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"Unsere Städte und unsere Wohnungen sind Produkte der Phantasie wie der Phantasielosigkeit, der Großzügigkeit wie des engen Eigensinns. Da sie aus harter Materie bestehen, wirken sie auch wie Prägestöcke; wir müssen uns ihnen anpassen. Und das ändert zum Teil unser Verhalten, unser Wesen. Es geht um einen im Wortsinn fatalen, einen schicksalsbildenden Zirkel: Menschen schaffen sich in den Städten einen Lebensraum, aber auch ein Ausdrucksfeld mit Tausenden von Facetten, doch rückläufig schafft diese Stadtgestalt am sozialen Charakter der Bewohner mit", schreibt Alexander Mitscherlich in seinem…mehr

Produktbeschreibung
"Unsere Städte und unsere Wohnungen sind Produkte der Phantasie wie der Phantasielosigkeit, der Großzügigkeit wie des engen Eigensinns. Da sie aus harter Materie bestehen, wirken sie auch wie Prägestöcke; wir müssen uns ihnen anpassen. Und das ändert zum Teil unser Verhalten, unser Wesen. Es geht um einen im Wortsinn fatalen, einen schicksalsbildenden Zirkel: Menschen schaffen sich in den Städten einen Lebensraum, aber auch ein Ausdrucksfeld mit Tausenden von Facetten, doch rückläufig schafft diese Stadtgestalt am sozialen Charakter der Bewohner mit", schreibt Alexander Mitscherlich in seinem Buch Die Unwirtlichkeit unserer Städte, das 1965 rasch zu einem Klassiker in der Bundesrepublik der Neubauten wird, mit zahlreichen Auflagen und über 200000 verkauften Exemplaren.

Was drücken die Neubauten in den westdeutschen Städten aus? Worin beeinflussen sie ihre Bewohner, im Guten wie im Schlechten? Worin liegt die "Herzlosigkeit", das heißt die Unwirtlichkeit beim Wiederaufbau der zerstörten alten Städte in Deutschland? Welche politischen Konsequenzen müßte man daraus für die Zukunft ziehen - die Neuordnung der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in unseren Städten? Auf diese Fragen gab Alexander Mitscherlichs Essay vor vierzig Jahren Antworten, die Städtebauer beschäftigt, Architekten angeleitet, Studenten auf die Straße getrieben haben. Es sind Fragen und Antworten, die heute die Vorgeschichte unserer Gegenwart verständlich machen.Der Architekt Nikolaus Hirsch, der in Frankfurt und London arbeitet und lehrt, stellt in seinem Nachwort die Wirkung von Alexander Mitscherlichs bahnbrechender Schrift dar.
Autorenporträt
Alexander Mitscherlich, geboren am 20. September 1908 in München, gehört zu den großen kritischen Gelehrten der Bundesrepublik Deutschland. Von 1960 bis 1976 leitete der Mediziner und Psychoanalytiker das von ihm gegründete Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Seine Bücher Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1963), Krankheit als Konflikt (1966) und Die Unfähigkeit zu trauern (zusammen mit Margarete Mitscherlich-Nielsen, 1967) lösten tiefgreifende Diskussionen aus. 1969 erhielt Alexander Mitscherlich den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Alexander Mitscherlich starb am 26. Juni 1982 in Frankfurt am Main. Im Suhrkamp Verlag erschienen seine Gesammelten Schriften.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2009

Die Mörder sind unter uns

Es gibt in Deutschland zwei Bücher über die moderne Stadt nach 1945, die als "Klassiker" gelten - Alexander Mitscherlichs "Unwirtlichkeit unserer Städte" und Wolf Jobst Siedlers "Gemordete Stadt", die beide Mitte der sechziger Jahre erschienen. Das Gute an Mitscherlichs Buch ist schnell aufgezählt: Er kämpft gegen die "funktionelle Entmischung" der Stadt, ihren autogerechten Umbau, ihre "Herzlosigkeit" und vor allem gegen die Spekulation mit städtischen Bodenpreisen, gegen den Zweckrationalismus seelenloser Betonburgen, der Vereinsamung, Alkoholismus und "Ausbruchssehnsüchte" zur Folge hätte (die es in den feuchten Hinterhöfen Berlins auch schon gab). Alles richtig - das Problem an Mitscherlichs Buch ist nur das, was seine Anhänger daraus machten: eine Kampfansage an die moderne Architektur an sich. Schon klar: Die Frage, ob man lieber in einem Altbau mit Stuck und Putten lebt oder in einem Sozialbau ohne Balkons an einer zwölfspurigen Ausfallstraße, ist leicht zu beantworten - ebenso wie die Frage, ob man lieber reich und gesund oder arm und krank sein möchte. Aber: Hat Le Corbusiers "Unité"-Hochhaus in Marseille, mit seiner Ladenstraße und seinem großartigen Dachgarten, kein "Herz"? Und ist die neue Friedrichstraße, in der es Läden, Büros, aber keine bezahlbaren Wohnungen gibt, so viel "wirtlicher" als die moderne Maxburg, die Sep Ruf 1954 in München baute?

Solche Differenzierungen waren nicht die Sache gefeierter Polemiker wie Wolf Jobst Siedler. Dessen Buch heißt "Die gemordete Stadt". "Der Wiederaufbau Berlins", schreibt Siedler später, "ging mir contre coeur, Missvergnügen bestimmte jede Fahrt durch die neuen Quartiere, das berühmte Hansa-Viertel mit seinen Punkthäusern . . . Mir waren alle diese Entwürfe widerstädtisch". "Widerstädtisch" ist für Siedler vor allem Le Corbusier; er nennt den modernen Architekten einen "Bruder des Luftmarschalls Harris". Berlin, "gemordet": Von wem? Den Engländern? Den modernen Architekten?

Die "gemordete Stadt": So hätte ein Buch über die NS-Pogrome und Deportationen heißen können, die ein bestimmtes Berlin ganz unmetaphorisch mordeten, aber darum ging es hier nicht vorrangig. Später verlegte Siedler dann Bücher von und über Albert Speer ("Ich war in erster Linie als Verleger an Speer interessiert. Mir war klar: Das ist ein großer Stoff, das ist ein interessanter Mann"). Es waren Bücher, die etwa Wolfgang Benz vom Zentrum für Antisemitismusforschung als Rehabilitation Speers kritisierte. "Die gemordete Stadt" hätte ein Buch heißen können, das leistet, was Breloer in seinem Speer-Film schaffte - zu zeigen, dass der Holocaust, der Mord am weltoffenen Berlin, am liberalen Deutschland, auch aus dem Herzen des Bildungsbürgertums kam; zu zeigen, dass die Vernichtung der Juden nicht nur von entfesselten Kleinbürgern, sondern auch von "hochgebildeten" Menschen wie Speer geplant und mitgetragen wurde. Es hätte ein Buch über ein deutsches Phänomen werden können: Über ein Bürgertum, für das eleganter Auftritt, humanistische Bildung und entschlossenste Unmenschlichkeit kein Widerspruch war. Stattdessen wurde nur eine Klage daraus, dass man Betontürme baute, wo einmal Villen standen. Schade eigentlich.

NIKLAS MAAK

Alexander Mitscherlich: "Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden". Suhrkamp, 9 Euro

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dieter Bartetzko feiert die Neuausgabe von Alexander Mitscherlichs "Die Unwirtlichkeit der Städte": Der Klassiker der Stadtsoziologie ist nach wie vor aktuell, das bestätigte sich für den Rezensenten durch Statements aus jüngster Zeit zu den Aufgaben heutiger Architektur. Aktuell sind Mitscherlichs Forderungen an den Städtebau, der die Identität eines Ortes markieren soll, um den Bürger nicht zu entmündigen, also noch - nur leider zum architektonischen Gemeinplatz verkommen. Da kann Bartetzko dem kritischen Vorwort nur zustimmen. Die warnenden Vorhersagen Mitscherlichs, in den Stadtwüsten verkomme der mündige Bürger zum "augenblicksbezogenen Triebwesen" sieht der FAZ-Rezensent indes erfüllt.

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