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Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250105060
  • ISBN-10: 3250105066
  • Artikelnr.: 22812995
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.2008

Die Götter schweigen im Walde

Ein respektvoller Agnostiker und ein großer Lyriker des zwanzigsten Jahrhunderts, der erst noch zu entdecken ist: Salvador Esprius Werke, übersetzt von Fritz Vogelgsang, liegen jetzt auf Deutsch vor.

Von Hans Ulrich Gumbrecht

Vielen Lesern in Deutschland und vielleicht sogar weltweit hat das Schwerpunktthema auf der Frankfurter Buchmesse des vergangenen Jahres klargemacht, dass die Literatur in katalanischer Sprache ihre eigenständige Tradition und ihre eigenen, unverwechselbaren Stimmungen und Themenkonfigurationen hat. Dies als eine Chance neuer Erfahrung zu begrüßen hat nichts zu tun mit politischer Korrektheit oder multikultureller Höflichkeit. Denn gewiss stand die katalanische Literatur über Jahrhunderte allzu sehr im Schatten der Literatur in kastilischer Sprache (der "spanischen Literatur"), von der sie sich in mehreren Hinsichten unterscheidet: Aktiver als die kastilische Literatur, war sie Teil der europäischen Bewegungen der Moderne (und nicht primär Resonanz und Reaktion auf sie); die bis zum sichtbaren Synkretismus gehende Nähe zu den islamischen und jüdischen Traditionen der Iberischen Halbinsel war in Katalonien für lange historische Phasen eine Nachbarschaft der Offenheit und der wechselseitigen Faszination (und meist eine Faszination mit "gutem theologischen Gewissen"). Ähnliches gilt seit den mittelalterlichen Debatten um die Traktate von Ramon Llull auch für die literarische Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie, wo sehr früh ein Gefühl von der Ferne Gottes Fragen und intellektuelle Motive in Umlauf brachte, die wir rückblickend unter Begriffen wie "negative Theologie" oder "Existentialismus" fassen können. Apologetisch jedenfalls - wie die in ihrer begrifflichen Komplexität brillante kastilische Theologie der Gegenreformation - war die religiöse Literatur in katalanischer Sprache nur selten.

All diese Tendenzen vereint das Werk von Salvador Espriu, der unter Kennern längst als bedeutendster katalanischer Autor des zwanzigsten Jahrhunderts kanonisiert ist, ohne je eine internationale Rezeption gehabt zu haben. Nun ist sein lyrisches Gesamtwerk in einer durch ihre betont nüchterne Ausstattung fast monumental erscheinenden zweisprachigen Ausgabe des Ammann-Verlags erschienen, mit formal und inhaltlich sehr kompetenten Übersetzungen von Fritz Vogelgsang, die manchmal allerdings zu weder vom Original noch von der Zielsprache auferlegten Freiheiten neigen. Hinzu kommen für den Leser - angesichts der Komplexität der Texte - gewiss notwendige Kommentare und mehrere einführende Essays.

Espriu wurde 1913 in eine wohlhabende Notarsfamilie geboren, die bald vom Schicksal mit einer Folge von Todes- und Krankheitsfällen heimgesucht wurde, darunter eine langwierige Brustfellentzündung des jungen Salvador. Er überlebte dank einer riskanten Operation, die ihn für immer mit einer geschwächten körperlichen Konstitution zurückließ. 1929 erschien Esprius erstes, vom Vater im Privatdruck finanziertes Buch, eine Sammlung von Erzählungen in kastilischer Sprache. Erst die intellektuelle Aufbruchstimmung der 1931 ausgerufenen Zweiten Spanischen Republik hat wohl sein Interesse an der katalanischen Sprache und sein Engagement für ihre Bewahrung geweckt. Er publizierte einen Roman, hatte Erfolg als Autor von Theaterstücken, studierte Altphilologie und Rechtswissenschaften in Barcelona, lernte eine Vielfalt lebender und toter Sprachen, gehörte trotz seines zurückgezogenen Lebens zu einer Elite junger Intellektueller in Spanien und in Katalonien - und hegte den Traum, Ägyptologe zu werden. Der Sieg des nationalistischen und strikt antikatalanischen Spaniens im Bürgerkrieg 1939 und der Tod des Vaters ein Jahr später machten solche Träume zunichte. Espriu musste für den Unterhalt seiner Familie sorgen, was ihm schriftstellerische und auch politische Zurückhaltung auferlegte. Dennoch erschienen zwischen 1946 und 1963 sieben Gedichtbände, die er als Zentrum seines Werks ansah.

Der Diktatur war Espriu als regimefeindlich bekannt: "Er wahrt ein anständiges Verhalten, genießt großes Ansehen unter katalanischen Elementen, und schon immer hat er sich als katalanischer Progressist bekundet, mit Angriffen auf die Regierung", hieß es in seiner Geheimakte. Sein Dichterkollege Josep Pla erinnert sich an einen Besuch bei Espriu: "Mich überraschte die absolute Stille, die in dieser Wohnung herrschte, und die absolute Geruchlosigkeit der Luft - zwei Dinge, die in den Wohnungen von Barcelona nicht eben üblich sind. Nach einem Weilchen erschien Salvador Espriu, weder hochgewachsen noch klein, bewunderungswürdig gekleidet, dunkelblau, perfekt gescheitelt, gut rasiert, korrekt. Er empfing uns sehr herzlich. Was mich erstaunte, war der Kiefer des Schriftstellers, etwas vorspringend, kontrastierend mit der Regelmäßigkeit seiner Gesichtszüge, der Lebhaftigkeit seiner Augen, wunderschöner Augen, und der ein bisschen schmalen Brust." 1985 starb Salvador Espriu nach einem Herzinfarkt, spät genug, um im postfrankistisch-demokratischen Spanien noch mit der üblichen Reihe von Ehrungen anerkannt und gefeiert worden zu sein.

Obwohl sich die Publikation seiner zentralen Gedichtbände (sie umfassen etwa die Hälfte des gesamten lyrischen Werks) über fast zwei Jahrzehnte erstreckte, entfalten sie ein ebenso komplexes wie kohärentes Universum wiederkehrender Bilder und philosophischer Probleme, auf deren vielfältige kulturhistorische Dimensionen Espriu mit knappen Eingangszitaten verweist. Berühmt geworden ist unter ihnen ein in deutscher Sprache wiedergegebener Satz von Meister Eckhart: "Soll das Herz vollkommene Bereitschaft haben, so muss es beruhen auf einem reinen Nichts - in diesem liegt zugleich das höchste Vermögen, das es geben kann." Esprius "Nichts" ist die präzise Nüchternheit, mit der er vor allem im ersten und im letzten jener sieben Bände die Dinge und die Stimmungen von Arenys de Mar registriert, einem Dorf, in dem er viele Monate seiner Kindheit und Jugend verbrachte und für das er den poetischen Namen "Sinera" erfand: "Namenlos, zeichenlos, / bei den Zypressen, unter / ein wenig Sandflugstaub, / den Regengüsse härteten. / O dass der Wind verwehe / die Asche weithin über / die Schiffe und die reinlichen / Furchen, das Licht Sineras. / Aprilhelle, so heimatlich, / die mit mir stirbt, wenn ich die / Jahre sehe, den Lauf: Reise / durch lang gedehnte Dämmerungen."

Hier sind bereits die wichtigsten Komponenten und Perspektiven von Esprius poetischer Welt versammelt: der Staub, die von den Elementen hart konturierten Formen der Erde, die kargen Pflanzen und das belebende Licht der ariden Mittelmeerlandschaft; dazu eine Konzentration auf die Dinge, welche, wäre dies möglich, Zeichen und Namen vermeiden möchte, die Gegenwart der Zukunft des eigenen Todes - und die Langsamkeit der Zeit der Natur.

Im zweiten und dritten Gedichtband rücken die Naturbilder in den Hintergrund, während Beschreibungen des Todes und von ihnen ausgelöste theologische Reflexionen ins Zentrum treten. Biographisch auf die späten dreißiger Jahre zurückgehend, beschreibt Espriu, der nie genug von sich preisgab, um den Unterschied zwischen seinem privaten Selbst und einem "lyrischen Ich" vorstellbar zu machen, den Tod eines Freundes als Unmöglichkeit, diesem Erlebnis eine Form zu geben - und die Unmöglichkeit der Form wird zur Verunmöglichung des Gebets: "wie du zunimmst an Schmerz, / dass es nicht mehr gelingt, / dich in Grenzen zu bringen, / wo Gebet noch, als solches, / gesprochen werden kann".

Espriu hat sich einmal einen "respektvollen Agnostiker" genannt, und eben in diesem Sinn kann die Suche nach einem Gott, die von Sehnsucht so sehr wie von Furcht getrieben scheint, nie bis zur Gewissheit gelangen. Dennoch bleibt ein Gott, den er "tot" in sich findet, der, wenn überhaupt, nur "die Sackgasse eines unnützen Werks" geschaffen haben kann, als "geheimes Feuer" lebendig: "ein Mensch nur, trug ich, als Grab, dich, / toter Vater, in meinem Inneren, lautlos. / Und ich rief dich an mit Worten aus Wind / vergangener Jahrtausende, die den Zorn entfachen. / Nie hast du Antwort gegeben auf die Klage und ließest mich / in nachtschwarzer Angst, geheimes Feuer du, hohe Flamme, / Gottbaum du in der Nacht."

Eine Spur vom Tod über die Ungewissheit des nicht antwortenden Gottes hin zu sich selbst legt und verfolgt Salvdor Espriu in "Der Wanderer und die Mauer", seiner vierten und wohl bedeutendsten Gedichtsammlung. Einer der großen Hispanisten unserer Gegenwart, Joan Ramon Resina, hat ihre drei Teile als existentialistische Reprise der drei Welten von Dantes "Göttlicher Komödie" dargestellt. Mit dem Verlust der Paradiese seiner Kindheit gewinnt "der Wanderer" im ersten Zyklus ein Bewusstsein des Todes. Im zweiten Zyklus, den "Liedern vom Rad der Zeit", gelingt es ihm nicht, Gott zu erreichen, so dass seine Sehnsucht nach Transzendenz auf die Hoffnung reduziert wird, von einem anderen Menschen erinnert zu werden.

Im dritten, von griechischer Mythologie inspirierten Zyklus ("Der Minotaurus und Theseus") vollzieht Espriu die Erfahrung, dass die "Mauer", jenes Andere des Todes und jener Andere, nämlich ein Gott jenseits des Todes, für ihn nie über sein eigenes Selbst hinaus wirklich werden können. Das Selbst ist "durchwandert" von der Mauer und mithin auch von jener Dimension, gegenüber der die Mauer ihn auf Distanz zu halten schien. Das letzte Stück des lyrischen Triptychons endet mit einem Gedicht unter dem Titel "Empfunden nach der Weise Salvador Esprius": "Der Wind, der Triumph und die Ruhe schwinden / zwischen hohen Flammen und Bogenschützen. / Gefangener meiner Toten, meines Names, / werd ich zur Mauer, ich, von mir durchwandert."

Während der Endphase der frankistischen Diktatur, in den sechziger und frühen siebziger Jahren, war Salvador Espriu unter den Lesern seines Landes endlich berühmt geworden mit seiner sechsten Gedichtsammlung, die unter dem Titel "Stierhaut" (einer gängigen, auf seine geographische Form Bezug nehmenden Metapher für Spanien) das von ihm entfaltete Gewebe von Bildern und Reflexionen näher an die damalige politische Realität brachte. In einigen jener Texte gehen die Frage und die Sehnsucht nach Gott tatsächlich über in die Hoffnung auf eine neue Würde und Autorität, die Spanien führen könnte: "Wach auf, wach auf und sag doch, welche Hand / aus solch uraltem Schlamm den Würdenstab / der neuen Weisungsvollmacht nehmen kann. / Weil kein Regen mehr fällt auf die verdorrten Felder, / weil wir gehen auf Wegen voll eisigen Entsetzens, / weil der Tod zu uns kommt und die Zeit uns entrinnt."

Im Rückblick unserer Gegenwart freilich ist es kaum mehr plausibel, jene vierundfünfzig Gedichte als primär "politische Lyrik" zu lesen. Eher fügen sie sich wie eine Variante von besonderer Tonalität in Salvador Esprius Werk ein und haben nichts von ihrer lyrisch-philosophischen Faszination verloren. Sie gehört zu einer der nicht stillzustellenden Faszinationen der Moderne, welche Energie aus der doppelten Unmöglichkeit bezieht, die Frage nach einer Welt jenseits der menschlichen Welt je zu vergessen und je eine Antwort auf diese Frage zu finden.

Aber ist das nicht eine Spanne der Reflexion, welche die westliche Philosophie seit Kierkegaard - und mit neuer Motivation: seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts - schon überreich besetzt hat? Was die Genauigkeit der Begriffe und Argumente in den philosophischen Traktaten am Ende nicht einholen kann, ist jene Freiheit der Assoziation, jener Ton der Wörter und jene Konkretheit der Dinge, welche Salvadors Esprius Verse als Kontext seiner Gedanken heraufbeschwören. Josep Pla ging so weit, zu glauben, "dass ihm Ideen weniger gefielen als die Dinge und die Menschen".

- Salvador Espriu: "Obra Poètica / Das

lyrische Werk." In drei Bänden. Katalanisch und deutsch. Hrsg. und übertragen von Fritz Vogelgsang. Ammann Verlag, Zürich 2007.

Zusammen ca. 1500 S., geb., 89,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2007

Lieder der Ariadne
Der große katalanische Lyriker Salvador Espriu
Wo immer Identität unter Menschen gestiftet, bestimmt, behauptet und zerstört wird, spielt Sprache eine Hauptrolle, selbst da, wo alles angeblich Natur – Blut, Erde, Rasse – sein soll. Gemeinschaften bilden sich, wenn, weil und indem sie sich von anderen Gemeinschaften unterscheiden. Eine universale Gemeinschaft wäre vermutlich keine bessere Gemeinschaft, sondern gar keine Gemeinschaft. Was aber, wenn eine Gemeinschaft eine andere nicht einfach sich gegenüber, sondern zugleich um sich und, in Form von Macht und gegebenenfalls Gewalt, über sich hat?
Dies ist der Fall der katalanischen Sprachgemeinschaft im Nationalstaat Spanien. In der Regierungszeit Francisco Francos, den Jahren 1936 bis 1975 also, war das Katalanische verbannt aus Schule, Universität und Tagespublizistik. Dieser Akt hatte seine Präzedenzen. Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg im Jahr 1714 war das Katalanische offiziell unterdrückt worden. Es verlor seinen Status als Landessprache. 1768 wurde es als Unterrichtssprache verboten. An den immer erneuten Wiederholungen dieser Verbote ist freilich abzulesen, dass sie weithin missachtet wurden. Das Regime Francos, von dem, nach Orwells Bemerkung, nicht feststeht, ob es besser als faschistisch oder als feudalistisch zu bezeichnen war, verfuhr härter, unnachgiebiger mit dem Katalanischen als die kastilischen Herren des 18. Jahrhunderts.
Überlebt hat das Katalanische in den Gesprächen, in den Häusern. Und „cada casa és un món”, sagt ein Sprichwort Kataloniens, „jedes Haus ist eine Welt”. Überlebt hat das Katalanische die Zeit seiner akutesten Gefährdung, der franquistischen, aber auch in der Dichtung; ja, diese Epoche bedrohter Sprache gehört vielleicht zu den bedeutendsten in der Geschichte ihrer Literatur. Und wenn dem so ist, dann nicht zuletzt dank Salvador Espriu (1913-1985).
Dass seine Sprache auf dem Spiel steht, weil sie die homogenisierende Macht des Staates störte, hat Espriu keinen Moment verkannt. Und der Staat, der ihn 1966 verhaften ließ, verkannte ebensowenig, dass dieser Dichter so dachte. Doch zum Bedauern nicht weniger seiner Landsleute war Espriu kein katalanischer Nationalist. „Wenn wir die kastilische Sprache ächten, begehen wir eine Menge von Fehlern und Dummheiten”, äußerte er, „wir verbannen damit eine Sprache: begehen also den gleichen Fehler, den wir so sehr kritisiert haben”. Gemeinschaften bilden sich, indem sie sich von anderen Gemeinschaften unterscheiden. Aber unterscheiden ist nicht dasselbe wie: die Vernichtung des Unterschiedenen wünschen.
Gegen den Sprachbann
Ob Salvador Esprius Werk besondere Intensität daraus zugewachsen ist, dass sein Autor es als Versuch der Rettung des Katalanischen mit poetischen Mitteln begriff? Seine lyrische Sprache scheint, und das vor allem macht sie groß, der Willkür zu entraten. Mit eigener Folgerichtigkeit schließt Bild an Bild. Sie hat das Zwingende nicht von Logik, sondern von Magie. Deren lyrische Konsequenz erschließt sich nur dem, der langsam liest und genau, der im Ohr behält, was er schon las, und voraushört, wohin die Gestalten des Gedichts sich bewegen: die Gestalten des (einzelnen) Gedichts und die Gestalten der Gedichte (in ihrer Folge). Espriu ist ein Zykliker. Dem einzelnen lyrischen Gebilde wird keine Selbstgenügsamkeit gestattet. Es weist über sich hinaus. Esprius Verse taugen nicht fürs Poesiealbum.
In „La pell de brau” (Die Stierhaut, 1960) hinterlässt ein Gedicht dem nächsten ein Motiv; dieses nimmt es auf, entfaltet es. „Motiv” ist auch ein Wort für Bestandteile musikalischer Themen, und dieser zweite Sinn wird Espriu gleichfalls gerecht. Seine Lyrik ist von eigenartiger Musikalität. „Kavatine – Allegro molto vivace” überschreibt er ein Gedicht aus den 1934 begonnenen, erst 1980 abgeschlossenen „Cançons d’Ariadna”. Aber die gedichtete Musik Esprius ist keineswegs nur die strömenden Gesangs, sondern ebenso die instrumentaler Härte: Er spielt auch Schlagzeug. Vielerlei Klang wird hier laut oder, je nachdem, leise: sanfter, zärtlicher wie schneidender, schriller.
Dieser lyrische Kosmos ist weit gespannt, reich auch an Formen. Espriu schrieb hintergründige Volkslieder, Meditationen, komische Balladen, Haikus. Die Haikus sind besonders aufschlussreich für Esprius Formbewusstsein. „Formes i paraules” heißt einer seiner Zyklen, Formen und Worte. Mit der Abweisung der Willkür, die an den Bildern sich bemerkbar macht, hängt die Formstrenge, die Espriu sich abverlangte, teils ersichtlich, teils untergründig zusammen.
In den Haikus von „Per al llibre de salms s’aquests vells cecs” (Für den Psalter dieser alten Blinden, 1961), gab sich der Dichter, nicht nur, gemäß der Tradition der Gattung, die Zahl der Silben je Zeile und je Gedicht vor. Er gab sich auch das Gesetz, im gesamten Zyklus kein Nomen, Adjektiv oder Verb zu wiederholen und jeden Vers auf einer unbetonten Silbe (früher sagten die Verslehrer: „weiblich”) enden zu lassen. Strenger geformt als die japanische Schule von Bashô verlangt, sind diese Gedichte keine exotistischen Stilübungen. Sie sind reich an Phantasie und Erfindung, inspirierte Gebilde. Espriu zählt zu den raren Künstlern, von denen Nietzsche gesagt hatte, sie vermöchten in Ketten zu tanzen. Er beherrschte die Kunst, sich das Leichte schwerzumachen, und das Schwere dann wieder leicht.
Rauch und Glitzerlicht
Wie jeder, der die Formen verehrt, hing dieser Dichter am Alten. Aber er war kein Nostalgiker. Wohliges Schwelgen im Gewesenen fehlt ganz in Esprius Lyrik. Was verloren ist – davon weiß das Gedächtnis („memòria”) –, ist verloren. Das wird knapp und präzis notiert. Vermag die deutsche Übersetzung diese Knappheit und Präzision des Katalanischen Esprius einzufangen?
An Fritz Vogelgsang mag man nicht herummäkeln. Seine Verdienste um die spanische Literatur in den deutschsprachigen Ländern sind unabschätzbar groß. Er hat viel übersetzt, er hat gut übersetzt – und er hat vieles in der spanischen Literatur für Leser des Deutschen überhaupt erst entdeckt. Espriu nun lag ihm besonders am Herzen. Und wes das Herz voll ist, des geht der Mund zuweilen über. Manchmal schwellen die kargen, nackten Wörter Esprius in Vogelgsangs deutscher Übertragung bedenklich an.
Die letzte Strophe von „Un nou ‚Cant dels Ocells‘‘‘ beginnt: „Esbat ordits de fum”. Vogelgsang übersetzt: „Verscheucht ist all das Rauchdickicht.” Das Statische von Dickicht scheint zum Dynamischen des Verscheuchtwerdens nicht recht zu passen. Abgesehen davon aber mag der Vers kein schlechtes Deutsch sein. Und doch macht er nicht recht glücklich. Weniger ist mehr, zwar nicht in der Architektur, in welcher der Slogan Verheerungen hinterließ, wohl aber in der Sprache. Rauch raucht stärker als Rauchdickicht, weil er der Phantasie von Rauch mehr Raum gibt.
Vogelgsang übersetzt „Rauchdickicht”wohl auch, weil er nicht zu wenig sagen will; weil er „Rauchdickicht” für poetischer hält als bloß „Rauch”. Vor allem aber, weil der nächste Vers – er bildet zum vorigen einen Paarreim – mit „llum” endet, was Vogelgsang mit „Glitzerlicht” wiedergibt. Ihm ist also zu „Rauch” kein passender Reim eingefallen; es wird sich ohne Krampf auch nicht leicht einer finden lassen. Ist also das „Rauchdickicht” nur einer der unvermeidlichen Kompromisse, die das Übersetzen, zumal von Lyrik, beschweren? Vielleicht. Vielleicht aber sind in dieser Ausgabe die Fälle, in denen schlankes Katalanisch zu etwas bauchigem Deutsch wird, zahlreicher als es der unaufhebbar kompromittierende Charakter des Dolmetschens erzwang.
Von manchem freilich, was zunächst wie verwunderlicher Eigensinn des Übersetzers aussieht, erweist sich bei näherem Hinsehen, dass es fremden Sinn erschließt. „Sieh, wie ich mich verbaume”, übersetzt Vogelgsang, einen Vers aus „Final del laberint” (Ende des Labyrinths) – kommt uns das letzte Wort hier spanisch vor? Nun, es ist spanisch, katalanisch: „mira com vaig arbrant-me”. Und natürlich ist es damit romanisch, römisch, einer Ovidischen Phantasie entsprungen.
„La mort”, in Nr. XIII aus La pell de brau, übersetzt Vogelgsang: „die Tödin”. Das klingt zunächst eher gesucht als gefunden. Aber dass, im Unterschied zum Deutschen, der Tod im Katalanischen (und, natürlich, wiederum im Lateinischen) weiblich ist, wird hier entscheidend; und knapper ausdrücken ließe es sich nicht. Mäkeln ist leicht, Mäkeln an Übersetzungen ist leichter als leicht: aber bei Vogelgsang überwiegt bei weitem das Gelungene. Dass Espriu eine Leserschaft deutscher Sprache gewinnt, wird vorzüglich das Verdienst dieser Ausgabe sein.ANDREAS DORSCHEL
SALVADOR ESPRIU: Obra poètica. Das lyrische Werk. Katalanisch und deutsch. Übertragen von Fritz Vogelgsang. Drei Bände in Schuber. Ammann Verlag, Zürich 2007. Zus. 1430 Seiten, 89,90 Euro.
Der katalanische Lyriker Salvador Espriu (1913-1985) Foto: Colita/CORBIS
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Andreas Dorschel fasst Salvador Esprius lyrisches Werk als Rettungsversuch der katalanischen Sprache auf, die unter Franco stark unterdrückt wurde, aber der Rezensent stellt klar, dass der katalanische Dichter damit keineswegs nationalistisch bewegt war. Die Gedichte erfordern aufmerksames Lesen und wollen nicht nur innerhalb eines Gedichts, sondern innerhalb der Zyklen im Zusammenhang rezipiert werden betont Dorschel, der von der überzeugenden Konsequenz der Verse fasziniert ist. Der Rezensent preist die Vielfalt der Klangfarben und Formen, die Espriu für sich in Anspruch nimmt, wobei Dorschel betont, dass die jeweilige Formstrenge keinesfalls den Fantasiereichtum des Lyrikers eindämmt. Wenn Dorschel auf die Übersetzung von Fritz Vogelgsang zu sprechen kommt, macht er zunächst unmissverständlich klar, welche überragenden Verdienste der Übersetzer um die katalanische und die spanische Literatur erworben hat. So ungern er deshalb meckern will, scheint ihm dann aber manches an Vogelgsangs Übertragungen ins Deutsche gegenüber dem knappen katalanischen Original ein wenig zu weitschweifig. Trotzdem preist er die Übersetzung insgesamt als gelungen und er dankt es vornehmlich Vogelsang, dass nun das Werk dieses beeindruckenden Dichters auch für ein deutschsprachiges Publikum greifbar ist.

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