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Die in der Erziehungswissenschaft vorherrschende Raummetaphorik führt zu heillosen Paradoxien. Aber nicht die Wirklichkeit ist paradox, sondern die Art und Weise, wie sich Pädagoginnen und Pädagogen die Erziehungswirklichkeit denken, erzeugt Paradoxien. Sie entstehen, weil eine zeitlich verfaßte Wirklichkeit in räumliche Kategorien gezwängt wird. Walter Herzog schlägt deshalb vor, das metaphorische Potential der Zeit als alternative Begründung der Pädagogik zu nutzen. Im Rahmen einer modalen Zeitauffassung lassen sich die zentralen Begriffe der Erziehungswissenschaft neu bestimmen. Die…mehr

Produktbeschreibung
Die in der Erziehungswissenschaft vorherrschende Raummetaphorik führt zu heillosen Paradoxien. Aber nicht die Wirklichkeit ist paradox, sondern die Art und Weise, wie sich Pädagoginnen und Pädagogen die Erziehungswirklichkeit denken, erzeugt Paradoxien. Sie entstehen, weil eine zeitlich verfaßte Wirklichkeit in räumliche Kategorien gezwängt wird. Walter Herzog schlägt deshalb vor, das metaphorische Potential der Zeit als alternative Begründung der Pädagogik zu nutzen. Im Rahmen einer modalen Zeitauffassung lassen sich die zentralen Begriffe der Erziehungswissenschaft neu bestimmen. Die zeitliche Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit erschließt der Disziplin die Dimension der Sozialität, dank deren im pädagogischen Alltag Formen reziproker Anerkennung als Medien der Sozialintegration in den Vordergrund rücken.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.05.2003

Gehst Du zum Kinde, vergiss den Luhmann nicht
Die Zeit heilt alle Paradoxien: Walter Herzog entwirft eine Pädagogik mit Freiheit ohne Zwang
Walter Herzog will die pädagogische Paradoxie auflösen, indem er von der Raum- auf die Zeitmetaphorik umstellt. Was bedeutet das? Und was ist die pädagogische Paradoxie? Immanuel Kant kleidete sie in die Frage: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?” Der Göttinger Reform- Pädagogen Leonard Nelson meinte noch in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, dass man die Zöglinge zur Freiheit und Selbständigkeit zwingen müsse. Herzog hält dem entgegen: „Eine Kultivierung der Freiheit durch Zwang ist nicht möglich, aber auch nicht nötig.” Aber wie dann?
Die Paradoxie und die unüberschaubare Zahl ihrer Lösungen sind nach Herzogs Ansicht mit der Raummetaphorik eng verbunden, denn der Erzieher könne den Entwicklungsprozess seines Zöglings von einer höheren Warte aus beobachten und ihn von da zum Ziel des Erwachsenseins führen. Er stehe stets oben, wie der Wächter auf der Bergspitze, der die Windungen des Wegs bis in die Ferne erspähen kann, wohingegen der unten im Raum angesiedelte Zögling nur bis zur nächsten Wegbiegung, also nicht allzu weit blickt. „Erziehung scheint nicht anders denn als überschaubare Bewegung im Raum, als ein gewaltsames Heraus- und Hinaufziehen denkbar zu sein.”
Wie will Herzog die Pädagogik erfolgversprechend auf die Zeitmetaphorik umstellen? In Anlehnung an Luhmann sieht er die Erziehung als evolutionären, zeitbezogenen Prozess. Meist werde der Beitrag ausgeblendet, den das Kind selbst zu seiner Sozialisation leiste. Doch die Schüler kommen bereits mit Wissen in die Klasse. Dem Kind werden Variationen seines schon vorhandenen Wissens angeboten. Es selegiert und fügt seinem Wissen neues und anderes hinzu. Dieses wird im evolutionären Prozess als aktueller Wissenskanon stabilisiert. Bis zu diesem Punkt besteht noch Einigkeit zwischen Luhmann und Herzog, der resümiert: „Erziehung und Unterricht können immer nur Gelegenheiten bereitstellen; sie können nie Ursachen sein.”
Dem Lehrer ebenbürtig
Im Gegensatz zu Luhmann ist Herzog der Überzeugung, dass man diesen evolutionären, zeitbezogenen Prozess steuern, lenken und beeinflussen kann; allerdings nicht im Sinne der explizierten Raummetaphorik, die den Schüler als defizitär ansieht und dem Erzieher die Aufgabe der Verbesserung zuschreibt. Herzog sieht das anders:
„Der Edukand ist immer schon in einem gewissen Ausmaß selbständig und dem Erzieher ebenbürtig. Die Subjektivität des Kindes kann anerkannt werden, ohne daß sie bereits im Sinn der Zielprojektion pädagogischen Handelns aus geformt sein muß. Insofern ist die Erziehung nicht paradox. Dem Edukanden braucht nicht unterstellt zu werden, worüber er noch nicht befindet. Die pädagogische Theorie, die sich darauf versteift, den Erziehungsbegriff so anzulegen, daß der Lernende als jemand anerkannt wird, der er noch nicht ist, blendet die Subjektivität des Edukanden aus bzw. verschiebt deren Anerkennung auf eine unbestimmte Zukunft. Da die Subjektivität nicht real sein kann, erscheint sie als Fiktion, Supposition und kontrafaktische Vorwegnahme eines Noch-nicht. Doch der Edukand ist längst schon Subjekt, wenn der Erzieher beschließt, ihn zum Subjekt zu machen.”
In der Zeitmetaphorik erscheint der Edukand „nun nicht mehr als defizitäres Wesen, das der pädagogischen Hilfestellung bedarf und insofern dem Erzieher unterlegen ist. Vielmehr erweist er sich im Hinblick auf seine Vergangenheit und in bezug auf das soziale Substrat der pädagogischen Situation als dem Erzieher ebenbürtig. Dank dem, was er bereits kann und erreicht hat, ist er dem Erzieher gleich. Er ist kompetent, wenn auch nicht in jeder Hinsicht. Er kann etwas und ist jemand. Die vermeintliche paradoxale Struktur des Pädagogischen löst sich auf.”
Ausgewechselte Gesellschaft
Walter Herzog geht mit seiner Zunft hart ins Gericht. Aber klingt seine Alternative nicht höchst idealistisch? Neu ist die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Lehrer und Schüler auch nicht. Sie wurde in reformpädagogischen Konzepten bereits oft gefordert. So erleben wir mit diesem Buch aufs neue das zweihundert Jahre alte Schaukeln von Wissens- und Habitusorientierung in der Pädagogik. Nach einer Phase der Habitusorientierung hatten wir uns gerade erst, initiiert durch die PISA-Studie, an die erneute Wissensorientierung der Pädagogen gewöhnt. Nun also wieder Habitusorientierung mit Walter Herzog?
Aus soziologischer Perspektive sieht Niklas Luhmann, auf den Herzog sich zum einen bezieht und ihn zum anderen kritisiert, die pädagogische Aufgabe in folgender Weise: Das Personal der Gesellschaft wird innerhalb einer relativ kurzen Zeit, die sich nach der Lebensdauer der Menschen bemisst, komplett ausgewechselt. Die Neuankömmlinge müssen die Regeln des Zusammenlebens lernen, damit Gesellschaft weiter bestehen kann. Insofern ist jede Erziehung und wenn sie noch so reformfreudig daher kommt, Zwang. Auf der einen Seite muss dem Schüler das Lernen neuen Wissens zugemutet werden. Insofern ist das Verhältnis von Schüler und Lehrer asymmetrisch.
Auf der anderen Seite gehört es zum Regelbestand einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft, die anderen als gleichwertig anzuerkennen, was nur gelingen kann, wenn es früh habitualisiert wird. Beides gehört zum Wesensbestand der Erziehung. Somit weist Herzog mit seinem fast siebenhundertseitigen Buch lediglich auf eine weitere, nicht lösbare Paradoxie der Pädagogik hin, deren es – wie wir von Luhmann wissen – noch viele andere gibt.
DETLEF HORSTER
WALTER HERZOG: Zeitgemäße Erziehung. Die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2002. 688 Seiten, 50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Walter Herzog ist angetreten, verkündet Detlef Horster, eine der klassischen pädagogischen Paradoxien aufzulösen: wie die Kultivierung der Freiheit, wie Erziehung ohne Zwang möglich sei. Dafür bemüht der Autor den Soziologen Niklas Luhmann, verrät Horster, verabschiedet die Raum-Metaphorik (gemeint ist, dass der Erzieher auf einer höheren Warte stehe und darum mehr Überblick habe als der zu Erziehende) zugunsten einer Zeit-Metapher, die Erziehung als evolutionären und ebenbürtigen Prozess begreift. Und nun ruft der Rezensent ein imaginäres "Ha!" aus, denn neu findet er Herzogs Kritik an der Pädagogenzunft überhaupt nicht, ihn wundert nur, dass man sich, kaum habe man sich an die wissensorientierte Pädagogik dank PISA-Studie gewöhnt, nun wieder am Habitus orientieren soll. Herzogs Überlegungen klingen Horster zu idealistisch, zu idealtypisch; er habe längst nicht alle Paradoxien auflösen können, wie etwa die, dass Erwachsene einen Wissensvorsprung hätten, oder dass Kinder die Regeln des Zusammenlebens oder Wissensstoff erlernen müssten; insofern gebe es Zwang, insofern gebe es Asymmetrie, auch wenn es zu einer demokratischen Gesellschaft dazugehöre, den anderen als gleichwertig anzukennen. Bei Luhmann ließe sich lernen, schließt Horster, dass es noch viele andere - unlösbare - Paradoxien gebe.

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