34,95 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
  • Gebundenes Buch

Der Islam hält die Welt in Atem - die zerfallenden Staaten im Nahen und Mittleren Osten, die Flüchtlingsströme aus den Kriegsgebieten und der blutige Vormarsch des IS sorgen täglich für neue Schlagzeilen. Doch die Verkürzung des Islam auf Religion plus Terrorismus gehört zu den grundlegenden Irrtümern des Westens. Sie durch ein differenzierteres Bild der islamischen Welt und ihrer unterschiedlichen Gesellschaften zu überwinden, das ist die große Leistung dieses Buches. Reinhard Schulze schildert und erklärt die islamische Geschichte vom Beginn der Entkolonialisierung am Anfang des 20.…mehr

Produktbeschreibung
Der Islam hält die Welt in Atem - die zerfallenden Staaten im Nahen und Mittleren Osten, die Flüchtlingsströme aus den Kriegsgebieten und der blutige Vormarsch des IS sorgen täglich für neue Schlagzeilen. Doch die Verkürzung des Islam auf Religion plus Terrorismus gehört zu den grundlegenden Irrtümern des Westens. Sie durch ein differenzierteres Bild der islamischen Welt und ihrer unterschiedlichen Gesellschaften zu überwinden, das ist die große Leistung dieses Buches. Reinhard Schulze schildert und erklärt die islamische Geschichte vom Beginn der Entkolonialisierung am Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur dramatischen Situation in unseren Tagen. Er erörtert alle wichtigen politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen und beschränkt sich dabei nicht nur auf den Nahen Osten, sondern geht auch auf die Regionen der islamischen Peripherie ein, wo Millionen von Muslimen leben. Seine glänzende Analyse der Geschehnisse seit dem 11. September 2001 macht vor allem eines deutlich - wir können die Ursachen der heutigen islamischen Mobilisierung nicht verstehen, wenn wir uns nicht mit den historischen Bedingungen vertraut machen, aus denen sie entstanden ist.

Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Reinhard Schulze, geb. 1953, ist Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern und lehrte als Gastprofessor an der New York University und der Harvard University. Er ist Herausgeber der Reihe „Social, Economic and Political Studies of the Middle East and Asia".
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Es handelt sich hierbei um eine Neuauflage eines bereits erschienen grundlegenden Buchs über Reformbewegungen innerhalb des Islams - ein Standardwerks, wenn man dem Rezensenten Rainer Stephan glaubt. Der Islam habe sich hier sehr wohl als fähig zur Auseinandersetzung mit dem Westen erwiesen, wenn auch vielleicht nur bis zu einem gewissen Grad. Das Buch bedurfte nach der Erstauflage von 1994 einer Neuauflage, die auch auf das Phänomen des islamistischen Terrors eingeht. Der Rezensent sieht diese Extremismen als Folge eines Zerfallsprozesses von Öffentlichkeit, den man in abgeschwächter Form auch aus dem Westen kenne, wo ja ebenfalls mit den Rechtspopulisten neue, die Öffentlichkeit negierende Ideologien entstanden sind. Schuld an dem Schlamassel ist für Schulze einzig und allein der Markt, durch den "der Wert der Bindung als Ressource" in den Hintergrund getreten sei, resümiert der Rezensent, der diese These plausibel zu finden scheint.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2016

Islam plus Terror greift zu kurz

Modernisierung zwischen Glauben und Ideologie: Reinhard Schulzes Tiefenbohrung über die islamische Welt kommt zur rechten Zeit.

Fast ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seitdem der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze seine "Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert" vorlegte. Er deutete damals die historischen Entwicklungen in jenem Teil der Welt als einen schwierigen Prozess der Modernisierung und nahm damit "Abschied von den Märchenländern" (F.A.Z. vom 26. Oktober 1994). Im Jahre 2002 erschien eine zweite Auflage. Nun hat er sein Werk nochmals ergänzt, erweitert, vertieft und sozusagen "runderneuert".

Denn seit der letzten Publikation hat sich die asymmetrische Konfrontation zwischen den Verfechtern islamischer Ideologien und dem Westen, aber auch in den islamischen Ländern selbst drastisch verschärft. Das afghanische Desaster, der "11. September", der unselige amerikanisch-britische Krieg im Irak im Jahre 2003, der zwar Saddam Hussein stürzte, aber dort ein politisch-religiöses Machtvakuum und Chaos erzeugte, die "Arabellion" - der Arabische Frühling - einschließlich des Schlachtens in Syrien, dessen brutaler Höhepunkt die Schreckensherrschaft des "Islamischen Staates" (IS) ist - dies alles bedarf ergänzender Beschreibung und Analyse. Islam plus Terror greift zu kurz.

Schulzes These von einer "islamischen Modernisierung" und Aufklärung, die - bevor sie recht in Gang kommen konnte - auch durch den Einfluss des Westens zwar irgendwie stimuliert, doch auch behindert und in ganz bestimmter Weise geformt worden sei, blieb unter seinen Kollegen nicht unkritisiert. Andere wiederum, etwa in Frankreich der Islamwissenschaftler Olivier Roy ("L'islam mondialisé, 2002; deutsch: "Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung", 2006), nahmen sie auf und deuteten die jüngsten Verwerfungen im Islam in ebendiesem Sinne - als einen schmerzhaften, zutiefst widersprüchlichen Prozess der Auseinandersetzung mit einer unausweichlichen (Selbst-)Modernisierung und deren hauptsächlich westlicher Vorstellungswelt und den damit verbundenen Begriffen und Denkstilen.

Die Grundstruktur hat der Autor in der neuen Fassung beibehalten. Fünf der ursprünglich sechs Kapitel hat der in Bern lehrende Orientalist um durchschnittlich zwanzig Druckseiten ergänzt, die Überschriften, einschließlich der Überschriften der jeweiligen Unterabschnitte des Buches, blieben weitgehend unverändert: Wie in der ersten und zweiten Fassung bietet Schulze eine durch Aktualisierungen aufgefrischte Tour d'horizon der Geistes-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte sowie der politischen Geschichte der islamischen Länder seit 1900. Das heißt seit dem Ende des Osmanischen Reichs und der - vor allem im Nahen Osten, doch beileibe nicht nur dort, sondern auch in Nordafrika, Indonesien und Mittelasien - massiven kulturellen und politischen "Osmose" durch den Westen, die natürlich auch der seit Bonapartes Ägypten-Feldzug (1798) gepflegten europäischen Machtpolitik und deren "Divide et impera" geschuldet war; über die oft turbulenten Findungsprozesse zwischen religiösem Erwachen und säkularer Erneuerung, eingespannt in den Rahmen eigener ökonomischer Möglichkeiten (Erdöl) und fremder politischer wie wirtschaftlicher Zwänge (Weltwirtschaftskrisen).

Eine "islamische Bürgerlichkeit" entweder säkular gedacht oder religiös gerechtfertigt, bestimmte lange im vorigen Jahrhundert den Diskurs über eine "islamische Welt"; einen Höhepunkt erreichten Begriffe wie "islamische Nation" etwa mit der Revolution Ajatollah Chomeinis in Iran 1979 - in einem vom Islam geprägten Land, das, wie die Türkei, doch im Unterschied zur disparaten arabischen Welt mit heute zwischen einundzwanzig und sechsundzwanzig Staaten, sprachlich und ethnisch einigermaßen homogen war. Es war, nach Schulze, die letzte islamische Sozialutopie, die zu etablieren man unternahm.

Das sechste Kapitel heißt nun "Die Erosion der islamischen Öffentlichkeit" und analysiert ausführlich jene anni horribiles zwischen 1979 und 1989, die nicht umsonst den Aufstieg radikalislamischer bis terroristischer Gruppen brachten, deren "wirkungsvollste" lange Zeit Al Qaida war. Die sowjetische Besetzung Afghanistans und deren gewalttätige Folgen, die Golfkriege, der Bürgerkrieg in Algerien und etliche kleinere Konflikte zertrümmerten sowohl die islamische Öffentlichkeit als auch das Vertrauen in eine zuvor entstandene "islamische Bürgerlichkeit" sowie die Hoffnung auf die säkular ausgerichteten Eliten, die in den Jahrzehnten zuvor geglaubt hatten - unter Einbeziehung mancher islamischer Elemente -, durch social design oder engineering die Gesellschaften erfolgreich entwickeln zu können. Indigene und auswärtige Aktionen wirkten bei diesem Kollaps zusammen. Als Höhepunkt erscheinen die Ereignisse im Irak nach 2003 sowie der nun fünf Jahre währende Krieg in Syrien.

Ein neues, siebtes Kapitel beschäftigt sich mit dem Arabischen Frühling und den Jahren danach. Es fügt sich in das vom Autor errichtete Gerüst gut ein. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Technik, Nation, Kultur, Fortschritt, Zivilisation - dies alles sind Begriffe der Moderne, in deren Kontext sich nach Schulze eine islamische Öffentlichkeit entfaltet hatte, die im zurückliegenden Jahrhundert den Diskurs - eine spezifische "islamische Rede", wie er es nennt - prägte.

Der sichtbarste Ausdruck dieser Modernität war das dem islamischen Orient bis dahin fremde Konzept des Nationalstaates. Die islamische Öffentlichkeit war dadurch andererseits zersplittert in sechsundfünfzig Nationalstaaten, von denen, wie der Autor hervorhebt, einundvierzig mitsamt ihren Grenzen koloniale Neuschöpfungen sind. Die an Diskursen der Moderne geschulte und oft auch ausgerichtete "islamische Rede" veränderte auch manche religiösen Auffassungen. So wurde die Scharia aus einem Komplex überkommener juristischer Entscheidungen aus der Vergangenheit eine "absolute, von Gott bestimmte normative Ordnung, die unabhängig von den Juristen existiere", wie er schon im Vorwort schreibt.

Durch das Internet, das insbesondere seit dem Arabischen Frühling immer wichtiger wurde, entstand aus einer islamischen Öffentlichkeit eine zusätzliche virtuelle Weltöffentlichkeit, die zur Lockerung der schon traditionell gewordenen islamischen Öffentlichkeit und ihres Diskurses ebenfalls beitrug.

Ausführlich wird dieser einstweilen in der Aporie gestrandete Arabische Frühling behandelt, als Resultat des totalen Scheiterns der Eliten. Der Autor betrachtet im Einzelnen Tunesien, Algerien, Ägypten, Libyen, Nigeria, Mali, Mauretanien, den Jemen, Bahrein sowie das Vorspiel im Libanon nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Rafiq al Hariri. Einzig die ölreichen Golf-Monarchien wie Qatar oder die Vereinigten Arabischen Emirate blieben verschont, weil sie noch in der Lage sind, aus dem Ölreichtum erlöste "Renten" (im Sinne des Renten-Kapitalismus) an breite Schichten zu verteilen.

Das Beispiel der türkischen AKP missriet in Ägypten, da die Islamisten nach ihrem Wahlsieg dort keinerlei Unterstützung durch die Wirtschaft erfuhren und nicht bereit waren, pluralistische Strukturen zuzulassen. Ultraislamische Gruppierungen wie Boko Haram, Shabaab oder der IS saugen aus dem Scheitern der Modernisierung und dem Zerfall staatlicher wie gesellschaftlicher Ordnungen und der sie tragenden Normen (Nigeria, Somalia, Libyen, Irak, Syrien) ihren Honig.

Der Autor sieht in seinem Ansatz keineswegs den einzig möglichen. Man kann die jüngere und jüngste Geschichte der "islamischen Welt" auch ideengeschichtlich, anthropologisch, sozialgeschichtlich, feministisch und auf viele andere Weisen darstellen. Ein Desiderat wäre eine Untersuchung jener Entwicklungen, die mit der immer größer werdenden islamischen "Diaspora" in Amerika, Europa oder im südlichen Afrika zusammenhängen. Schulzes Darstellung indes erhellt vieles, was im ewigen Streit um eine tatsächliche oder vermeintliche "westöstliche Weltgegensätzlichkeit" nicht gesehen wird oder zu Unrecht auf der Strecke bleibt. In einer Zeit, da - hervorgerufen durch unbeschreiblichen Terror in aktuellen Krisen-Brennpunkten, aber zunehmend auch in Europa - zahlreiche Publikationen sich zwangsläufig einseitig mit den radikalsten "islamischen" Ideologien befassen, kommt eine solche Tiefenbohrung, die auch die wachsende Interdependenz der Kulturen aufzeigt, wie Schulze sie vorlegt, genau zur rechten Zeit.

WOLFGANG GÜNTER LERCH

Reinhard Schulze: "Geschichte der islamischen Welt von 1900 bis zur Gegenwart".

Verlag C. H. Beck, München 2016. 760 S., geb., 34,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.09.2016

Niedergang im Morgenland
Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze betrachtet die Gewaltexzesse im Nahen Osten als Folge der unumkehrbaren „Erosion der islamischen Öffentlichkeit“.
An die Stelle von politisch gesteuerter Integration trat der Konsum. Die Folgen könnten verheerend sein
VON RAINER STEPHAN
Wie islamistisch ist der Islam? Haben wir es hier tatsächlich mit einem in sich geschlossenen System zu tun, unfähig zum integrativen Austausch mit anderen Kulturen? Reinhard Schulze ist dieser These in seiner 1994 veröffentlichten „Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert“ dezidiert entgegengetreten. Und er tut das auch in der jetzt erschienenen grundlegend neu bearbeiteten und aktualisierten Fassung dieses Buches.
  In einer sämtliche vom Islam geprägten Länder einbeziehenden Analyse zeigte Schulze, wie sehr die islamische Welt – das heißt im Sinn dieses Buchs: der gesellschaftliche und politische Diskurs innerhalb der islamischen Öffentlichkeit – gerade von immer neuen Versuchen geprägt war, den Islam mit westlichen Konzepten zu verbinden und ihn so zu modernisieren.
Es waren so gut wie alle Strömungen und Institutionen des Islam, die sich, mit verschiedener Intention und Intensität, in diesen Reformierungsprozess einbanden – Schiiten und Sunniten, Rechtsschulen und Ordensgemeinschaften, Universitäten und politische Vereinigungen, Diplomaten und Untergrundorganisationen. Sie alle stritten in wechselnden Konstellationen und Koalitionen mit- wie gegeneinander um den richtigen Weg des Islam in die Moderne.
  Weil dieser Streit von nationalstaatlichen Ideen mitgeprägt wurde, zersplitterte er sich in eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Richtungen und Akteuren. Vielen von ihnen geht das Buch, von Schauplatz zu Schauplatz wechselnd, sehr detailliert nach – oft derart detailliert, dass der Leser die Übersicht zu verlieren droht. Um dem abzuhelfen, entwickelt Schulze eigene Orientierungslinien – eigen auch in dem Sinn, dass sie dem aktuellen Common Sense nicht selten entgegenstehen. So subsumiert er unter dem Begriff „Salafiya“ nahezu jede Art von Reformpolitik, die vordergründige, in Formeln und Riten erstarrte islamische Traditionen verwirft, um auf der Basis eines „urislamischen“ Ideals Anschluss an die Moderne zu finden.
  Keine Rede also davon, dass es in der islamischen Welt weder kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Kultur noch Anstrengungen zu einer zeitgemäßen Selbstreformierung gegeben habe. Eine ganz andere Frage ist die nach dem Erfolg all dieser Bewegungen. Reinhard Schulze weicht ihr keineswegs aus. Schon die erste Fassung seines Buchs liest sich, zumal aus heutiger Perspektive, als Geschichte eines großen Scheiterns: „Die Vision von einer Neugestaltung der islamischen Welt auf der Grundlage eines Primats des Staats oder der Gesellschaft wurde Ende der achtziger Jahre nur noch von wenigen islamischen Intellektuellen aufrechterhalten. So verwundert es nicht, dass populistische Kreise in der islamischen Öffentlichkeit Raum dafür fanden, mittels eines auf wenige Symbole reduzierten Islam der sozialen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.“
  So düster sich dieses Fazit anhört, so wenig konnte es vorwegnehmen, was dann vor und nach der Jahrhundertwende eskalieren sollte: die dramatischen Ereignisse des sogenannten Arabischen Frühlings, die Terrorexzesse von al-Qaida oder IS. Deshalb entschloss sich Schulze nun zur Revision und Erweiterung seines Werks. Allein die beiden neuen Schlusskapitel – sie umfassen an die 200 Seiten – beschreiben allerdings keine wirkliche Entwicklung mehr, sondern ein Untergangsszenario. Was wir im Westen heute als „islamistische“ Gewaltexzesse erleben, deutet Reinhard Schulze ganz und gar nicht als Wiedererstarken eines wie auch immer mutierten Islam, sondern als Folge der unumkehrbaren „Erosion der islamischen Öffentlichkeit“.
  Öffentlichkeit meint dabei im Sinn von Jürgen Habermas den Diskursraum, in dem sich gesellschaftliche Normen wie staatliche Strukturen bilden und zugleich kontrollieren lassen können. Dessen Verfallskrise entwickelt sich zwar in der islamischen Welt unter anderen, weniger „aufgeklärten“ Voraussetzungen als im Westen, aber letzten Endes mit ähnlicher Wirkung.
Schulze spricht angesichts solcher Auflösungstendenzen von einem „zweiten Strukturwandel der Öffentlichkeit“, in dem mit der Zivilgesellschaft auch die sie repräsentierenden „bürgerlichen“ Medien die Kontrolle über den öffentlichen politischen Diskurs vollends zu verlieren drohen. Als islamisches Phänomen lässt sich das in der Tat kaum deuten; der Ausdruck „Lügenpresse“ ist ja keine islamische oder gar islamistische Erfindung.
  „Die Konvergenz des Niedergangs ideologischer Ordnungsvorstellungen in der islamischen wie der westlichen Welt“, so Schulze, „lässt vermuten, dass in den 1980er Jahren allgemein das Vertrauen in eine politisch planbare Zukunft der Gesellschaft schwand.“ Den Verursacher dieser Entwicklung weiß Schulze durchaus zu nennen: An die Stelle einer politisch gesteuerten Integration „trat schlicht der Markt“. Und der entfaltet seine Macht vollends ungehemmt, seit jene islamisch-staatssozialistischen Modelle zusammenbrachen, in denen Bildung noch „eine der wichtigsten dieser Ressourcen für ein gelungenes Leben“ darstellte. „Durch die wachsenden Konsumerwartungen trat der Wert der Bildung als Ressource in den Hintergrund und musste dem Konsum selbst weichen.“
Orientierung am Konsum allein aber bedeutet unheilbare Frustration für alle, denen er nicht zugänglich ist. Sie werden Ziel und Beute einer Propaganda, in der „der Islam als Normenordnung ohne jede Wertebindung gepredigt wurde. Dieser Islam bewertete nicht nach moralischen Kategorien, sondern lediglich nach der Unterscheidung zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘. In die Selbstidentifikation der Akteure mit der Position der Richtigkeit konnten sich endzeitlich-ekstatische Erwartungen mischen“ – keine wirklichen Utopien also, sondern deren auf die Zerstörung der Welt wie die des gequälten eigenen Ich gerichtetes Gegenteil.
  Aus alledem folgert Reinhard Schulze: Es ist nicht der starke, sondern der kaputte Islam, vor dem wir Angst haben müssen, auch weil sich darin die Angst vor uns selbst spiegelt. Abend- und morgenländische Wertsysteme mögen schwer miteinander zu vereinbaren sein. In ihrem Zusammenbruch werden sie sich auf schreckliche Weise gleich.
Das beschriebene Phänomen
tritt in ähnlicher Weise
auch in westlichen Ländern auf
Turmbau zu Dubai: Konsum und Kommerz sind für Reinhard Schulze Auslöser der Krise der islamischen Welt.
Foto: Kamran Jebreili/AP
  
  
Reinhard Schulze:
Geschichte der islamischen Welt von 1900 bis zur
Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2016.
760 Seiten. 34,95 Euro.
E-Book: 29,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr