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Honolds Studie zeichnet ein gänzlich neuartiges Hölderlin-Bild, indem sie dessen Poetik unter dem Leitkonzept des Kalenders rekonstruiert. Es erweist sich, daß Hölderlins Dichten und Denken grundiert vom Rhythmus der Gestirne ist, von den Zeit-Figuren der Planeten- und Sonnenbahn wie vom regelmäßigen Jahresband der Sternbilder. Auch den neu erfundenen Kalender der Französischen Revolution, die Zeitrechnung nach Jahreszeiten und revolutionären Ereignissen, hat er aufgenommen und poetisch in die deutsche Kultur übersetzt.

Produktbeschreibung
Honolds Studie zeichnet ein gänzlich neuartiges Hölderlin-Bild, indem sie dessen Poetik unter dem Leitkonzept des Kalenders rekonstruiert. Es erweist sich, daß Hölderlins Dichten und Denken grundiert vom Rhythmus der Gestirne ist, von den Zeit-Figuren der Planeten- und Sonnenbahn wie vom regelmäßigen Jahresband der Sternbilder. Auch den neu erfundenen Kalender der Französischen Revolution, die Zeitrechnung nach Jahreszeiten und revolutionären Ereignissen, hat er aufgenommen und poetisch in die deutsche Kultur übersetzt.
Autorenporträt
Alexander Honold, 1962 in Chile geboren, studierte in München und Berlin. Seit 2004 ist er Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2005

Hyperions zweiter Frühling
Parzen-Deadline: Alexander Honold liest Hölderlins Biorhythmus

In der Mathematik spricht man von einer kombinatorischen Explosion, wenn eine geringe Anzahl von Objekten in einer schier unendlichen Menge von Arten miteinander kombiniert werden kann. In den Geisteswissenschaften, die sich derzeit in einem ihrer notorischen Modernisierungsprozesse befinden, wird dieser Effekt erzielt, indem insbesondere die Literatur mit möglichst vielen und immer entlegeneren Wissensbereichen gekreuzt wird - hier wird der Effekt Kulturwissenschaft genannt. Dem liegt der Wunsch zugrunde, "Konstellationen und Geschichte medienbestimmter Kulturzusammenhänge" zu erforschen, wie Jörg Schönert die fachliche Entgrenzung in den neunziger Jahren definiert hat, die damit auch dem Umstand Rechnung trägt, daß das Erkenntnispotential herkömmlicher Textanalyse bei bestimmten Beständen des Kanons nahezu ausgereizt zu sein scheint. Ob die Kunst der Interpretation je ihren Gegenstand erschöpfen kann, sei dahingestellt; richtig ist, daß die angesagte Konstellationsforschung die philologische Materie aufwirbelt und durch ihre multiple Perspektive zu neuem Mut für die Arbeit am Text und seiner Umgebung verhilft.

Mustergültig zu beobachten ist dies nun am Beispiel der Berliner Habilitationsschrift zu Friedrich Hölderlin aus der Feder von Alexander Honold, der inzwischen nach Basel berufen wurde. Um die Präsenz der Zeitlichkeit in Hölderlins Werk chronologisch von den frühen Gedichten über den "Hyperion"-Roman und die Empedokles-Tragödie bis hin zu den späten Hymnen herauszuarbeiten, setzt Honold es in Beziehung zum Medium der Temporalität schlechthin, dem Kalender. Der machte zu Hölderlins Lebzeiten gleich doppelt Furore: zum einen in Form der erfolgreichen Musenalmanache, die neben dem Nützlichen auch das Schöne regelmäßig unters Volk brachten, zum anderen aufgrund seiner ideologischen Umgestaltung durch die französischen Revolutionäre, die meinten, das ancien régime auch mit einer neuen, an den Zyklen der Landbevölkerung orientierten Zeitrechnung überwinden zu müssen.

Inwiefern dieser zeitgeschichtliche Horizont auch für Hölderlin persönlich relevant gewesen sein mag, kann indes nur über Umwege erschlossen werden. Die Feststellung, daß Hölderlin als Lieferant für Schillers Almanach mit seiner literarischen Produktion bisweilen unter starken Termindruck geriet und daher von strukturellen Affinitäten zwischen Text und Medium auszugehen sei, wird die Hölderlin-Philologie vermutlich noch nicht unmittelbar elektrisieren, auch wenn es eine bewegende Vorstellung ist, daß selbst Parzen eine Deadline nicht überschreiten dürfen, Ode hin oder her.

Schlagkräftiger wird die rekonstruierte Beziehung zwischen Dichter und Kalender, sobald ihre jeweiligen Organisationsmodelle auf einer allgemeineren Ebene ineinandergeblendet werden: So wie der Kalender individuelles und kollektives Verhalten "miteinander synchronisiert", verknüpft auch der Erzähler Lebens- und Weltenlauf; und so wie der Kalender Zyklen einteilt, formt auch das Gedicht die Zeit zu seinem existentiellen Metrum in begrenzt willkürlicher Regelhaftigkeit. Aus diesen Analogien leitet Honold eine Rivalität zwischen den beiden Instanzen her, die aus der Poesie mit ihrem Anspruch auf Eigenzeitlichkeit immer auch ein Politikum macht.

Das Verhältnis der Dichtkunst zum realpolitischen Geschehen indes ist in diesem Modell keine Frage der Gesinnung mehr, sondern konsequenterweise der Astronomie, aus deren Vokabular die Revolution als "Umlauf der Gestirne" entstammt. Während die Pariser Aktivisten die agrarkommunistische Umwälzung der Gesellschaft in der ewigen Wiederkehr des Ereignisses an nationalen Feiertagen festschreiben wollen, versucht Hölderlin, die Revolution lyrisch an Naturprozesse rückzubinden und freigesetzte Energien sprachlich in den Rhythmus des Rituals zu überführen. In der Feiertags-Hymne, so die angebotene Lesart, verleiht der Dichter dem metaphorischen Gewitter eine gemeinschaftsstiftende, "quasi-religiöse" Weihe.

Der naturkundliche Blick hinter die poetische Bilderwelt muß jede Spur von Transzendenz tilgen, um Hölderlin zum profanen "Kalenderdichter" (freilich nicht im Sinne Hebels) zu erklären. Dadurch gerät dieser überraschenderweise auch zum Experten in Angelegenheiten des Biorhythmus. "Willst du / Freien, habe Gedult, Freier beglüket der Mai", heißt es in Hölderlins "Stutgard"-Gedicht, das auf schlichte Weise deutlich macht, was Honolds kulturwissenschaftliche Herangehensweise an den Tag legt: Selbst- und Zeitbeherrschung sind in ihrem literarischen Zusammenspiel nicht ohne die Erfahrung von der Kulturalisierung der Natur denkbar, wie sie sich im Kalender niederschlägt. Unbeherrschte wie Hölderlins empfindsamer Held Hyperion geraten dagegen auf die exzentrische Bahn. Dort ist Hyperion auch schon von einigen Forschern verortet worden - doch erst Honold wertet sie mit den Gesetzen der Ballistik aus und holt des Geistes Höhenflug auf den Boden des Planetariums zurück. Die Verlaufsform der Liebe, betrachtet nach dem Muster von "bewegten Körpern im Raum", erschließt sich fortan über die Newtonsche Mechanik.

Dieser souveräne Materialismus führt bei aller reduktionistischen Tendenz zu so mancher Entdeckung. Wenn Hyperion, der auf eine Geste Diotimas hofft, mitten im Herbst "des Himmels Frühling" glänzen sieht, dann erklärte man das bisher als uneigentliche Rede der Hoffnung. Statt dessen legt Honold nun aber nahe, daß man den Schwärmer ganz wörtlich nehmen darf: Weil die Sonne zu diesem Zeitpunkt zwischen den Sternbildern der Jungfrau und der Waage steht, sind eben gerade die Sternzeichen des Frühjahrs, Widder und Fische, besonders gut am Firmament zu sehen. Der Frühling steht also buchstäblich in den Sternen, nur der zweite Frühling, den Hyperion daraus wiederum ableiten will, eben nicht - als habe Hölderlin vor Sterndeutung warnen wollen.

Die neue Sachlichkeit der Konstellationsforschung kann gleichwohl ihre eigene "spekulative Komponente" nicht verbergen, wie Honold zu Beginn seines methodischen Experiments einräumt. Aber warum sollte sie auch: Die kombinatorische Explosion setzt blühende Landschaften und attraktive Resonanzräume frei. Die Philologie braucht sich derweil - dem Eindruck mancher Diskussion zum Trotz - vor der Sprengkraft der Kulturwissenschaften nicht zu fürchten. Allein schon die Fußnoten in Hölderlins Kalender machen deutlich, wie die beiden Schulen in einen produktiven Dialog treten können. In egalisierter und erweiterter Form wird dabei ein Konzept wiederbelebt, das man schon in den fünfziger Jahren erfolgreich pflegte, als man die eigene Deutungsdisziplin an die Erkenntnisse sogenannter "Hilfswissenschaften" koppelte.

Honolds Ankündigung, eine "kulturwissenschaftlich orientierte Arbeit" müsse das "imponierende" philologische Argumentationsniveau "naturgemäß" unterschreiten, klingt in Anbetracht der kiloschweren Ernte, die er für den Leser eingefahren hat, kokett. Denn eins jedenfalls ist gewiß: Die Konstellation war günstig. Auch Hölderlin hätte viel von dieser Studie lernen können.

ROMAN LUCKSCHEITER

Alexander Honold: "Hölderlins Kalender". Astronomie und Revolution um 1800. Vorwerk 8, Berlin 2005. 490 S., zahlr. Abb., br., 49,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Faszinierend findet Manfred Koch diese kulturgeschichtlicher Studie von Alexander Honold, die das astronomische, meteorologische und kalendarische Wissen beleuchtet, das hinter Hölderlins Beschwörung von Gestirnen, "exzentrischen Bahnen", Wendepunkten des Jahres, von Feiertagen und ausgezeichneten Tageszeiten steht. Koch berichtet über die französische Kalenderreform von 1793, die Beobachtern wie Hölderlin die Periodisierung des Jahres als Werk menschlicher Kultur nahe brachte. Er würdigt vor allem Honolds Interpretationen wichtiger Hölderlin-Werke. Sie zeigten nicht nur, wie die Natur hier Daten und Schicksale der Geschichte zeichenhaft darbiete, sondern verdeutlichten auch den Sinn dieser Verknüpfung. Nach Honold gehe es Hölderlin darum, unser geschichtliches Leben in ein natürliches Geschehen zurückzubinden. Plausibel erscheint Koch auch Honolds Darstellung Hölderlins Kalenderpoetik als einer Kritik der modernen "Kosmos-Vergessenheit".

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