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Produktdetails
  • Theater der Zeit, Arbeitsbuch
  • Verlag: Verlag Theater der Zeit
  • Seitenzahl: 235
  • Deutsch
  • Abmessung: 12mm x 216mm x 284mm
  • Gewicht: 792g
  • ISBN-13: 9783934344129
  • ISBN-10: 3934344127
  • Artikelnr.: 10474648
Autorenporträt
Hans-Ulrich Müller-Schwefe, langjähriger Lektor des Suhrkamp Verlags und dramaturgischer Berater Einar Schleefs.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2001

Das Balancieren ist erträglich, mit großen Schritten sogar leichter
Hunderte von Manuskriptseiten sind das Vermächtnis des Dichters Einar Schleef: "Das Tagebuch", erstmals in Auszügen vorgestellt, muß nun veröffentlicht werden

Das Tagebuch von Einar Schleef umfaßt nach Auskunft des Suhrkamp-Lektors Hans-Ulrich Müller-Schwefe den Zeitraum zwischen 1953 und 1981, fünf Disketten, viele hundert Manuskriptseiten: "Ein Vermächtnis, so habe ich ihn verstanden." Auszüge daraus sind jetzt erstmals zugänglich. Ihr Erscheinen fällt gerade noch ins Jahr 2001.

Man findet sie in dem Sonderheft der Zeitschrift "Theater der Zeit", das dem Andenken Einar Schleefs gewidmet ist. Die Aufzeichnungen des heranwachsenden Autors sind sehr direkte Mitteilungen aus dem Leben. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren war er sich seines Schriftstellertums bewußt geworden. Während einer Pragreise nimmt er es unter die Lupe: "Schreiben wird für mich Ausdruck. Jedoch zeige ich bei der Formung meiner Gedanken keine Ausdauer. Wenn ich durch die Stadt träume, am Zugfenster lehne, die Menschen anblicke, beschreibe ich sie, halblaut in mich hineindenkend. Leider kann ich nur unzusammenhängende Sätze stammeln, holprig, klobig, angefangene Sätze, die einer weiteren Fortführung bedürfen, brech ich ab, um meine Zuhörer nicht zu langweilen." Dieselbe Eintragung variiert er mehrfach hintereinander. Die letzte Fassung kommt zu dem Fazit: "Es zieht mich zum Schreiben als Tätigkeit, als Mitteilung, da sie mir durch das Sprechen versagt ist." Die beiden nachfolgenden Sätze stehen abgetrennt für sich: "Unsere Perspektive ist die Hoffnung" und "Entseelte Mutter kocht Kleinkind auf Sparflamme."

In den neunziger Jahren begann Schleef mit der Arbeit am Tagebuchmaterial. Er übertrug die frühen Aufzeichnungen in den Computer und fügte Kommentare ein, die jeweils aktuell datiert werden. Sie erläutern oder erweitern den Urtext, aber sprechen der Sache selber, um die sich der Schreiber so dringend bemüht, auch das Mißtrauen aus: "Je mehr ich an diesen Texten arbeite, je mehr schieben sich die Daten zusammen, überkommt mich eine Unruhe, daß dies alles so nicht wahr sei, daß Erinnerungen überhaupt nicht stimmen, geradezu gegensätzlich sind, daß in den täglichen Eintragungen Aufblähungen stattfinden, an die man sich später nicht mehr erinnert und umgekehrt, daß meine Kommentare häufig stereotyp beginnen, hier sei nur ein einziger Satz eingetragen, und daß dieser Satz, um eigentliche Bedeutung zu bekommen, eingehend kommentiert werden müsse, auch das zeigt, daß viele dieser Ereignisse im Kopf stattfanden, die zwar praktisch durchlebt waren, aber keinen Niederschlag fanden." Diese Nachbemerkung stammt aus dem Jahr 1999.

Schleef wurde am 18. Januar 1944 in Sangerhausen in Thüringen geboren und starb am 21. Juli 2001 in einem Berliner Krankenhaus, nahe seiner Wohnung im Westend. Seine letzten Prosa-Publikationen sind der Einsamkeitsbericht "Zigaretten" (in der dritten Person verfaßt) und ein Selbstbekenntnis zum Theater unter dem Titel "Droge Faust Parsifal". Das Tagebuch war in der Spätfassung ebenfalls zur Veröffentlichung bestimmt, "mit zugeordneten Fotos und Zeichnungen", wie Müller-Schwefe referiert. Der Stoff, den es aus Schleefs Kindheit, Jugend und Studienzeit überliefert, kommt aus demselben Reservoir wie zuvor die beiden Bände "Gertrud", der Foto-Band "Zuhause" und die vierteilige Stücke-Folge "Totentrompeten" mit dem Trio der alten Frauen, Trude, Elly und Lotte in Schleefs Heimatort.

Die Vorherrschaft in den fünfziger Jahren war sowjetisch: "Auf der Straße Panzer. Vor dem Gaswerk, auf dem Bahnhof, vor der Post, auf dem Marktplatz, an den Ausfallstraßen, vor der Maschinenfabrik, vor dem Fahrradwerk MIFA, auf dem Schacht. In unserer Straße." Der Grundschüler dokumentiert hier den 17. Juni 1953. Das Datum mit seinen Folgen ist das erste Ereignis, das sich der Junge an Ort und Stelle wieder und wieder zur schriftlichen Präzisierung vornimmt. Spätere Zäsuren, mit deren Beschreibung er sich abmüht, sind "mein Unfall 1960", "die Musterung 1963" und "die Wahl 1976"; jede von ihnen mit einer rätselhaften Aura und Nachwirkungen für immer. Das Jugendtagebuch liefert dafür die Basisauskünfte.

Ein Zugunglück des Sechzehnjährigen auf der Fahrt von Sangerhausen nach Oschersleben und die folgenden Krankenhausmonate in dem Vielbettzimmer namens "Himmelfahrtskommando" markieren den Wendepunkt unter Schmerzen. Das Stottern kommt zum Ausbruch, das Erwachsensein beginnt. Drei Jahre später unterzieht sich der Oberschüler aus Thüringen, der sein Abitur erst noch ablegen muß, in Berlin-Weißensee der Aufnahmeprüfung an der Kunsthochschule. Die Tagebucheintragung hält das abschließende Gespräch des Prüflings mit den Professoren fest; ausnahmsweise eine heitere Passage:

"Guten Tag Herr Schleef. Bitte setzen Sie sich. Wir haben ein paar Fragen. Wie kommt es, daß Sie sich schon jetzt an unserer Schule beworben haben. Ich stotterte furchtbar, die Antwort genügte. Was machen Sie in der FDJ, kulturell und politisch. Beantwortete ich. Welche Zeitungen lesen Sie. Ein paar geschwindelt. Womacka: Also Herr Schleef, da steht Ihnen nichts im Wege, daß Sie 64 an unserer Schule studieren können. Ein anderer neben ihm sagte: Wir finden Ihre Sachen sehr empfindungsvoll, nur habe ich eine Frage, wo ist das nähere Verhältnis zum Leben. Draußen zu malen, das möchten wir Ihnen bis dahin raten. Ich: Die Zeichnungen, die ich auf dem Schacht und auf dem Dorf machte, hat unser Zeichenlehrer nach Polen geschicht. Alles lacht."

Die Niederlage, die der Qualifikation vorausgegangen war, lautet im Schülertagebuch lakonisch: "Ausgemustert." Als Kind, erinnert sich Schleef, habe er kein schrecklicheres Thema gekannt als den Krieg, diesen ewigen Gesprächsstoff der Erwachsenen. Daß der 19jährige bei der Musterung den negativen Bescheid unterbewußt herbeigeführt habe, ist der Selbstverdacht, den er nicht mehr los wird: "Hatte mich ,emanzipiert' und wurde untragbar." Von da an bis zum Aufbruch nach Berlin blieb er ein Verdächtiger und Geächteter in der Schule und daheim: "Nicht tauglich. Ein Versager. Da hast du deinen Waschlappen wieder." So spricht der Vater Schleef zur Mutter.

Die Verweigerungen ereignen sich physisch. Dem Zwang zur 1.-Mai-Demonstration antwortet der Körper von sich aus mit dem Sturz ins Nasenbluten. Ein Sanitätsauto schafft ihn zurück nach Weißensee. Der Wahlsonntag "17.10.76" wird zur Angstpartie. Die Teilnahme wäre ein Tiefschlag gegen die eigene Überzeugung und das Fernbleiben ein Bumerang gegen die Karriere. Der Bühnenbildner Schleef hat den Paß für seinen Arbeitsaufenthalt am Burgtheater Wien in der Tasche. Soll er ihn durch den Wahlboykott riskieren?

Die Edition "Einar Schleef - Arbeitsbuch", herausgegeben von Gabriele Gerecke, Hans-Ulrich Müller-Schwefe und Harald Müller, ergänzt die Einblicke in das hinterlassene "Tagebuch"-Werk durch Berichte von Freunden und Mitarbeitern aus Schleefs fünfundzwanzig Jahren im Westen. Der Person am nächsten kommen die Zeugnisse der Theaterleute, Schauspieler, Assistenten und Dramaturgen, Teilnehmer an den Probenprozessen, Mitwirkenden an den Inszenierungen, Mitschuldigen und Mitopfern des Skandalons: "Es war ein Debakel für das Theater, es gab eine richtige Spaltung im Ensemble. Während der Proben hatte niemand von uns erwartet, daß es zu einem solchen Eklat kommen würde, und daß das was mit ,Faschismus' zu tun haben könnte." So Martin Wuttke über Schleefs Debüt am Schauspiel Frankfurt, 1986 mit dem Antiken-Stück "Die Mütter". Über seine letzten Proben, die im Januar 2001 am Berliner Ensemble wegen der Erkrankung abgebrochen werden mußten, hört man ihn noch selber sprechen, den Vortänzer in hochhackigen Schuhen auf der Bühne: "Das Balancieren ist erträglich, mit großen Schritten sogar leichter, bis ich mich gewöhnte und tanzte, ziemlich wild, meine Beine wurden leichter. Ich verlor die Puste, schwarze Hose, schwarzer Schuh, die Hose hochgerafft."

Der Theater-Schleef hat sich der Öffentlichkeit eingeprägt. Der Literaturwissenschaftler Carl Bucher schreibt dazu: "Wie wenig an ihm in den letzten 15 Jahren der Dichter wahrgenommen worden ist, wie arachaisch das Wort schon klingt, wie aktuell es ist." Von seinen Büchern sind nur noch wenige Titel in den Buchhandlungen anwesend. Das "Gertrud"-Epos fehlt ebenso wie die Dramenbände und die Edition der Erzählungen. Sein Verleger, Siegfried Unseld, gilt nicht als Schleef-Enthusiast. Wann er der Öffentlichkeit "Das Tagebuch" präsentieren wird, steht in den Sternen.

Sangerhausen will das Elternhaus des Dichters, Malers und Theaterschöpfers zu einer Gedächtnisstätte ausbauen. In Berlin besinnt sich die Akademie der Künste, ob sie Schleefs Nachlaß unter ihr Archiv-Dach aufnehmen solle. Im "Arbeitsbuch" ist Einar Schleef vorerst fragmentarisch geborgen: mit Fotos, Abbildungen einiger seiner Tafeln, Selbstzeugnissen und Nachrufen. "Wir tranken Kaffee, da meint er, es gebe Leute, die können eine Kaffetasse beschreiben, er aber sei die Kaffeetasse", schreibt Wolfgang Storch aus Volterra.

SIBYLLE WIRSING

"Einar Schleef - Arbeitsbuch", verlegt bei "Theater der Zeit", Klosterstraße 68-70, 10179 Berlin, 240 Seiten, 29,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Der Titel des Buches über den im letzten Jahr verstorbenen Maler, Schriftsteller, Bühnenbildner und Theaterregisseur Einar Schleef ist wohl ein wenig irreführend. Zumindest nach der Rezension von Petra Kohse zu urteilen, handelt es sich um weit mehr als ein Arbeitstagebuch. Schon dessen Grundlage, Schleefs Tagebücher der Jahre 1953 bis 1981, die dieser kurz vor seinem Tod dem Suhrkamp-Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe in Form von Disketten zukommen ließ, bezeichnet die Rezensentin als Literatur. Das daraus entstandene, durch zahlreiche Beiträge von Freunden und Kollegen angereicherte "Arbeitstagebuch" mache süchtig, schwärmt Kohse. Es verdeutlicht, wie dieser vielseitige Künstler es schaffte, sowohl bei der Arbeit auf der Bühne oder mit Texten, als auch im Privatleben "ganz bei sich zu sein und dennoch Abstand zu halten", findet Kohse. Dazu hat sicher auch die Mitarbeit von Schleefs langjähriger Lebensgefährtin Gabriele Gerecke und dem Geschäftsführer der Zeitschrift Theater der Zeit Harald Müller beigetragen, ebenso wie die vielen Erinnerungstexte zu Schleef und private Fotos, Bilder und Zeichnungen des Künstlers, die das Buch enthält. Darüber hinaus sei es auch Zeitgeschichte, dokumentiere es doch das Leben des Künstlers in der DDR der sechziger und siebziger Jahre und seinen anschließenden Neubeginn in der Bundesrepublik. Kohse bedauert sehr, dass es sich bei dem vorliegenden Buch nur um Auszüge von Schleefs Tagebüchern handelt, gern wäre sie dem Künstler weiter in das "tagtägliche Abtauchen in sich selbst" gefolgt.

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