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Ein Reisebericht : Amerika- die primitive Gesellschaft der ZukunftJean Baudrillard lässt sich auf seiner Reise durch das Land wie seine geistigen Vorfahren Crèvecoeur und Tocqueville von den gewaltigen Stadt- und Naturlandschaften zu philosophischen Reflexionen anregen. Auch bei ihm geht es um ihren Symbolwert für Amerika als verwirklichte Utopie. Doch stellt sich dieses Problem heute anders als vor zweihundert Jahren: Einst ging es um pursuit of happiness, um das optimistische Streben nach Glück innerhalb einer idealen Staatsform. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sind in Amerika die…mehr

Produktbeschreibung
Ein Reisebericht : Amerika- die primitive Gesellschaft der ZukunftJean Baudrillard lässt sich auf seiner Reise durch das Land wie seine geistigen Vorfahren Crèvecoeur und Tocqueville von den gewaltigen Stadt- und Naturlandschaften zu philosophischen Reflexionen anregen. Auch bei ihm geht es um ihren Symbolwert für Amerika als verwirklichte Utopie. Doch stellt sich dieses Problem heute anders als vor zweihundert Jahren: Einst ging es um pursuit of happiness, um das optimistische Streben nach Glück innerhalb einer idealen Staatsform. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sind in Amerika die politischen, materiellen und sexuellen Dimensionen der Freiheit in geradezu obszönem Ausmaß realisiert, so dass die Frage nunmehr lautet: "What are you doing after the orgy?" Sind wir an einem Ende der Geschichte angelangt? Baudrillard findet nach dem Bankrott aller großen gesellschaftstheoretischen Alternativentwürfe heute in Amerika wieder eine tabula rasa vor, die neuer Einschreibungen harrt. Und so ist für Baudrillard auch nicht mehr die fruchtbare Natur, sind nicht mehr die üppigen Prärien Amerikas Sinnbild und Symbol, sondern: seine Wüsten.
Autorenporträt
Jean Baudrillards (1929-2007) Denken bewegte sich am Rande der Systeme und unterwarf sich weder dem politischen noch zeitgeistigen Mainstream. Mit seinen Thesen zu Simulation, Virtualität, Fundamentalismus und Terrorismus prägte er das Denken der letzten Jahrzehnte entscheidend.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.1995

Den Code Amerikas knacken
Ewige Wiederkehr der gleichen Simulation: Baudrillard auf Reisen

"Es gibt für mich keine Wahrheit Amerikas." Dieser Satz klingt bescheiden. Ihm folgt eine maßlose Forderung: "Ich verlange von den Amerikanern nicht mehr, als Amerikaner zu sein." Das ist zum mindesten despotisch. In der lächerlichen Variante ist es das Credo jedes überforderten Berichterstatters, der in eine Fremde entsandt ist und seinen ethnographischen Blick nicht aufgeben mag. Dem alles ist, wie es ist. Jean Baudrillards "brutale Naivität", wie er selbst seinen Umgang mit "Amerika" nennt, ist natürlich Vorsatz. Simpel formuliert, statuiert er an ganz Amerika das Exempel seiner Strategie, die er in seinem Hauptwerk "Der symbolische Tausch und der Tod" aufgezeichnet hat. Dort schrieb er 1976: "Man muß den Tod gegen den Tod ausspielen - die radikale Tautologie." Will Baudrillard jetzt Amerika gegen Amerika ausspielen?

"Amérique" erschien im französischen Original bereits 1986. Die deutsche Übersetzung, die ein Jahr später herauskam, war lange Zeit vergriffen. Jetzt hat der Verlag sie ohne Hinweis auf die Neuauflage neuaufgelegt: Wie soll man Simulationstheoretiker anders edieren? Und wie liest sich der Vordenker, nachdem ihn längst die publizistische Nachhut eingeholt hat? Wie reist es sich heute, zehn Jahre danach, mit "Amerika" durch Amerika?

Baudrillard, der europäische Philosoph, gibt sich als selbsternannter "Code"-Knacker, der aus seiner Position gar kein Hehl macht: "Worum es geht, ist, in die Fiktion Amerikas einzusteigen, in Amerika als Fiktion. Als solche beherrscht es ja die Welt." Dafür freilich muß Amerika sein, als was es sich selbst - geht es nach Baudrillard - überwältigen wird: die "Simulation" seiner selbst. Für den reisenden Philosophen scheint Amerika die Bestimmung zu haben, zu erkennen, daß es als seine eigene Simulation auf dem vorschriftsmäßigen Weg ist, sich selbst zu vernichten. Zu diesem Zweck ex- und implodiert, triumphiert, promiskuiert und mutiert, deterritorialisiert und hyperrealisiert es sich einstweilen an allen Ecken und Enden in Baudrillards Amerika. Man wird dabei den maulwurfhaften Gedanken nicht los, daß sich Amerika gar nicht um die Zwangsläufigkeit, die sein Besucher vorgesehen hat, scheren muß.

Dem unterläuft in seiner Begeisterung zudem der narzißtische Kardinalfehler schlechthin: Auch in seinem dauernden "Man" sagt er ständig "Ich". Eigentlich glaubt er an das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das seine europäische Seele des neunzehnten Jahrhunderts weitet. Er breitet die Phantasie des größensüchtigen Kleinkinds vor dem Spiegel - den ganzen Kitsch des weiten Lands der Seele, das immer das der eigenen ist - auf einen fremden Kontinent aus. Der puer senex im Reich der buildings. Und dieses kluge Kind der Alten Welt jubiliert über seine Erkenntnisse: "Freude über einstürzende Metaphern, worüber wir bei uns nur Trauer empfinden können. Heiterkeit des Obszönen, Obszönität der Evidenz, Evidenz der Macht, Macht der Simulation." Und dann spricht das Staunen wahr: "Zum Schutz unserer betrogenen Jungfräulichkeit errichten wir Abgründe von Affektiertheit." Aber Amerika läßt die geistreiche Jungfer einfach links liegen.

Der Meisterdenker dekretiert: "Ich will mich exzentrieren, möchte exzentrisch werden, aber an einem Ort, der das Zentrum der Welt darstellt." Wer will das nicht? Sage er doch gleich, daß er der Nabel der Welt sein will, ohne in Schrumpfform von ihr aufgesogen zu sein. Baudrillards "Ich", in "Amerika" ohnehin in seinem Film unterwegs, ist genaue Spiegelung des Filmtänzers Fred Astaire: Wie ein Amerikaner in Paris verhält sich ein Pariser in Amerika. Als ahne er, daß er in einem ziemlich romantischen Film chargiert, enthüllt er vorauseilend apodiktisch: "Das Videostadium hat das Spiegelstadium abgelöst." Das habe aber "mit Narzißmus nichts zu tun . . . kein narzißtisches Imaginäres entfaltet sich rund um das Video oder die Stereokultur, schon eher ein Effekt verzweifelter Selbstreferenz, ein Kurzschluß, der unmittelbar dasselbe an dasselbe anschließt und damit gleichzeitig seine Intensität an der Oberfläche wie seine Bedeutungslosigkeit in der Tiefe unterstreicht."

Einem solchen Subjekt schenkt Amerika wahre Wunder. Ihm können alle Christusbilder "hier" Björn Borg ähneln, weil sie Thorwaldsen nachgebildet seien; das heißt dann eine "Begegnung der dritten Art". Björn Borg, eine Fußnote auf den Centercourts, wäre heute, zehn Jahre später, schon eine Anmerkung wert, und die Spezialeffekte eines mäßig beunruhigenden amerikanischen Science-fiction-Films leuchten schon gar keinem mehr ein. Die hochhackigen Gedanken über Amerikas "anorektische" Kultur als Gegenstück zur Fettleibigkeit - "Beide sind homöopathische Endlösungen, Lösungen der Vernichtung." - haben in ihrer Banalität schon etwas Tragisches.

Hoffnungsfroh dagegen konstatiert dieses Subjekt, daß in New York "das Universum des Blade Runner" sich erfüllt, "das Universum nach der Katastrophe". (Daß Ridley Scotts Film aus dem Jahr 1982 in Los Angeles spielt, stört bei so viel Finderglück nicht mehr.) Unfreiwillig komisch sind andere Wortkaskaden: "Mikrowellenherd, Müllabfuhr, orgiastische Elastizität des Teppichfußbodens: diese weiche und strandartige Zivilisationsform läßt unweigerlich an Weltuntergang denken." Was mit solchen weichgespülten Heilserwartungen eher untergeht, ist der Anspruch eines Theoriegebäudes, das auf Revolutionierung zielt.

Baudrillards "Amerika" ist die Kippfigur einer diskreditierten Nostalgie. Als wisse dieser Text um sein eigenes Dilemma, heißt sein erstes Wort "Sehnsucht". Die wüstenweit ausgedehnten cool memories sind ein apartes Reisebuch für eine Fahrt durch Amerika, im geschmacklos hartweiß lackierten, gemieteten Chrysler Le Baron, mit sechzig Meilen pro Stunde Höchstgeschwindigkeit. Zu lesen in einem Motel, während im Fernsehen ein Konzert mit Garth Brooks (den auch bald keiner mehr kennt) läuft. "Amerika" entschädigt mit einigen blendend melancholischen Passagen dafür, daß Amerika eben nicht ein hyperrealistisches System ist, sondern eine ziemlich ruinierte Utopie. Oder, wie Baudrillard über das Graffiti live or die auf der Mole von Santa Monica (unbedingt in der Dämmerung aufsuchen!) sinniert: "Und doch liegt poetische Kraft in dieser unbestreitbaren Tautologie, wie in allem, bei dem es nichts zu verstehen gilt." ROSE-MARIA GROPP

Jean Baudrillard: "Amerika". Aus dem Amerikanischen von Michaela Ott. Verlag Matthes & Seitz, München 1995. 204 S., br., 39,80 DM.

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