Produktdetails
  • Verlag: NordSüd Verlag
  • ISBN-13: 9783314015687
  • ISBN-10: 3314015682
  • Artikelnr.: 23405091
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.08.2008

Eigentlich könnte die Welt in Ordnung sein
Huang Beijia erzählt in „Seidenraupen für Jin Ling” vom Schulstress eines chinesischen Mädchens
Eigentlich könnte die Welt in Ordnung sein: Jin Ling ist ein elfjähriges chinesisches Mädchen mit rundem Gesicht und freundlichem Charakter, mit liebevollen Eltern aus der intellektuellen Mittelschicht. Eine behütete Kindheit, könnte man meinen, wäre da nicht das große Problem des Schulwechsels von der Grund- in die Mittelschule: Nur mit den besten Noten wird Jin Ling auf die beste Mittelschule kommen, und von dort mit den besten Noten vielleicht irgendwann in die Oberstufe der besten Schule, und von dort mit den besten Noten vielleicht irgendwann auf die beste Universität. Und weil es so schwierig ist, immer und überall die Beste zu sein, dreht Jin Lings Mutter vor lauter Ehrgeiz und Stress fast durch, und beginnt, sich und ihrer kleinen Familie das Leben zur Hölle zu machen. Auch wenn die Geschichte, die Huang Beijia in Seidenraupen für Jin Ling erzählt, in China spielt: Sie könnte sich in vielerlei Hinsicht so auch in Deutschland zutragen, wo der womöglich gefährdete Übertritt ihrer Kinder aufs Gymnasium viele Eltern ebenfalls zu Nervenbündeln macht. In China ist die Situation noch verschärft durch die Ein-Kind-Politik: Wer nur ein Kind hat, möchte ihm unter allen Umständen die besten Bildungs- und Aufstiegschancen bieten. Dies baut einen schier unmenschlichen Leistungsdruck auf, den man in dieser extremen Form bisher nur aus Japan kannte. Doch auch in China nehmen Lehrer und Eltern das Thema Schule dermaßen ernst, dass die Kinder von den Ansprüchen schier erdrückt werden.
Jin Ling hat nun das Glück, eigentlich ein fröhlicher Mensch zu sein und den Druck von sich abzustreifen wie eine unbequeme zweite Haut. Doch irgendwann gelingt das selbst ihr nicht mehr – angesichts einer Mutter, die bei jeder schlechten Mathematiknote fast zusammenbricht, kann auch die Stärkste nicht gelassen bleiben. Nur ein paar Seidenraupen, die sie in einem Schuhkarton aufwachsen lässt, lenken Jin Ling ein bisschen ab – und bringen sie unverhofft eines Tages sogar der Lösung ihrer schulischen Probleme näher.
Seidenraupen für Jin Ling ist literarisch eher anspruchslos: schlicht chronologisch erzählt, in schmuckloser, klarer Sprache mit vielen Dialogen. Doch das Buch gibt tiefe Einblicke in den belastenden Alltag einer chinesischen Familie und eine schwierige Mutter-Kind-Beziehung. Dabei entgeht es der Versuchung, die Rollen zu eindeutig zu verteilen und die Mutter als bloße Schreckschraube zu denunzieren; vielmehr wird sie als eine eigentlich vernünftige Frau dargestellt, die sich nur in das vermeintlich lebensentscheidende Thema Schulwahl so hineinsteigert, dass selbst ihr bodenständiger Mann sie nicht bremsen kann. Nur der Psychologe, den sie wegen der vermeintlichen Lernschwäche mit der Tochter aufsucht, sagt ihr klipp und klar, dass die Schwierigkeiten bei ihr selbst liegen.
Man merkt, dass die Autorin aus eigener Erfahrung schreibt, wie sie selbst im Nachwort gesteht. Dort erzählt sie vom „bitteren Nachgeschmack”, den sie nach den Grundschul-Prüfungen ihrer eigenen Tochter empfand: „Warum müssen unsere Kinder einen so harten Weg einschlagen? Warum müssen sie eine beinahe unmögliche, lebensfeindliche Hürde überwinden, um in der Gesellschaft ihren Platz zu finden?” Fragen, die nicht nur in China aktuell sind. (ab 13 Jahre und für Erwachsene) ANTJE WEBER
HUANG BEIJIA: Seidenraupen für Jin Ling. Aus dem Chinesischen von Barbara Wang und Hwang Yi-Chun. Baobab/ NordSüd Verlag 2008. 188 Seiten, 14,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Wieso das Buch für Erwachsene und für Kinder und Jugendliche ab 13 Jahren taugt, weiß Antje Weber nach der Lektüre genau. Schließlich ist Huang Beijias autobiografisch grundierte Geschichte von der elfjährigen Jin Ling und ihrer ehrgeizigen Mutter keine, die sich ausschließlich in China zutragen könnte. Über seine universelle Gültigkeit hinaus imponiert der ansonsten schlicht dialogisch gehaltene, chronologische Text der Rezensentin durch tiefe Einblicke in den Alltag einer chinesischen Familie und durch den Umstand, dass es der Autorin gelingt, keine allzu eindeutigen Figuren zu entwerfen.

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