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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nach Thomas von Steinaecker wurde der "Boy-meets-Girl"-Geschichte im zeitgenössischen Comic kaum noch eine neue Facette beigefügt, weshalb er der Comicerzählung der israelischen Illustratorin Rutu Modan schon mal Bewunderung entgegen bringt. Im Zentrum der in Israel spielenden Geschichte stehen der Taxifahrer Kobi und die Soldatin Numi, die sich in der gemeinsamen Suche nach ihrem Geliebten, seinem Vater, der bei einem palästinensischen Bombenanschlag ums Leben gekommen sein soll, zögernd näher kommen, fasst der Rezensent zusammen. Nicht nur vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts, der eher subtil einfließe, gewinnt die Liebesgeschichte ihre Besonderheit. Modan verbindet darin zudem versiert Krimi und Dokumentation und streicht in ihren "minimalistischen" Zeichnungen vor allem den "pragmatischen Zynismus" heraus, der den Umgang der Menschen mit der alltäglichen Bedrohung auszeichnet, lobt Steinaecker eingenommen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2008

Oasen im bedrohten Alltag
Ein Junge trifft ein Mädchen: Rutu Modan erzählt eine Geschichte aus Israel
Trifft ein Junge ein Mädchen. In den Künsten hat diese Ausgangssituation zwar eine lange Tradition; in letzter Zeit wurden ihr aber kaum noch neue Aspekte abgewonnen – vor allem im Comic. Das liegt nicht zuletzt am aktuellen Boom der autobiographisch geprägten Werke von Autoren um die dreißig, wo nicht selten ein scheuer Nerd auf sein weibliches Pendant trifft. In den typischen öffentlichen Räumen einer Großstadt kommt man sich näher. Kurzes Glück, schmerzvolle Trennung, offenes Ende. Das alles im lakonischen Ton und in nüchtern klaren Zeichnungen erzählt.
Im Unterschied zu seiner Verwendung in belletristischen Texten gehen diesem Schema im Comic selbst die letzten Zwischentöne leicht verloren: Geradezu zwangsläufig, da medienbedingt, wird hier in stets ähnlichen kurzen Szenen und Gesten das Psychologische aufs Ikonische reduziert. Aus dem autobiographisch-individuellen Ausdruck ist Uniformität geworden. Auch die knapp vierzigjährige Kinderbuchillustratorin und Comicautorin Rutu Modan erzählt in ihrer ersten Graphic Novel eine Boy-meets-Girl-Geschichte, die nach bekannten Mustern funktioniert – und bei der doch alles anders ist. Denn „Blutspuren” spielt in Israel.
Der mürrische Außenseiter heißt hier Kobi und arbeitet als Taxifahrer in Tel Aviv. Nach dem frühen Tod der Mutter ist er bei seinem Onkel und seiner Tante aufgewachsen; mit dem Vater, Gabriel, hat er sich heillos zerstritten und schon seit Jahren keinen Kontakt mehr. Das Mädchen, auf das er trifft, wird nicht zu Unrecht „Giraffe” genannt: Die Soldatin Numi ist groß gewachsen und burschikos. Aus heiterem Himmel berichtet sie Kobi von einem palästinensischen Selbstmordanschlag auf eine Bushaltestelle in Hadera. Eine Leiche konnte nicht identifiziert werden, die sie nun für die Gabriels hält. Der hat sich bei ihr, seiner Geliebten, seit dem Attentat nicht mehr gemeldet; außerdem hat sie auf den TV-Bildern seinen Schal wiedererkannt.
Um Gewissheit zu erlangen, müsste sich der Sohn, der nicht weiß, über welche der Neuigkeiten er mehr staunen soll, einem DNA-Vergleich unterziehen. Als sich herausstellt, dass die Leiche bereits beigesetzt wurde, machen sich die beiden, die zunächst wenig voneinander begeistert sind, auf die Suche nach dem Verbleib Gabriels.
Pragmatischer Zynismus
Die Menschen, auf die sie im Krankenhaus oder am Ort des Anschlags stoßen, prägt eine Art pragmatischer Zynismus. Dass ja wenigstens an Leichen im Land kein Mangel herrsche, meint die Krankenschwester lächelnd. Und für die Stadtverwaltung bedeutet der Anschlag Glück im Unglück, weil sie ohnehin schon lange die nun zerstörten alten Gebäude durch eine Shoppingmall ersetzen wollte. Bald jedoch treten diese Geschichten der Überlebenden und die überraschenden Einzelheiten aus der Vergangenheit von Kobis Vater in den Hintergrund. Denn über den gemeinsamen Recherchen entwickelt sich zwischen dem Sohn und der Geliebten Gabriels eine zaghafte Zuneigung.
Geschickt verbindet Modan kriminalistische und dokumentarische Elemente: Ein mit Fahnen und Kränzen geschmücktes Coca-Cola-Regal dient als improvisierte Gedenkstätte für die Opfer des Anschlags. Doch wäre es verfehlt, in „Blutspuren” das israelische Pendant zu Joe Saccos grandioser Comic-Reportage „Palestine” zu sehen, wo der Autor mit außergewöhnlicher Präzision und Eindringlichkeit das Leben im Gaza-Streifen schilderte. Im Mittelpunkt der Graphic Novel stehen letztlich Versatzstücke der bekannten Boy-meets-Girls-Geschichte; der Palästinakonflikt wird nie direkt thematisiert, sondern teilt sich sehr subtil als Stimmung aus Trauer und Angst in den leisen Tönen der privaten Tragödie mit.
So passen Modans minimalistischer Stil und die genau gesetzten Sprechblasen perfekt zur angeschlagenen Psyche der Figuren. Wie alle in ihrer Umgebung sind auch sie darum bemüht, Ruhe zu bewahren und ihre Gefühle zu unterdrücken. Wenn sich die beiden schließlich doch näher kommen und miteinander schlafen, verdeutlicht das zweigeteilte Panel des sich küssenden Paars, dass dieses Glück nicht ungebrochen ist. Es unterstreicht das große Können Modans, dass sie jene Szenen der Liebe, die andernorts abgedroschen wirken würden, hier als Oasen in einem latent bedrohlichen Alltag sichtbar werden lässt, in einem Alltag, in dem Dialoge wie der folgende keine Ausnahme bilden: „Erinnerst du dich an den Anschlag in Hadera vor drei Wochen?” – „Hadera? Du meinst Haifa?” – „Nein, nicht der im Restaurant. Der in der Cafeteria am Busbahnhof.” THOMAS VON STEINAECKER
RUTU MODAN: Blutspuren. Edition Moderne, Zürich 2008. 168 Seiten, 28 Euro.
Auf der Suche nach dem verschwundenen Vater: Kobi und die Giraffe auf dem Teil eines Friedhofes, der für Nicht-Juden reserviert ist. Hier werden auch die anonymen Toten bestattet. Abb.: aus dem bespr. Band
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2008

Trümmer eines israelischen Lebens
Rutu Modan erzählt in ihrem Comic "Blutspuren" aus den Jahren der Attentate

Am Busbahnhof der israelischen Stadt Hadera, auf halbem Wege zwischen Tel Aviv und Haifa gelegen, besucht ein junges Paar die Cafeteria. Im Coca-Cola-Regal vor dem Eingang stehen Kerzen und Porträtfotos, Kränze liegen auf dem Boden, Blumen kleben an der Wand, und israelische Fahnen umrahmen das Ganze. Vor einigen Wochen ist hier im Lokal eine Bombe hochgegangen, die fünf Menschen das Leben gekostet hat: vier Gäste und Jossi, den Betreiber der Cafeteria. Nun sind die Räume wieder notdürftig gereinigt, das Gedenken wurde vor die Tür verbannt, und Jossis Frau führt, noch mit bandagierter rechter Hand, die Geschäfte fort - immer nahe an den Tränen, wenn ihr die Erinnerung an den Toten kommt oder ein Kunde sich beklagt: "Bei Jossi ging der Tee immer aufs Haus."

Drei Seiten lang nur führt uns die israelische Zeichnerin Rutu Modan in die Cafeteria im Busbahnhof von Hadera. Doch damit ist das geheime Zentrum ihres Comics "Blutspuren" erreicht. Ein Bild zieht Rutu Modan extrem in die Höhe, bis die Deckenkonstruktion des Lokals sichtbar wird: ein wildes Gewirr aus Trägern, Kabeln und Latten. Unten, im Blickfeld der Kunden, ist jede Spur des Anschlags beseitigt, oben sind die Wunden noch so offen wie im Herzen von Jossis Frau. Das sind die Blutspuren, nach denen der Comic benannt ist - ein glücklich gewählter Titel, auch gegenüber dem von Modan selbst für die englische Ausgabe bestimmten: "Exit Wounds" (Austrittswunden) oder der italienischen Übersetzung namens "Sconosciuto" (Unbekannt). 2006 erschien der englisch verfasste Band zuerst in Italien, ehe er im Jahr darauf in den Vereinigten Staaten Furore machte und dann in Spanien, Frankreich und nun endlich auch auf Deutsch (Edition Moderne) herauskam - immerhin noch vor einer israelischen Ausgabe.

Der deutsche Titel macht auch die Frage der Abstammung zum Thema, die in Rutu Modans Comic eine zentrale Rolle spielt. Von den fünf Opfern von Hadera ist eines unidentifiziert geblieben. Drei Wochen nach dem Anschlag wird der Taxifahrer Kobi Franco zu einer jungen Frau namens Numi gerufen, die sich als Geliebte seines Vaters zu erkennen gibt. Sie vermutet, dass es sich bei dem fünften Toten um Gabriel Franco handele.

Nach einigem Zögern willigt Kobi, der schon vor Jahren den Kontakt zu seinem Vater hat einschlafen lassen, in die gemeinsame Suche nach dessen Verbleib ein. Sie bildet die Handlung von "Blutspuren". Doch hinter dieser Detektivgeschichte mit dem durch die Umstände zusammengezwungenen Ermittlerpaar steckt ein Porträt des Lebens in Israel, das zum scharfsichtigsten gehört, was zu diesem Thema gedruckt worden ist. Es wird konsequent aus israelischer Sicht erzählt: Kein einziger Palästinenser kommt auf 166 Seiten vor. Nicht einmal der Attentäter wird erwähnt, die Akteure behandeln den Anschlag wie eine Naturkatastrophe. Joe Sacco, amerikanischer Comic-Reporter, der durch seine gezeichneten Berichte aus den Palästinensergebieten berühmt geworden ist (F.A.Z. vom 11. März 2004), hat Rutu Modan diese Abwesenheit der Gegenseite und die fehlende Berücksichtigung der Ursachen für deren Terror zum Vorwurf gemacht, und die Zeichnerin gab ihm prinzipiell auch recht. Sie erläuterte aber: "Den Kontext zu vergessen ist sehr menschlich. Wir trinken viel lieber mit Freunden Kaffee oder zeichnen Comics."

Damit stapelt sie tief, denn natürlich ist ihre Geschichte ohne den Kontext der Anschläge gar nicht denkbar. Schon die Ansiedelung der Handlung im Jahr 2002, als besonders viele Attentate auf israelische Zivilisten verübt wurden, ist klug, weil das scheinbare Desinteresse der Personen, denen Numi und Kobi auf ihrer Suche begegnen, als Panzer erkennbar wird, den man sich damals zulegen musste, um den Schrecken zu überstehen. In der Pathologie etwa wird das Paar von einer Bediensteten empfangen, die sich ihren eigenen schwarzen Humor zurechtgelegt hat, um mit der Leichenflut klarzukommen.

Rutu Modan ist Jahrgang 1966, sie hat das Zeitalter der beiden Intifadas also genauso intensiv erlebt wie die aktuelle brutale Abschottung ihres Landes gegen den palästinensischen Terror. Seit Jahren zählt sie zu den renommiertesten israelischen Comic-Zeichnerinnen, wobei "Blutspuren" ihre erste umfangreiche Geschichte ist. Ästhetisch tritt sie wie viele Kollegen, die eng an der Realität orientierte Comics zeichnen, das Erbe der Ligne Claire an, zeichnet somit auf die notwendigsten Umrisslinien beschränkte Figuren vor minutiös gestalteten Hintergründen. Die scheinbare Objektivität dieses Stils, der es dem Leser überlässt, die weitgehend blanken Gesichter der Handelnden mit Emotionen zu füllen, eignet sich besonders gut zur notwendigen grafischen Distanzierung von einem per se hochpersönlichen Stoff. Und Modan geht noch einen Schritt weiter, wenn sie ihre Hintergründe meist monochrom gestaltet und ihnen eine leichte Unschärfe gibt, als sei die Realität zusätzlich etwas aus dem Fokus geraten. Besser lässt sich das Verhalten ihrer Protagonisten gar nicht charakterisieren.

Zudem hat sie mit Numi und Kobi ein seltsames Paar geschaffen. Sie ist eine riesige Frau, die aus reicher Familie stammt, während er nur mit größter Mühe sein Leben zusammenhält. Trotzdem werden sie auf gemeinsamer Suche zu Vertrauten. Doch die faszinierendste Person aus "Blutspuren" tritt gar nicht darin auf: Das ist Gabriel Franco, dessen Leben Stück für Stück rekonstruiert wird - zur Verblüffung sowohl seiner Geliebten als auch des Sohnes.

"Blutspuren" ist zwiespältig aufgenommen worden; nicht nur der angeblich typisch israelischen Einseitigkeit wegen, sondern auch aufgrund der spröden Grafik. Doch dahinter verbirgt sich eine glänzend erzählte Geschichte, die mit allen Wassern der Psychologie und Soziologie gewaschen ist - und leider begabt mit der Gabe der Hellsicht: Am 26. Oktober 2005, als Rutu Modan ihren Comic schon weitgehend fertig hatte, tötete ein Selbstmordattentat auf einen Falafelstand in Hadera fünf Israelis.

ANDREAS PLATTHAUS

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