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Das Bild Atatürks ist bis heute in der Türkei allgegenwärtig. Schon zu seinen Lebzeiten setzte der Personenkult um den visionären und entscheidungsstarken Mann mit der Lammfellmütze ein, der westliche wie östliche Beobachter beeindruckte. Gegen den Widerstand der Sieger des Ersten Weltkriegs erkämpfte er die Unabhängigkeit und rief 1923 den ersten türkischen Nationalstaat aus. Atatürk verordnete einen beispiellosen Traditionsbruch: Das altehrwürdige Sultanat und das Kalifat wurden abgeschafft, Turbane, Fese und Gesichtsschleier aus der Öffentlichkeit verbannt. Die Hauptstadt wurde von Istanbul…mehr

Produktbeschreibung
Das Bild Atatürks ist bis heute in der Türkei allgegenwärtig. Schon zu seinen Lebzeiten setzte der Personenkult um den visionären und entscheidungsstarken Mann mit der Lammfellmütze ein, der westliche wie östliche Beobachter beeindruckte. Gegen den Widerstand der Sieger des Ersten Weltkriegs erkämpfte er die Unabhängigkeit und rief 1923 den ersten türkischen Nationalstaat aus. Atatürk verordnete einen beispiellosen Traditionsbruch: Das altehrwürdige Sultanat und das Kalifat wurden abgeschafft, Turbane, Fese und Gesichtsschleier aus der Öffentlichkeit verbannt. Die Hauptstadt wurde von Istanbul nach Ankara verlegt, die arabische Schrift durch die lateinische ersetzt und das islamische Bildungswesen rigoros unterdrückt. Europäische Gesetze sorgten für die Gleichstellung der Frauen. Wie konnte ein aus bescheidenen Verhältnissen stammender Berufssoldat zum Staatschef und Kulturrevolutionär werden?
Klaus Kreiser erzählt höchst anschaulich das Leben Mustafa Kemals und zeigt, wiedie historischen Umstände und die richtigen Verbindungen, aber auch Machtbewusstsein und Charisma einen einzigartigen Aufstieg ermöglicht haben.
Autorenporträt
Klaus Kreiser, geb. 1945, ist Professor em. für Turkologie an der Universität Bamberg. Er war mehrere Jahre als Referent für Osmanistik in der Abteilung Istanbul des Deutschen Archäologischen Instituts beschäftigt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.09.2008

Wir müssen kühn vorgehen
Schöne Frauen und ein Oberlehrer: In seiner neuen Atatürk-Biographie zeigt Klaus Kreiser den Gründer der Türkei ohne Denkmalschutz
Der Pascha kümmerte sich um alles, auch um die Kunst, oder was er dafür hielt. Das Bilderverbot im Islam gefiel Mustafa Kemal Atatürk nicht, so wenig wie andere Gesten der Unterwerfung unter die Gesetze der Religion. Die Bildhauerkunst sollte man „mit schönen Statuen verkünden”, wünschte der Gründer der modernen Türkei. Diese neue Geisteshaltung aber stieß auf heftigen Widerspruch. So legte sich der große Volkserzieher ins Zeug und argumentierte mit den Reiterstandbildern von Kairo und Alexandria. Und seien die Ägypter vielleicht keine Muslime? So fragte der Oberlehrer der Nation 1923 in Bursa sein staunendes Volk. Später schrieb die junge Republik Kunststipendien für München, Berlin und Paris aus, und sie errichtete ganz viele Atatürk-Statuen.
Noch heute sind die Kemal-Bildnisse in der Türkei so häufig, dass Landesunkundige gelegentlich meinen, bei dem inflationär Porträtierten handle es sich um den aktuellen Präsidenten. Wer aber war der Mann, dessen Persönlichkeitsschutz in der Türkei bis heute Verfassungsrang hat, dessen Konterfei in keiner Business-Lounge und keiner Beamtenstube fehlen darf, und der so viele Titel trug, dass der Turkologe Klaus Kreiser allein mit der Nacherzählung der Namen ein ganzes Kapitel seiner gerade neu erschienenen Atatürk-Biografie füllen kann?
Kreisers Buch kommt passend zum Türkei-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse heraus, die Mitte Oktober stattfindet. Er greift als exzellenter Kenner türkischer Archive und originalsprachiger Texte weit aus, lässt Atatürk-Gefährten in großer Zahl Revue passieren und konzentriert sich dann doch immer wieder auf das eigentliche Objekt seiner Neugier: auf den 1881 im damals osmanischen Thessaloniki geborenen Kleine-Leute-Sohn, der wegen guter Mathematik-Leistungen auffällt und seine Ausbildung in Militärschulen erhält. Die dahinsiechende Sultansherrschaft ist der revolutionär gesinnten „Gesellschaft für Einheit und Fortschritt” politisch peinlich. Diesen unruhigen Geistern schließt sich auch der aufstrebende Offizier Mustafa Kemal an, der sich früh zu Höherem berufen fühlt. Aus der Oppositionsgruppe geht das „jungtürkische Regime” hervor, Atatürk aber sucht bald eigene Wege.
Seine große Stunde kommt mit dem Zusammenbruch des alten Reiches. Von Ostanatolien aus organisiert er den nationalen Widerstand gegen die Truppen der Westmächte und das Invasionsheer der Griechen. Deren Traum von Groß-Hellas geht im türkischen Befreiungskrieg unter. Das blutige Ringen wird zum Katalysator für die Gründung der Republik, und der Vertrag von Lausanne sichert die Grenzen des neuen Staates, dessen Territorium die Siegermächte zuvor schon wie beim Würfelspiel verteilt hatten. 1923, im Jahr seines Triumphes, heiratet Mustafa Kemal die emanzipierte Latife Usakligil. Die 23-Jährige ließ sich hoch zu Ross ablichten, in engen Hosen, mit Stiefeln und Peitsche. Sie ist gegenüber revolutionären Ideen mindestens so aufgeschlossen wie ihr Gatte. Trotzdem bleibt die einzige Ehe des Egomanen kurz. Im seinem Alltag hatte er keinen Platz für eine fordernde, ehrgeizige Ehefrau. Später scharte er fünf Adoptivtöchtern um sich, über die man leider in keiner Atatürk-Biografie recht viel erfährt.
Aber es sind die Frauen, an denen er früh den Fortschritt misst, und es ist eine Frau, der er schon 1915 in Kampfpausen während der Weltkriegswüterei in Briefen Ungehöriges anvertraut. Corinne Lütfü, die Witwe eines im ersten Balkankrieg gefallenen Offiziers, erfährt aus dieser Korrespondenz, dass Kemal bedauert, nicht „mit den Eigenschaften der Gläubigen ausgestattet” zu sein. Und dass er sich gleichwohl nicht scheut, seine Soldaten mit der Hoffnung auf die vom Propheten versprochenen „Huris, die schönsten Frauen Gottes”, in die Schlacht und in den Tod zu schicken.
Aufschlussreich ist der Brief von der Front auch deshalb, weil Kreiser Stellen aus dem französischen Original wiedergibt, die von den türkischen Herausgebern lieber nicht übersetzt wurden. Da räsoniert Mustafa Kemal, warum Mohammed, der doch den Männern so viele „hübsche Vergnügungen verspricht, sich überhaupt nicht für die Frauen einsetzt”. Das müsse doch „unerträglich” sein. „Nicht wahr?” fragte er die Witwe Lütfü. Madame war übrigens Christin.
Es sind die vielen Originalzitate, die aus dieser penibel recherchierten, bislang ausführlichsten in deutscher Sprache verfügbaren Atatürk-Biografie eine Fundgrube für das Verständnis der frühen Republik machen. Damit schließt Kreiser an die beiden auf Englisch erschienen Klassiker von Andrew Mango und Patrick Kinross an, auch wenn er weniger Anekdotisches bietet. Erstaunlich selten haben sich deutsche Autoren bislang an diesen Stoff gewagt, womöglich erschien er ihnen zu unübersichtlich. Türkische Forscher aber hindert immer wieder der Denkmalschutz an einer kritischen Studie. Zuletzt hatte der in Deutschland lebende türkische Journalist Halil Gülbeyaz 2003 einen mutigen Mittelweg versucht und eine durchaus lesbare Lebensbeschreibung vorgelegt. Treffend nannte er Atatürk einen „Demokraten, der am liebsten allein regierte”.
Schon 1919 hatte der fortschrittsgläubige Offizier gegenüber Vertrauten sein späteres politisches Programm parat: Die Türkei solle eine Republik werden, der Schleierzwang für die Frauen fallen und die lateinischen Buchstaben das arabische Alphabet ersetzen. „Pascha, Sie neigen zu Phantasien”, mahnte ein Weggefährte, der dies alles zu notieren hatte. Dem ganzen Unternehmen lag durchaus so etwas wie Hochmut zu Grunde: „Ich möchte nicht wie die einfachen Leute werden, sondern sie sollen werden wie ich”, schrieb er 1918 während einer Kur in Karlsbad in sein Tagebuch.
Auch in Karlsbad waren es die „äußerst feinen, schönen jungen Frauen”, die im Salon mit Männern im Smoking den Fourstep tanzten, bei deren Betrachtung sich in Kemals Kopf die revolutionären Stürme regten: „In der Frauenfrage müssen wir kühn vorgehen”, hielt er fest. Dass er selbst solches bewerkstelligen könne, daran hatte er keine Zweifel: „Wenn mir eine große Verantwortung und Macht zufällt, glaube ich, dass ich in unserem Gesellschaftsleben die erwünschten Umwälzungen in einem Augenblick mit einem ,Coup‘ umsetzen werde.” Alles erschien ihm möglich, als strikter Willensakt. Das Gegenstück zu so viel Willensstärke war offenbar der Rausch. Atatürk starb 1938 an Leberzirrhose.
In seinem Resümee bezeichnet Kreiser die Türkei bis 1946 – so lange währte die von Atatürk geschaffene Einparteienherrschaft der Cumhuriyet Halk Partisi, der CHP – als eine „moderne Autokratie”. Der Mann im Zentrum der Macht war bis zu seinem Tod ein „manchmal schüchtern auftretender Oberlehrer, mit sorgfältiger, aber alles andere als hinreißener Diktion”. Atatürks System war nicht imperialistisch, merkt Kreiser an. Der Nationalismus der modernen Türkei aber richtete sich gegen des eigene Volk.
Die Diskriminierung nichtmuslimischer Minderheiten blieb leider eine Konstante. Der Assimilierungsdruck auf die nicht türkisch sprechenden Kurden lockerte sich erst in jüngster Zeit. 85 Jahre nach ihrer Gründung ist die Republik noch immer nicht mit sich im Reinen, wie sie es mit dem Erbe ihres Gründers halten soll. Die einen wollen kemalistischer sein, als es Atatürk je war, meißeln seine Lehrsätze in Stein und suchen ihr Heil in stark nationalgetönter Abschottung. Die anderen wollen der Religion wieder den Raum geben, den ihr Atatürk einst nahm. Die Zukunft der Türkei dürfte aber nicht in den Extremen liegen. Das haben die allerjüngsten Krisen und vor allem ihre Bewältigung gezeigt.
Leider fällt Klaus Kreisers Epilog, der Atatürks Ausstrahlung auf die heutige Türkei nachzeichnet, kurz aus. Wer sich durch die Stofffülle dieser Biografie durchgearbeitet hat, der versteht aber in jedem Fall besser, warum das Land von seiner Vergangenheit so wenig loskommt, obwohl sein Gründervater doch nur eines wollte: es in die Zukunft führen. Dies tat er allerdings so radikal, dass sich die Türkei immer noch daran abarbeitet. Aber ohne Atatürk und seinen „Coup” wäre die Türkei nicht einmal so weit. CHRISTIANE SCHLÖTZER
KLAUS KREISER: Atatürk. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2008. 321 Seiten, 24,90 Euro.
Zum Türkei-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse die bisher ausführlichste deutsche Biographie
„Ich möchte nicht wie die einfachen Leute werden, sie sollen so werden wie ich.”
Mustafa Kemal, der später, ab 1934, den Ehrennamen Atatürk („Vater der Türken”) trug, hier am 6. März 1923 zusammen mit seiner Braut Latife Usakligil fotografiert. Die einzige Ehe des Egomanen hielt nicht lange. Foto: Bettmann/Corbis
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2008

General, Staatsmann, Oberlehrer
Klaus Kreiser schildert spannend das Leben und das Wirken des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk

Nicht nur, weil die Türkei in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse ist, sondern vor allem, weil sich das Land in einem interessanten Prozess der Veränderung befindet, muss eine neue Biographie Mustafa Kemal Atatürks ((1881 bis 1938) großes Interesse wecken. Vieles spricht dafür, dass Klaus Kreiser - emeritierter Turkologe aus Bamberg - eine Biographie verfasst hat, die für lange Zeit schwer zu übertreffen sein wird. Er schildert die Vita und das Wirken des "Türkenvaters" und Gründers der Türkischen Republik in einer Weise, die sich wohltuend von den unkritischen Lobeshymnen früherer Biographen abhebt, zumal in der Türkei. Als Turkologe kann sich Kreiser ausgiebig auf türkische wie osmanische Originalquellen stützen, die - der Sprache wegen - anderen deutschen oder europäischen Historikern nicht zugänglich sind.

Es entsteht ein Bild des Republikgründers und Kulturrevolutionärs, das eindringlich die positiven Seiten seiner historischen Mission, doch auch die problematischen ohne Aufgeregtheit und polarisierende Wertungen schildert. Kreiser will weder glorifizieren noch destruieren, sondern einfach beschreiben, wie es war: Vom kleinen Haus in Saloniki (Selânik), wo Kemal geboren wurde, bis zum pompösen Dolmabahçe-Palast in Istanbul, in dem er starb und von wo aus er, der "Gazi" (Glaubenskämpfer), der "ebedî sef" (ewige Anführer) oder "ebedî ata" (ewiger Vater, wie die Zeitung "Cumhuriyet" ihn nach seinem Tod auf der ersten Seite nannte) nach Ankara überführt wurde, in "seine" Hauptstadt, die er dem neuen Staat in der anatolischen Steppe verordnet hatte. Dort ruht er bis heute in seinem Mausoleum, dessen Besuch ein Pflichttermin für auswärtige Staatsmänner ist - so wie seine berühmte "Rede an die Jugend" Pflichtlektüre für die türkischen Schüler wurde und das Buch "Nutuk", in dem Atatürk 1927 seine Version der türkischen Revolution in einer länger als sechs Tage dauernden Rede zum Besten gab, die Pflichtlektüre der türkischen Historiker. An "Nutuk" haben sich alle hochkemalistisch ausgerichteten Geschichtsschreiber des Landes zu orientieren.

Atatürk war Militär und blieb es, was das strategische Denken anbelangt, auch als ziviler Präsident. Beharrlichkeit brachte ihn zu Zeiten der letzten Sultane und in der Jungtürkischen Revolution nach oben. Im Ersten Weltkrieg siegte er an der Seite der deutschen Verbündeten auf Gallipoli (Anafartalar), danach demütigte er die Truppen des Sultans und vertrieb die Griechen, die geglaubt hatten, die Gunst der Stunde für eine Wiedereroberung Kleinasiens nutzen zu können. Kreiser schildert all diese Ereignisse so anschaulich, dass sie sich auch spannend lesen. Als Anführer einer Gegenregierung bootete Atatürk von Anatolien aus seine Gegner in Istanbul aus, dabei unterstützt von Gefährten, die ihm meistens blind ergeben waren. Schon seit 1919 war Mustafa Kemal entschlossen, seiner inneren Vision zu folgen und einen gänzlich neuen Staat zu schaffen - mit völlig neuen Werten. Er tat dies autoritär, jedoch auch mit Hilfe der Nationalversammlung, in der seine Leute die Oberhand hatten. Zur Not half man etwas nach. Solange Atatürk lebte (und noch ein erhebliches Stück darüber hinaus), gab es nur eine Partei: die Seine, die Republikanische Volkspartei (CHP) als Transmissionsriemen seiner Ideen. Versuche mit einer Oppositionspartei scheiterten. All das wird differenziert dargelegt. Viele Ideen wurden in der "Tafelrunde" beredet, in der sich Atatürk mit seinen Getreuen traf, dem Raki zusprach und Linien der Politik vorgab.

Unter Atatürk erreichte man 1923 in Lausanne die Revision der demütigenden Teilungsabkommen von Sèvres, man schaffte das Sultanat und Kalifat ab, dazu die religiöse Gerichtsbarkeit. Man übernahm westliche Rechtssysteme. Die religiösen Orden wurden verboten. Männer und Frauen wurden per Gesetz gleichgestellt. Das "Hutgesetz" verabreichte den Männern europäische Kopfbedeckungen anstelle des Fes. 1928 wurde die Lateinschrift abgeschafft und durch ein "lateinisches" Alphabet ersetzt. Atatürk lehrte die neuen Buchstaben selbst - ein Bruch mit der islamischen Vergangenheit, wie man ihn sich tiefer kaum vorstellen kann. Eine Kommission reinigte die Sprache von arabischen und persischen Wörtern, die neue türkische Geschichtsvision sollte das Osmanische Reich zur Episode innerhalb einer neuen national-türkischen Geschichte erklären - und vieles mehr. 1935 erhielten die Türken Familiennamen.

Anschaulich beschreibt Kreiser, dass es selbst aus dem engen Zirkel um Atatürk manche Widerstände gab. Leute wie Rauf Orbay, um nur den Bekanntesten zu nennen, fanden, bei grundsätzlicher Zustimmung, es gehe doch vieles zu weit und zu schnell. Vor allem Atatürks gering entwickelter Sinn für die Religion und ihre Bedeutung für die Kultur der Türken verstörte viele. In Izmir kam es zu einem Attentatsversuch, den man prompt diesen Kreisen anlastete. Den Aufstand des kurdischen Scheichs Said 1925 ließ der Staatspräsident brutal niederschlagen, anstelle sich zu arrangieren, was möglich gewesen wäre. Diese Wunde klafft bis heute, die Kurdenfrage gehört - neben der Frage, wie viel Öffentlichkeit der Religion zukommen dürfe - zu den ungelösten Konflikten des Landes.

Kreiser überlässt dem Leser selbst die Beurteilung der Person Atatürks, seiner Politik und ihrer Auswirkungen, doch gibt er ihm schon einige Hilfen an die Hand. Dass Atatürk ein charismatischer Führer war, der die alte Türkei in eine neue umformte, der sie modernisierte und dem Land zahlreiche Impulse mitgab, die bis heute wirken, ist unbestritten. Mit dem teilweise unerträglichen, wenn auch verständlichen Personenkult, der schon zu Lebzeiten einsetzte, geht er hingegen kritisch ins Gericht. Auch die Homogenität einer türkischen Nation, die Atatürk gegen die Minderheiten, vor allem die Kurden, durchsetzte, muss heute mehr und mehr als Problem angesehen werden.

Atatürks historisches Wirken und sein persönlicher Stil waren autoritär, erinnern an die Diktaturen jener Zeit. Doch gibt es wesentliche Unterschiede: In seiner jungen Republik gab es keine säbelrasselnden Armeeparaden, keine Hetzreden gegen andere Nationen. Mit dem jahrhundertealten Angstgegener Russland (Sowjetunion) arrangierte sich der Gazi. In der Außenpolitik lehnte er alle Abenteuer ab. "Yurtta sulh, cihanda sulh - Frieden in der Jurte (Heimat), Friede in der Welt" war seine Devise. Pantürkische Eskapaden lehnte er ab. Kreiser sieht ihn mehr als autoritären "Oberlehrer" denn als Diktator. Die heutige Spaltung der türkischen Gesellschaft wurzelt freilich ebenso in seiner Politik wie die positiven Elemente.

WOLFGANG GÜNTER LERCH

Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2008. 334 S., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Klaus Kreisers Atatürk-Biografie füllt eine Lücke, stellt Rezensent Stefan Reinecke nach der Lektüre befriedigt fest. Denn Kreisers Biografie des türkischen Staatsgründers sei nicht nur die erste, die auf Deutsch erscheint, sondern nach Reineckes Überzeugung zudem eine wissensreiche und genau recherchierte. Kreiser zeichne Mustafa Kemals Weg als den eines Autodidakten, der in Westeuropa die Moderne kennenlernte, die er nach Gründung der türkischen Republik als "Revolutionär von oben" seinem Staat verordnet habe . Auch eine Revision der Rolle der Frau nach westlichem Vorbild gehörte zu Atatürks "kulturrevolutionärem Programm", erfährt Reinecke. Trotz des überbordenden Personenkults sei Atatürks autokratische Herrschaft nicht mit den faschistischen Regimen in Italien und Spanien zu vergleichen, stellt Reinecke auch fest, denn Atatürk sei "kein charismatischer Tyrann, sondern ein schüchterner Oberlehrer" gewesen. Ein wenig von dieser Schüchternheit scheint auf seinen Biografen abgefärbt zu haben, denn so sehr der Rezensent dessen dezente Darstellung und umsichtiges Abwägen schätzt, so sehr vermisst er von ihm "ein paar Sätze zu Atatürks historischer Gesamtbilanz".

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