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Der in Tallinn lebende estnische Schriftsteller Jaan Kross wendet sich in seinem Roman einer historischen Gestalt des 16. Jahrhunderts zu. Balthasar Rüssow, kann, obwohl er der estnischen Unterschicht entstammt, in Reval eine Lateinschule besuchen. Lehr- und Wanderjahre führen ihn nach Stettin und an die Wittenberger Universität. In die Heimat zurückgekehrt, erhält er eine Pfarrstelle und heiratet die Frau eines reichen deutschen Kürschners. Schwierigkeiten bekommt er als Verfasser einer politischen Chronik, die allein der Wahrheitsfindung dienen soll, und infolgedessen den politisch Mächtigen, der deutschen Ritterschaft, ein Dorn im Auge ist.…mehr

Produktbeschreibung
Der in Tallinn lebende estnische Schriftsteller Jaan Kross wendet sich in seinem Roman einer historischen Gestalt des 16. Jahrhunderts zu. Balthasar Rüssow, kann, obwohl er der estnischen Unterschicht entstammt, in Reval eine Lateinschule besuchen. Lehr- und Wanderjahre führen ihn nach Stettin und an die Wittenberger Universität. In die Heimat zurückgekehrt, erhält er eine Pfarrstelle und heiratet die Frau eines reichen deutschen Kürschners. Schwierigkeiten bekommt er als Verfasser einer politischen Chronik, die allein der Wahrheitsfindung dienen soll, und infolgedessen den politisch Mächtigen, der deutschen Ritterschaft, ein Dorn im Auge ist.
Autorenporträt
Jaan Kross, 1920 in Estland geboren, studierte Jura in Tartu. Seit 1954 lebt er als freier Schriftsteller und Übersetzer in Tallinn.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.1995

Schlag dich durch
Jaan Kross befördert einen Kutschersohn · Von Thomas Steinfeld

Jaan Kross erzählt Geschichten von reichen Geistern in einer kleinen Welt. Jeder seiner Romane ist ein Stück aus der Vergangenheit des estnischen Volkes, und das "Leben des Balthasar Rüssow" - in Deutschland zum ersten Mal 1986 veröffentlicht, damals aber ohne Erfolg, jetzt wieder vorgelegt - macht keine Ausnahme. Erzählt wird eine Geschichte aus der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts: Wie der Sohn eines Kutschers die Last seiner ethnischen und ständischen Herkunft überwindet, auf die Lateinschule kommt, in Deutschland Theologie studiert und schließlich von den deutschen Herren seines Volkes als beinahe Ihresgleichen geduldet werden muß. Balthasar Rüssow, der Pastor, schreibt dann die "Chronik von Lyfflandt", den ersten Versuch einer Geschichte dieses Weltwinkels.

Ein junger Held schlägt sich durch das Leben, dann wird er älter, und Balthasar Rüssow geht es nicht anders als seinen Brüdern im Geiste, Edward Waverley oder Natty Bumppo zum Beispiel: Im Hintergrund blitzen die Messer und grollen die Kanonen, vorne aber seufzen die Menschen. Das Schlachtgetümmel veranstalten die Ritter des Deutschen Ordens, der baltische Adel, die Russen, die Schweden, die estnischen Bauern - alles prügelt sich um dieses Land.

"Das Leben des Balthasar Rüssow" ist ein historischer Roman, bis hin zu den barockisierenden Kapitelüberschriften. Mit der Ironie des modernen Erzählens hat Jaan Kross nichts im Sinn, und seine Kulissen haben die Beständigkeit von sauber gefügten Bruchsteinmauern. Aber man würde der Geschichte nicht gerecht, wollte man sie schlicht an den ästhetischen Errungenschaften der Romankunst des zwanzigsten Jahrhunderts messen. Jaan Kross führt fort, was zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bei Walter Scott und James Fenimore Cooper seinen Ausgang genommen hatte und dann bei C. S. Forester und seinem britischen Seeoffizier Horatio Hornblower in den Niederungen des Knabenromans versumpfte. Manchem hat dieses Genre Räusche beschert, die er sein Leben lang nicht vergaß.

Emile Zola hatte, nachdem der historische Roman kindlich geworden und in der biographischen Form aufgegangen war, vergeblich die Entheldung des Helden gefordert. Der nämlich triumphierte nicht nur im Trivialen, sondern auch im volkspädagogischen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts. Dort verschwatzte er sich im Pathos der guten Absichten, ganz gleich, ob diese nun dem guten König Henri IV. oder, in Döblins "Wallenstein", dem Kaiser von Österreich zugute gehalten wurden. Allein die gute Absicht, eine baltische Republik in die Kulturgeschichte Europas zurückzuschreiben, wäre kein Grund, die Romane von Jaan Kross zur Kenntnis zu nehmen.

Walter Scott nannte seine Helden "passiv", und damit meinte er, daß sie nicht als Herren der eigenen Geschichte auftreten, sondern marginale, im Grunde genommen unheroische Gestalten sind, die vom Lauf der Dinge mitgerissen werden. Jaan Kross kehrt zu dieser älteren Tradition des historischen Romans zurück, und die Randständigkeit des Helden verbindet sich mit dem Geschick seines Landes an der europäischen Peripherie. Das Pathos gehört zu einer Emanzipation, und deswegen verzeiht der Leser nicht nur den Anachronismus der Form, sondern sogar den Nationalismus, der dieses Anliegen vorantreibt. Mit einer solchen Absicht kann der Roman eher umgehen als die Geschichtswissenschaft: Er kommt ohne die erschlichene Überlegenheit des Nachgeborenen daher, die eine wissenschaftliche Legitimität für sich beansprucht.

Die Ferne der Vergangenheit ist für den historischen Roman ein Problem, denn in den Schemen macht die Phantasie sich breit. Jaan Kross aber tritt diesen Schatten mit dem Eifer eines Archäologen entgegen: Den Kutschersohn Balthasar Rüssow hat es gegeben, und tatsächlich hat er die erste Geschichte Livlands geschrieben. Es ist, als habe der Roman die Konkurrenz gegen die Wissenschaft noch nicht verloren: Der Schriftsteller verlangt Glaubwürdigkeit, sein Ernst gilt der historischen Dokumentation, und eine Konjektur ist wie ein Betrug. Diese Genauigkeit hat eine sonderbare Wirkung. Es entsteht der Eindruck eines zeitlosen Raums, so als sei das Historische noch nicht zu Ende gespielt. Selbst das Wunderbare, das sich in dieser Geschichte zuträgt, ist verbürgt, und darin liegt der letzte Triumph des Autors: Daß sich auch dieses zugetragen hat, erscheint wie ein Zauber. Das hat Genie, denn das Verfahren entkräftet den modernen Einwand gegen den historischen Roman, er sei auf oberflächliche Weise einem Schein von Wirklichkeit verpflichtet. Es ist alles ganz anders. Hinter dem Schein ist: nichts.

Jaan Kross: "Das Leben des Balthasar Rüssow". Roman. Aus dem Estnischen übersetzt von Helga Viira, aus dem Russischen von Barbara Heitkam. Hanser Verlag, München 1995. 1452 S., geb., 68,- DM.

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