühle wurden dabei keineswegs als irrational verdammt, sondern der angemessene Umgang mit ihnen als Distinktionsmerkmal eines selbstbewussten Bürgertums vorgestellt: Während der Adel Emotionen vortäusche und lediglich "Masken" zur Schau trage, das einfache Volk hingegen von seinen Emotionen mitgerissen werde, zeichne sich der Bürger durch den natürlichen, unverfälschten, aber beherrschten Ausdruck der Gefühle aus, referiert Monique Scheer. Der Körper galt dabei als Garant der Wahrhaftigkeit, denn er brachte die inneren seelischen Vorgänge zum Ausdruck. Dass die angemessene Ausdrucksform eines Gefühls sorgfältig eingeübt werden musste, tat ihrer Beurteilung als "natürlich" keinen Abbruch.

Wie stark die Verortung der Emotionen in den letzten drei Jahrhunderten zwischen Leib und Seele schwankte, zeigt sich besonders in der Medizin: Wenn heute die Einheit von physischen und psychischen Phänomenen betont wird, ist es nicht weiter erstaunlich, dass sich selbst für ein Leiden wie das gebrochene Herz eine medizinische Erklärung findet: nämlich eine schwerwiegende Störung des Herzmuskels als Reaktion auf ein einschneidendes emotionales Ereignis. Doch während heute Gefühle gerne schnell als wahrgenommene Körperzustände eingeordnet werden, waren sie im achtzehnten Jahrhundert eine Kraft, die auf den Körper einwirkt: "Leidenschaften verzehren den Leib, wie Motten ein Gewand", zitiert Bettina Hitzer den Krünitz von 1779.

Die beträchtlichen Veränderungen im Diskurs über die Emotionen gehen vor allem auf die unterschiedlichen Leitwissenschaften zurück, an denen sich die Diskurse orientierten. Im achtzehnten Jahrhundert übernahmen Mediziner den Emotionsdiskurs von den bis dahin dominierenden Philosophen und Theologen, gingen aber nicht so weit, Gefühle nur im Körper zu lokalisieren. Erst im neunzehnten Jahrhundert konzentrierte sich der naturwissenschaftlich geprägte Diskurs auf Emotionen als Körperzustände, während Philosophen sie unabhängig davon als geistige Phänomene zu fassen versuchten. Die Zusammenführung beider Ansätze blieb der Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts, die Gestaltung der Emotionen als zentrale individuelle Ressource der therapieverliebten Gegenwart vorbehalten.

Lexikoneinträge zu Emotionen geben sich heute knapp und sachlich, verbergen dabei aber das Hintergrundwissen, das einen Diskurs erst verständlich macht. Die Diskussion um die seelische Ermüdung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts etwa ist erst vor dem Hintergrund der gerade formulierten Hauptsätze der Thermodynamik zu verstehen, wie Sarah Hitzler in ihrem Beitrag rekonstruiert.

Bei aller Nüchternheit hat zudem auch der aktuelle Emotionsdiskurs seine normative Seite: Erwartete man früher von Menschen in reiferem Alter einen angemessenen Ernst und gestand den Greisen ihren Altersstarrsinn zu, ist heute lebenslange gute Laune angesagt, wie Nina Verheyen vor Augen führt. Gerade im aktuellen Durcheinander verschiedenster Emotionsdiskurse mag es helfen zu rekonstruieren, wie das Reden über Gefühle eingeführt, verstetigt, kritisiert und umformuliert wurde.

Die Lexika der letzten Jahrhunderte erweisen sich in den vielseitigen Beiträgen des Bandes als ausgesprochen ergiebige Quelle. Sie zeigen, dass mit Max Webers Rationalisierungsthese und der Neurowissenschaft der Emotionen längst nicht alles gesagt ist. Und sie verweisen auf vergessene, doch bitter nötige Diskurse - wie etwa jenen über die Reichweite zwischenmenschlicher Sympathie als einer Kraft, von der man im achtzehnten Jahrhundert glaubte, sie könne Gesellschaften zusammenhalten.

MANUELA LENZEN

Ute Frevert u.a.: "Gefühlswissen". Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne.

Campus Verlag, Frankfurt am Main 2011. 364 S., geb., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Quellen für die hier angestrengten Rekonstruktionen historischen "Gefühlswissens" sind deutsche, englische und französische Lexika der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte, berichtet Rezensentin Manuela Lenzen. Und es handelt sich um äußerst wertvolle Quellen, wie die Kritikerin versichert, da sie Zeugnis von längst "vergessenen, doch bitter nötigen Diskursen" ablegten. Dass die epochal dominierenden Gefühlsbegriffe sich einer Orientierung an den jeweiligen Leitwissenschaften verdankten - der Theologie und Philosophie im 18., der Medizin und den Naturwissenschaften im 19., der Psychologie im 20. Jahrhundert - hätten die Autoren plausibel herausgearbeitet, schreibt Lenzen. Dabei sei dieser Sammelband nicht nur dazu angetan, historische Neugierde zu befriedigen. Vielmehr drängt sich der Rezensentin die Schlussfolgerung auf, dass wahrscheinlich auch unser heutiger - im historischen Vergleich durchaus defizitärer - Kenntnisstand über Emotionen nicht der Weisheit letzten Schluss darstellt.

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Was drängst du denn so wunderlich, mein Herz?
"Gerade im aktuellen Durcheinander verschiedenster Emotionsdiskurse mag es helfen zu rekonstruieren, wie das Reden über Gefühle eingeführt, verstetigt, kritisiert und umformuliert wurde. Die Lexika der letzten Jahrhunderte erweisen sich in den vielseitigen Beiträgen des Bandes als ausgesprochen ergiebige Quelle." Manuela Lenzen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.08.2011)

Alles eine Frage des Gefühls
"Was uns zurzeit noch fehlt, ist genug historisches Gefühlswissen, nicht zuletzt, um unsere heutigen Empfindungen einbetten und relativieren zu können." Ute Frevert im Gespräch mit Eva Illouz (DIE ZEIT, 06.09.2012)