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Literatur weiß etwas - und zwar nicht nur mehr oder weniger Diffuses, sondern durchaus Konkretes, zum Beispiel über Krankheiten, über ökonomische Zusammenhänge oder über Logiken der Rechtsfindung. Gerade in einer Kultur, die sich selbst als Wissens- und Informationsgesellschaft beschreibt, wird deutlich, wie heikel es um die Unterscheidung von "hartem" (=naturwissenschaftlich-technischem) und "weichem" (=geisteswissenschaftlich-literaturbasiertem) Wissen steht. Schöne Literatur hat einen binären Leitcode, der sich entschieden von dem der Wissenschaften abgrenzt. Er lautet nicht wahr / falsch,…mehr

Produktbeschreibung
Literatur weiß etwas - und zwar nicht nur mehr oder weniger Diffuses, sondern durchaus Konkretes, zum Beispiel über Krankheiten, über ökonomische Zusammenhänge oder über Logiken der Rechtsfindung. Gerade in einer Kultur, die sich selbst als Wissens- und Informationsgesellschaft beschreibt, wird deutlich, wie heikel es um die Unterscheidung von "hartem" (=naturwissenschaftlich-technischem) und "weichem" (=geisteswissenschaftlich-literaturbasiertem) Wissen steht. Schöne Literatur hat einen binären Leitcode, der sich entschieden von dem der Wissenschaften abgrenzt. Er lautet nicht wahr / falsch, sondern stimmig / nicht-stimmig. Soll heißen: gerade weil die epistemische Grundorientierung von Literatur eine andere ist als die der Wissenschaften, kann Literatur erfolgreich ein Spiel spielen, das da heißt: Ich seh etwas, was du nicht siehst.
Autorenporträt
Jochen Hörisch, geb. 1951 in Bad Oldesloe, lehrt Literatur- und Medienwissenschaften an der Universität Mannheim.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2008

Abgrund des Bekanntlichen
Jochen Hörischs Sammelband segelt unter falscher Flagge
Das Wissen der Literatur: Wenn ein Buch so heißt, wird man zunächst einmal neugierig. Literatur, sagt Jochen Hörisch, wisse sehr viel, auch sehr Konkretes, und man solle sich daran nicht von ihrer prinzipiellen Fiktionalität irre machen lassen, die dem binären Leitcode stimmig / nicht-stimmig gehorche und eben nicht dem anderen wahr / falsch. Man versteht nicht auf Anhieb, was damit gemeint sein soll, denn dass Literatur, und namentlich der Roman seit dem 18. Jahrhundert ohne einen großen Berg an zeitgenössischen Realien gar nicht existieren könnte, versteht sich ja von selbst. Worauf will Hörisch hinaus?
Wie sich leider rasch zeigt: auf viel weniger, als er uns in Aussicht stellt. Keineswegs beleuchtet er (worauf man doch sehr gehofft hatte) Altbekanntes im Licht einer verblüffend neuen These, sondern es handelt sich um einen Sammelband aus 18 Aufsätzen der letzten Jahre, die sich in ihrer Diversität nur schwer unter einen Hut bringen lassen und den verlockenden Titel als falsche Flagge hissen: In Wahrheit liefert er bloß den kleinsten gemeinsamen Nenner – einen sehr kleinen Nenner, wie man sagen muss.
Achtmal Abgrund
Darüber könnte man, als eine editorische Kriegslist, möglicherweise hinwegsehen, wenn die Zentrifugalkräfte sich nicht ins Innere der einzelnen Aufsätze fortsetzen würden. Der Horizont von Hörischs Kenntnissen reicht außerordentlich weit, aber er verwertet sie nicht mit der nötigen Umsicht. Was zum Beispiel ist paradox? „Paradox ist es, wenn etwa, um nur einige Beispiele zu nennen, ein unsterblich-allmächtiger Gott nicht kann, was Sterbliche vermögen: eben zu sterben; wenn Theokraten im Namen Gottes eine ersichtlich satanische Politik betreiben; wenn Konservative die Welt revolutionieren; (...) wenn die ästhetische Avantgarde langweiliger wird als klassische Kunst oder wenn Büchners Lenz das entsetzliche Schreien hört, das man gewöhnlich die Stille nennt.”
Hier muss man sich erst mal mit einem tiefen Seufzer an das machen, was Hörisch unterlassen hat, nämlich ans Sortieren. Einen brauchbaren Beleg bietet nur der todesunfähige allmächtige Gott, während die Widersprüchlichkeit in den anderen Fällen sich nicht in den Begriff des Paradoxen fassen lässt; aber es geht dem Autor eben noch so manches durch den Kopf: dass er die iranischen Mullahs nicht leiden mag, George W. Bush aber auch nicht, und dass die Gegenwarts-Kunst in der Krise steckt. Er kann da nicht so ohne weiteres einfach aufhören.
Zum Schluss muss er, in demselben Satz, auch noch das Fass Büchner aufmachen, das er bei dieser Gelegenheit besser zugelassen und für später verspart hätte. „Nicht nur für Hölderlin gilt: was bleibet aber stiften die Dichter. Goethe war wohl auch in dieser poetologischen Hinsicht eher von heiliger Nüchternheit ergriffen als Hölderlin. Texte erscheinen schwarz auf weiß: Schatten auf lichtem Grund. Texte sind der Abgrund von Gründen. In den Texten der schönen Literatur gehen Gründe zugrunde, finden Gründe ihren Abgrund.” Was, um Himmelswillen, soll das bedeuten? Das fragt man sich indes nur so lang, bis man verstanden hat, dass Hörisch immer dann auf das probate Gegenmittel des Abgrunds zurückgreift, wenn es allzu seicht zu werden droht; er bringt es auf bis zu achtmal „Abgrund” und „abgründig” auf einer einzigen Seite. Und es lässt ihn grübeln, dass der Mädchenname der Mutter Goethes, dieses ausgewiesenen Text-Produzenten, ausgerechnet „Textor” lauten muss. Und wenn die Ehefrau von Stopfkuchen in Raabes gleichnamigem Roman über ihren Gatten, Vorname Heinrich, mitteilt: „er erzählt greulich”, dann schließt Hörisch, der keiner Assoziation einen Korb geben mag, sogleich an: „Heinrich, mir graut vor dir”. So geht das, per Rösselsprung, über Stock und Stein, immer weiter; irgendwann ist der Leser, der nicht zu sehen kriegt, wo das hinführen soll, einfach k.o. und sagt sich: es langt.
Dies der Hauptbefund. Da fallen die Nebenbefunde der eigentlichen Falschmeldungen gar nicht mehr so ins Gewicht; Hörisch fehlt es nicht an Selbstvertrauen, ihnen auch noch ein „bekanntlich” vorauszuschicken. „Gesetze wie das BGB oder das Strafgesetzbuch regeln bekanntlich, was rechtlich zulässig ist und was nicht.” Wenn die hier vorgenommene Aufteilung des Rechts in Straf- und Zivilrecht überhaupt einen Sinn haben soll, müsste man sagen: dies regelt nur das Strafrecht, während die Leitidee des Zivilrechts nicht in der Zulässigkeit, sondern in der Wahrung des Friedens unter den Bürgern besteht. „Bekanntlich basiert der alteuropäische Lettern-Handel auf plus/minus 25 Buchstaben.” Eher plus! möchte man dazwi-schenrufen, in dem Urvertrauen, das man der Form des Buchs als solchem entgegenbringt, nun doch nachhaltig erschüttert; man erwartet als nächstes zu finden, dass der rechte Winkel bekanntlich hundert Grad und der Mensch an jeder Hand bekanntlich sechs Finger habe. Und wenigstens erwähnt werden sollten die vielen Fehler in Hörischs zahlreichen lateinischen Zitaten und Floskeln; keine Druckfehler sind es, sondern solche, die ihm, wenn er dieser Sprache auch nur halb so nahe stünde, wie er anzudeuten beliebt, nicht unterlaufen wären.
Wo bleibt der Freund?
Was Jochen Hörisch not täte, ist ein ernster Freund. Denn er weiß viel und kann auch viel, wie sich bei seiner sensiblen und intelligenten Analyse von Wilhelm Müllers Gedichten und Schuberts Musik zeigt. Aber er besitzt keine Widerstandskraft gegen den eigenen plaudernden Charme, der sich mündlich weit besser macht als in geschriebener Form – wie jeder bestätigen kann, der schon mal bei einer Podiumsdiskussion erlebt hat, wie Hörisch das Publikum unterhält und den Moderator zur Verzweiflung treibt. Ein Freund müsste es sein, der nicht mitlacht, wenn Hörisch mal wieder den Fiesco als Tatort-Krimi, den Don Carlos als Politthriller anpreist, und der ihn, wenn er zu einer seiner assoziativen Pirouetten ansetzt, sanft, doch nachdrücklich fragt, was er uns denn eigentlich sagen wollte. BURKHARD MÜLLER
JOCHEN HÖRISCH: Das Wissen der Literatur. Wilhelm Fink Verlag, München 2007, 236 Seiten, 22,90 Euro
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2007

Leser wissen einfach mehr

Die Dichter lügen - das kennt man seit Platon. Jochen Hörisch zeigt, dass die Literatur damit einen Standortvorteil hat und was sie der Wissenschaft voraushat.

Literaturwissenschaft gerät bisweilen zur Legitimationswissenschaft. Stets ist sie bemüht, die Relevanz ihres Gegenstands für die Gesellschaft, die sie aushält, nachzuweisen. Im konstruierten Wettstreit um Aufmerksamkeit, den sie zurzeit mit den Naturwissenschaften austrägt, meint sie zeigen zu müssen, dass sie ein signifikantes Element der sogenannten Wissensgesellschaft sei. Das funktioniert nur, indem sie ihr die Literatur als eine Art Gigaspeicher von Wissen verkauft, als Archiv epochaler Erkenntnisse und Erfahrungen, als Garant des kollektiven Gedächtnisses. So zutreffend diese Funktionszuweisungen sind, so passiv ist die Rolle, in die die Literatur damit gedrängt wird.

Dabei bringt die wissensorientierte Lektüre von Büchern nicht nur für Enzyklopädisten Gewinn, sondern auch für ratsuchende Lebenskünstler, meint Jochen Hörisch und verweist auf das ungeheure Welt- und Handlungswissen in den Gedichten, Romanen, Dramen und Liedern, mit denen er sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten beschäftigt hat. Extra für das Jahr der Geisteswissenschaften hat er seine kleineren und größeren Publikationen, die daraus entstanden sind, zu einem Buch binden lassen und zum vereinigten "Plädoyer für eine problem- und themenzentrierte Literaturwissenschaft" erklärt.

Das "Wissen der Literatur", das Hörisch bei seinen Streifzügen von Herder bis zu den Beatles erkannt hat, bringt er auf die einprägsame Formel: "Ich sehe was, was du nicht siehst." Die alte Dame Literatur wandelt sich bei ihm zur Übermutter des gesunden Menschenverstandes, die gerade deshalb besonders clever zu sein scheint, weil sie "zumindest" weiß, "wie heikel es um die Vorstellung verlässlichen Wissens steht". Bei Wilhelm Raabe etwa lernt man mit Hörisch, "dass es keine letzten Gründe, sondern allenfalls Abgründe gibt"; Goethe "weiß, wie wichtig es ist, auch angesichts von Leid und Leidenschaft nicht zu verstummen", und speziell bei Tasso erfährt man, dass erst Dissens Kommunikation ermöglicht; dass auch Ruhe eine Botschaft transportiert und Gut und Böse miteinander identisch sein können - das wiederum wird in der lyrischen Komposition eines Johann Georg Jacobi ansichtig gemacht. Bei solchen Paradoxien hält sich der Mannheimer Germanist und Medienwissenschaftler gerne auf, denn hier vermutet er den Vorsprung literarischer Beobachtung vor rationaler Analyse. Da ist er ganz Anhänger der Romantik und ihrer Vorliebe für "Widerspruchsstrukturen". Einer solchen verdankt sich überhaupt das zentrale Argument seines Themas: Literatur könne letztlich nur deshalb "lebenskunsttauglich" sein, weil sie anderen Prinzipien folge als die Wissenschaften. Hörisch kann sich dabei sowohl auf Schillers Modell einer ästhetischen Erziehung berufen als auch auf Luhmanns Systemtheorie, mit deren durchautomatisiertem Bürokratenvokabular er den ästhetischen "Leitcode stimmig/unstimmig" gegenüber dem wissenschaftlichen "wahr/falsch" abgrenzt.

Ganz egal, ob man Religionskonflikte entschärfen, Krankheiten als Epochenphänomene begreifen oder so unübersichtliche Konzepte wie Liebe, Zeit und Fremdheit vorübergehend in den Griff bekommen will - Belletristik-Leser wissen mehr, vor allem, wenn sie sich von Hörisch entsprechend sensibilisieren lassen. Dem steht insofern nichts im Wege, als die einzelnen Analysen anregend sind und den einschlägigen Erkenntnisgewinn gerade aus der poetischen Leistung der behandelten Texte schöpfen. Zunehmend lästig hingegen werden dem Leser die zahlreichen Wiederholungen, die sich aus dem Sammelbandcharakter des Buchs ergeben. Das betrifft vor allem Formulierungen, die auf Originalität abzielen, sich dann aber bei der Durchsicht der Vorträge, Festschriftbeiträge, Zeitungsessays und Kurzinterpretationen als serielle Wiedergänger entpuppen. Vermutlich steckt ein didaktisches Prinzip dahinter. Dass die Dichter seit Platon über eine "Lizenz zur Lüge" verfügen, hat man am Ende jedenfalls begriffen. Gerade in diesem Diktum, mit dem Hörisch die traditionelle Fiktionskritik in einen Standortvorteil ummünzt, wird aber auch deutlich, dass die Stärke der Literatur eben in der Irritation festgefügter Wissensordnungen liegt. Im Jahr der Geisteswissenschaften sollte dem mehr Beachtung geschenkt werden als dem allmählich bis zur Unkenntlichkeit aufgeblähten Wissensbegriff.

ROMAN LUCKSCHEITER

Jochen Hörisch: "Das Wissen der Literatur". Wilhelm Fink Verlag, München 2007. 236 S., br., 22,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

"Anregend" und "luzide" findet Rezensent Oliver Pfohlmann die Aufsätze und Vorträge des Mannheimer Literaturwissenschaftlers Jochen Hörisch. Hier geht es nämlich um Literatur als unterschätzten und verborgenen Wissensspeicher, der für andere gesellschaftliche Systeme nutzbar gemacht werden kann. Hörisch leitet seine Theorie des "dissidenten" Wissens von Luhmann her, lesen wir. Die Dichtung bewege sich daher nicht in den binären wissenschaftlichen Codes "richtig/falsch" sondern in den ihr eigenen ästhetischen Codes "stimmig/nicht-stimmig". Von der Verpflichtung entbunden, nachprüfbare und notwendigerweise begrenzte Fakten zu schaffen, produziert Literatur so eine "alternative Realitätsversion", in der sie über einfach alles spricht, referiert Pfohlmann Hörischs Thesen. An Beispielen aus dem klassischen Kanon macht Hörisch deutlich, wie sich dieses Wissen problemorientiert anwenden lässt, ohne die Literatur dabei auf ihren Nutzwert zu reduzieren, schreibt der inspirierte Rezensent.

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